Pflegeversicherung

B. aus einer Befragung von Infratest Sozialforschung (2002), wonach drei Viertel der Hauptpflegepersonen Frauen sind.

Mit Hauptpflegepersonen oder pflegenden Angehörigen sind jene Personen gemeint, die schwerpunktmäßig eine/n Familienangehörige/n im eigenen Haushalt pflegen, unter der Voraussetzung, dass dem zu Pflegenden ein Pflegebedarf im Rahmen der Pflegestufen I bis III durch den Medizinischen Dienst der Kassen (MDK) zuerkannt wurde. Im Rahmen der Pflegestufe I leisten diese Personen mindestens einmal täglich, im Rahmen der Pflegestufe II mindestens dreimal täglich und im Rahmen der Pflegestufe III rund um die Uhr Hilfe in Verrichtungen des täglichen Lebens (z.B. Waschen, Ankleiden, Essen) sowie in hauswirtschaftlicher Versorgung. In NRW werden zu Beginn dieses Jahrzehnts 332.498 Pflegebedürftige bzw. 71,4 % zu Hause betreut und versorgt (Statistisches Bundesamt, 2001). Hiervon wurde wiederum die überwiegende Mehrheit von Frauen gepflegt.

4.13.2 Häusliche Pflege ist weiblich

Der Anteil weiblicher Hauptpflegepersonen in häuslichen Pflegearrangements liegt deutschlandweit zwischen 73 und 79 %.

Ehefrauen, Lebenspartnerinnen, Töchter, Schwiegertöchter und Enkelinnen pflegen Angehörige im familiären Umfeld ­ fernab hinreichender gesellschaftlicher Wahrnehmung und Anerkennung ­ in einem Umfang bis zu 80 Wochenstunden, während Männer bislang einer solchen Aufgabe kaum nachkommen. In 1996 und 1998 veröffentlichten Studien lag z. B. der Anteil von Söhnen an den Hauptpflegepersonen zwischen 3 und 5,7 % (Kuhlmey, 2002, S. 54).

Die bisher überhaupt nur in sehr geringer Anzahl durchgeführten Studien zur Situation pflegender Angehöriger lassen bei der Analyse bezüglich der Motive zur Pflegeübernahme die Wirkung gesellschaftlicher und ökonomischer Rahmenbedingungen für Frauen größtenteils außer Acht. Und dies obwohl auf der Grundlage traditioneller intergenerativer Erwartungen und geschlechtsspezifischer Rollenverteilungen solidarische Pflegeleistungen nach wie vor fast ausschließlich von Frauen erbracht wird.

Trotz zunehmender Erwerbstätigkeit der Frauen existiert noch immer eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung. Haus- und Familienarbeit (und damit auch Pflege) wird vornehmlich den Frauen zugeschrieben. Die bislang geradezu selbstverständliche (und teilweise verlangte) Übernahme häuslicher Pflege durch weibliche Angehörige korrespondiert mit einer gesellschaftlich akzeptierten Definition häuslicher Pflege als reiner Privatangelegenheit. Damit wird eine ­ für diese Gesellschaft nicht untypische ­ unter ihrem Wert honorierte Frauenarbeit gerechtfertigt. Die durch die Pflegeversicherung gewährte Unterstützung liegt unterhalb der Tariflöhne und stellt keine wirkliche Alternative zu einer Erwerbsarbeit dar. Sie erleichtert auch nicht die Vereinbarkeit von Beruf und Pflege. Pflegegeldleistungen sind zu gering honoriert, um existenzsichernd zu sein (Kuhlmey, 2002, S. 157). Das Pflegeversicherungsgesetz legt eine Qualitätskontrolle der häuslichen Pflege fest und regelt, dass die Berufstätigkeit der Pflegeperson die Versorgung einer zu pflegenden Person nicht berühren ­ sprich beeinträchtigen ­ darf.

Je nach zugrunde liegender Studie

Dort wo die häusliche Pflege mit Einschränkung oder Aufgabe der Erwerbstätigkeit der Pflegeperson verbunden ist, hat die Entscheidung von Frauen zur Übernahme der Pflegearbeit oft einen materiell-rationalen Kern. Frauen erzielen in unserer geschlechtshierarchisch strukturierten Erwerbsgesellschaft in aller Regel die geringeren Erwerbseinkommen. Ihr Einkommensverlust wirkt sich bei Einschränkung oder Aufgabe der Erwerbstätigkeit weniger gravierend auf das Familienbudget aus, als dies beim männlichen Hauptverdiener der Fall wäre. Dies wird meist auch von den Frauen selbst ­ trotz der von ihnen zu tragenden Verluste an materieller Eigenständigkeit und Erwerbsteilhabe sowie der Alterssicherung ­ pragmatisch als kleineres Übel gegenüber Einkommensverlusten auf Seiten des Mannes wahrgenommen.

Aus den in der häuslichen Pflege erbrachten Leistungen durch Frauen resultiert ein erheblicher volkswirtschaftlicher Nutzen. Eine Modellrechnung aus Bremen verdeutlicht den Wert der Angehörigenpflege: Würden alle Pflegebedürftigen im Land Bremen entsprechend ihrer Pflegestufe stationär untergebracht, verursachten sie einen Kostenaufwand von knapp 35 Millionen Euro im Monat. Ambulant von Angehörigen versorgt, würde die Versorgung ca. 6 Millionen Euro kosten (Frauengesundheitsbericht Bremen, 2001)!

Die Frage, wer pflegt, wird zudem über das Erbe und die Erbdynamik ausgehandelt.

Da ein Großteil der Pflegebedürftigen wegen der beschränkten Leistungen des SGB XI nicht in der Lage ist, die verbleibenden Kosten vollstationärer Versorgung aus eigenem Einkommen zu bestreiten, droht im Falle vollstationärer Unterbringung die Aufzehrung vorhandenen Vermögens bzw. eines zu erwartenden Erbes. Dies kann für die Lebensplanung und Alterssicherung auch der häuslichen Pflegepersonen von erheblicher Bedeutung sein, ebenso wie auch die Heranziehung unterhaltspflichtiger Angehöriger nach dem Sozialhilferecht. Die finanziellen Belastungen können somit leicht ein Ausmaß annehmen, welches die finanzielle Lebensplanung und soziale Sicherheit der Angehörigen derart in Frage stellt, dass auch in dieser Hinsicht die Belastung durch Übernahme der häuslichen Pflege als kleineres Übel erscheinen lässt.

Um den einseitigen Belastungen von Frauen im Handlungsfeld häuslicher Pflege entgegen zu wirken, bedarf es eines Perspektivenwechsels auf mehreren Ebenen, nicht zuletzt aufgrund demografischer Prognosen. Das SGB XI geht nach wie vor davon aus, dass die professionellen Angebote häuslicher Pflege nur zur Unterstützung dienen, die in der Regel durch die Frau oder die (Schwieger-)Tochter als Hauptpflegeperson sichergestellt werden.

Schätzungen zufolge wird sich aber die Anzahl der potenziellen weiblichen Pflegepersonen bis zum Jahr 2030 halbieren, während sich die Anzahl der Pflegebedürftigen im gleichen Zeitraum verdoppeln dürfte. Letztlich kann also nur ein Paradigmenwechsel im Verhältnis von professioneller und Angehörigenpflege die häusliche Versorgung von Pflegebedürftigen sicherstellen. Darüber hinaus ist es auch angezeigt, Angehörigenpflege als mehrgenerative familiäre Entwicklungsaufgabe zu betrachten, die alle Familienmitglieder angeht, nicht nur die weiblichen. Diese Aufgabe verlangt bewusste innerfamiliäre Entscheidungen, statt sie mit dem Verweis auf Traditionen und Selbstverständlichkeiten zu lösen. Dieses Verständnis der häuslichen

Vgl. Landtag NRW, Zuschrift 13/1909, Stellungnahme des Sozialverbandes Deutschland (SOVD) ­ siehe Übersicht im Anhang

Ebenda

Ebenda

Pflege verweist auf die Notwendigkeit und Bedeutung von Beratungsangeboten und psychosozialen Hilfestellungen auf der Basis von Geschlechtergerechtigkeit und Gerechtigkeit innerhalb der Familie.

4.13.3 Bereitschaft und Motivation zur Pflegeübernahme

In einer Repräsentativuntersuchung wurden Personen, die zurzeit selbst keine Pflege leisten, nach ihrer Pflegebereitschaft befragt. Dabei erklärten 82,7 % aller befragten Männer und 89,5 % aller befragten Frauen sich bereit, ihre Eltern zu pflegen. Die Pflegebereitschaft ist demnach in Deutschland hoch einzuschätzen (Kuhlmey, 2002).

Allerdings muss in diesem Zusammenhang beachtet werden, dass entsprechende Aussagen nicht automatisch bedeuten, dass bei Eintreten einer konkreten Situation tatsächlich auch die Pflege übernommen wird.

Laut Klie (2001) ist die Bereitschaft vom sozialen Milieu der Pflegenden abhängig. In der sozialen Unterschicht ist sie am höchsten: 23 % der Befragten aus dem traditionellen Unterschichtmilieu würden die Pflege auf jeden Fall selbst übernehmen, 21 % würden dies wahrscheinlich tun (Blinkert und Klie, 2000). Die Heimpflege findet mit 18 % eine sehr geringe Akzeptanz. Die Kombination eines hohen gesellschaftlichen Status mit einem modernen Lebensentwurf bewirkt, dass sich die Personen dieser Gruppe zu 22 % unbedingt und zu 36 % eventuell für die Versorgung und Betreuung eines Familienmitgliedes in einem Heim entscheiden würden (Kuhlmey, 2002).

Für die Übernahme der Pflege eines Familienmitgliedes können die unterschiedlichsten Beweggründe vorliegen. Fuchs (1998) umschreibt Pflegebereitschaft mit Begriffen wie Neigung, Disposition, Interesse, Hang zur Pflege. Bei der Definition schwingt eine gewisse Freiwilligkeit und Entscheidungsfreiheit mit. Inwieweit beides tatsächlich vorhanden ist, wird vielfach bezweifelt. Unterschiedliche Studien kommen zu dem Ergebnis, dass gerade das Fehlen von Entscheidungs- und Wahlfreiheit die Übernahme von Pflege des pflegenden Angehörigen charakterisiert. Die meisten Menschen können sich der Entscheidung zur Übernahme einer Pflege nicht entziehen. Ehefrauen können die Pflege ihres älteren Ehemannes nicht verweigern, weil dies von ihnen als selbstverständlich erwartet wird. Auch Töchter sind in einem besonders hohen Maße familiärem Druck ausgesetzt, bedürftige Angehörige zu pflegen. Als konstituierende Faktoren der Pflegebereitschaft werden von Töchtern Wohnsituation, gegenseitige Hilfeleistung, emotionale Beziehung zur Mutter, internalisierte Normen, familiäre und finanzielle Situation genannt. In allen Studien wird als häufigster Grund der Pflegeübernahme von den Töchtern eine gewisse Selbstverständlichkeit geäußert. Dazu gehören anerzogene Verpflichtungen, besonders gegenüber den Müttern, vertragliche Regelungen, ökonomische Aspekte, Wiedergutmachungsimpulse für geleistete Dienste der Mütter. Weiterhin Dankbarkeit, deren Grundlage die innere Forderung ist, alles Empfangene zurückzugeben, ethischreligiöse Motive, abgegebene Versprechen, Pflichtgefühl, Lebensstrukturierung und Sinngebung sowie eine tiefe innere Verbundenheit und eine karitative Einstellung. So verstandene Selbstverständlichkeit kann damit als Folge gesellschaftlicher Normierung bzw. als rollenimmanentes Verhalten interpretiert werden (Kuhlmey, 2002).

Die Frage, ob eine Pflegeübernahme wirklich sinnvoll ist oder nicht, können insbesondere Mütter behinderter Kinder häufig nicht sorgfältig prüfen. Gerade hier ist der Druck auf die betroffenen Frauen oft noch größer als im Falle älterer Angehöriger.