Dr Stephan Kaiser Oberschlesisches Landesmuseum Vieles ist bereits gesagt worden

Die Arbeit mit Zeitzeugen ist schön. Das ist immer wieder spannend und auch lehrreich. Ich halte es aber nicht für sinnvoll, konzeptionell auf eine Personengruppe zu setzen, die tagtäglich dahinschwindet. Da dürfen wir uns nichts vormachen. Bei Flüchtlingen und Vertriebenen handelt es sich um Personen im Alter von 70 Jahren aufwärts. In Klammern gesagt: Mein Vater kommt aus Oberschlesien. Er ist gerade 80 Jahre alt geworden. Inzwischen gehört er zu den Letzten, die persönlich eine konkrete Erinnerung an Oberschlesien vor 1945 haben. ­ Auch bei den italienischen, portugiesischen und türkischen Zuwanderern ist natürlich auch eine Generationenentwicklung zu verzeichnen, weswegen die Erinnerung zunehmend verwischt. Daher würde ich konzeptionell nicht auf eine Fortschreibung von Zeitzeugengesprächen setzen ­ so interessant und spannend sie auch sind.

Dr. Stephan Kaiser (Oberschlesisches Landesmuseum): Vieles ist bereits gesagt worden. Lassen Sie mich nur noch drei Punkte herausstellen. ­ Erstens. In Nordrhein-Westfalen gibt es viele Heimatstuben für die Menschen, die aus dem Osten gekommen sind. Das Ganze findet auf der kommunalen Ebene statt. Es findet auf einer individuellen Ebene statt. Insofern findet es auf einer nicht staatlich geförderten Ebene statt. Es ist gut, dass es diese Einrichtungen gibt. Vielfach ist gerade auch mit dem Bund darüber diskutiert worden, inwiefern die Heimatstuben, die an die alte Heimat erinnern und die sich an verschiedenen Aufnahmeorten befinden, weil dort eine entsprechende Patenschaft der Kommune für die Vertriebenen besteht, im kommunalen Raum und im kommunalen Rahmen erhalten werden können. An dieser Stelle sind die Städte und Gemeinden selbst gefordert, diese Erinnerung in ihr regionales und städtisches Geschichtsbild und ihren städtischen Erinnerungsraum aufzunehmen und das Ganze dann in den entsprechenden Stadt- oder Regionalmuseen darzustellen ­ nicht 1:1, aber in einer entsprechenden Abteilung. Gleiches gilt meines Erachtens für die Darstellung in Unna vor Ort, ohne dass man deswegen dort ein neues Museum bräuchte, das nur mit neuen Finanzmitteln und neuem Aufwand zu betreiben wäre. Das heißt: Man kann sich durchaus vor Ort überlegen, ob man in einem solchen Gebäude, wenn es vorhanden ist und mit einer spezifischen Erinnerungslokalität verbunden ist, im kommunalen Rahmen städtische und kommunale Erinnerung betreibt.

Zweitens. Hier stand die Frage zur Diskussion, wie man den Gedanken der Integration ­ die mit der Aufnahme in Unna-Massen begonnen hat ­ in den Raum Nordrhein Westfalens trägt. Das kann nicht nur vor Ort geleistet werden. Deswegen ist eine Wanderausstellung ein geeignetes, probates Mittel, um diese Erinnerung weiterzutragen und aus dieser Erinnerung auch positive Elemente aufzunehmen und darzustellen. Eine solche Wanderausstellung kann jeweils im kommunalen Rahmen angedockt und durch die dortigen Erfahrungen ergänzt werden. Nach meinem Dafürhalten wird das aber nicht allein mit Ehrenamtsträgern funktionieren. Es kann auch nicht dadurch erfolgen, dass ­ so schön sich das anhört ­ Betroffene, die integriert worden sind, als pädagogische Begleitpersonen mit einer Gruppe nach Unna fahren und an dieser alten Stätte noch einmal die Geschichte erklären. Mir kann keiner glaubhaft machen, dass so etwas dauerhaft funktioniert. Im Einzelfall kann das gehen, wenn es, wie Herr Halder sagt, engagierte Lehrkräfte oder andere gibt, die auch über das entsprechende Vorwissen oder die notwendige Sensibilisierung verfügen. Denken Sie aber nur an eine normale Schule. Welcher Lehrer hat denn unmittelbar jemanden an der Hand, der durch Unna-Massen gegangen ist? Und was soll dieser persönlich Betroffene dann erzählen? Jede Erfahrung ist anders. Jede Geschichte steht auch für einen individuellen Lebensweg. Jeder einzelne Fall ist vor allen Dingen auch mit möglicherweise nicht nur positiven Erfahrungen goutiert. Dann muss man schon ein zentrales Gerüst dahinter haben. Es muss eine entsprechende Dauerausstellung geben. Dort und auch vor Ort muss eine geeignete pädagogische Begleitung erfolgen.

Ich erinnere nur daran, dass auch hinter allen anderen entsprechend strukturierten Gedenkstätten ­ ob das die Gedenkstätte Deutsche Teilung Marienborn ist, ob das eine Konzentrationslager-Gedenkstätte ist oder ob das andere Gedenkstätten sind ­ eine ganze Menge an notwendigem Know-how steckt. Dabei müssen auch die Zukunftsfähigkeit und die Auslastung solcher Einrichtungen berücksichtigt werden.

Drittens. Ich möchte vor einem Trugschluss warnen. Ein Lager kann man nicht in dieser Konstellation erhalten, indem man sagt: Wir schicken jetzt die Gruppen dorthin und lassen sie in den Etagenbetten schlafen, in der Kantine essen und die Etagenduschen benutzen, damit sie einmal nachvollziehen können, wie Integration 1960, 1970, 1980 oder wann auch immer in der Aufnahme hier funktioniert hat. ­ Ich halte es nicht für möglich, dass das Ganze eine Art Freilichtmuseum werden kann. So etwas kann man jetzt im Einzelfall einmal machen, wenn aus dem Ausland eine größere Gruppe zur Kulturhauptstadt 2010 kommt. Dann hat man einen gewissen Erfahrungswert. Das müsste aber auch alles in dieser Form erhalten werden, und es müsste bespielt werden. Dann kann man Unna-Massen gleich wieder als neue Landesstelle aufmachen ­ in verkleinerter Form, quasi als Erlebnispark. Es mag dem einen oder anderen zwar wehtun, dass nicht alles erhalten werden kann, was erhaltenswert ist. Das Gedenkstättenkonzept kann man aber allenfalls mit einer Art Ausstellung verbinden, die durch die Gegend läuft und eine gewisse Erinnerung und Vorstellung bringt, dann aber doch an die Erlebnisse und die weiteren Erfahrungen anknüpft, die die Menschen nach dem ersten halben Jahr gemacht haben, als ihre Zeit am Aufnahmepunkt zu Ende war und die neue Heimat Nordrhein-Westfalen wirklich eingesetzt hat. Daher sollte man die Zwischenstation Unna auch nicht überbewerten. Sie ist ein wichtiger Punkt ­ aber nur, wenn sich dies dann auch mit den kommunalen Erfahrungen verbindet. Das schließt auch den Kreis zu den Heimatstuben. So wie sie eine kommunale Aufgabe sind, sehe ich auch diese Aufgabe der Erinnerung an die Integrationserfahrungen im ganzen Land verortet. Diese Erfahrungen spiegeln sich natürlich an den lokalen Punkten wider, an denen die Menschen heute leben.

Mona Wehling (NRW-Stiftung Natur · Heimat · Kultur): Ich würde gerne zwei Punkte ansprechen. ­ Erstens. Herr Eryilmaz hat hier einen Wunsch geäußert und ihn mit dem Slogan Wir in NRW besetzt. Als Mitarbeiterin der spricht mich das besonders an, weil unsere Stiftung im Rahmen der Politkampagne von Johannes Rau Wir in Nordrhein-Westfalen gegründet worden ist, um das Heimatgefühl zu stärken und das landesgeschichtliche Bewusstsein voranzubringen. Das war im Jahr 1986. Jetzt haben wir das Jahr 2009. Anscheinend kann man diesen Slogan heute anders auslegen. Damals war das Problem, dass man die Landesteile Westfalen und Rheinland nicht unter einen Hut bekam. Daher hat man auch auf politischem Wege versucht, Brücken zu schlagen. Die Frage, ob das gelungen ist, will ich nicht beantworten; vielleicht weiß das jemand von Ihnen. Herr Eryilmaz hat allerdings sehr deutlich gemacht, dass die Situation sich verändert hat. Dieser Slogan bindet heute ­ wenn man ihn denn noch benutzen will ­ viel mehr Menschen mit ein. Das finde ich ganz interessant.

Zweitens. Hier kam die Frage auf, ob eine stationäre Ausstellung in Unna-Massen interessant sein kann, Besucherströme anlocken kann usw. Dort gibt es den Gebäudekomplex mit seiner Aura. So etwas hat immer etwas Anziehendes. Man muss die Leute aber schon gezielt ansprechen, damit sie beispielsweise im Rahmen von Bildungsreisen mit Bussen dorthin kommen und dann auch von diesem Ort fasziniert werden. Wenn man dabei aber nur auf Gesellschafts- oder Sozialgeschichte abstellt, ist man irgendwann sicherlich nicht mehr so attraktiv. Deshalb habe ich die ganze Zeit überlegt, was denn interessant sein könnte. Herr Eryilmaz hat zwei Worte häufig gebraucht, nämlich Migration und Integration ­ wobei Migration ja auch entstanden ist, als sich die Grenzen aus dem Osten öffneten und unsere Mitbürger aus der ehemaligen DDR im Rahmen einer Wanderungsbewegung zu uns kamen. Der Arbeitstourismus ist ebenfalls eine Art Wanderungsbewegung. Auch in diesen Fällen kann man durchaus den Begriff Migration anwenden. Genauso hat man es auf vielen Feldern mit Integration zu tun. Fragen Sie einmal einen Wuppertaler, ob er ein Wuppertaler sei. Das ist er nicht; er ist ein Elberfelder oder ein Barmer. Unabhängig von den Eingemeindungen ist der Stolz der einzelnen Ortschaften immer noch vorhanden.

Das bekomme ich bei Gesprächen vor Ort unmittelbar mit. Beispielsweise ging es neulich um die Erhaltung des ehemaligen Verwaltungsgebäudes des Ortsteils Rönsahl, der ja nicht Kierspe ist. Das ist also ganz vielfältig und nicht nur speziell auf das Thema Unna-Massen bezogen.

Ich möchte aber auf Folgendes heraus: Wir haben in unserem Land ein überaus erfolgreiches Museum, das unglaublich viele Menschen aus Nordrhein-Westfalen und von außerhalb anzieht. Das ist das Neanderthal Museum, das ich gerade schon einmal erwähnt habe. Das Neanderthal Museum befindet sich natürlich auch an dem Ort, an dem man den sogenannten Neandertaler gefunden hat ­ in den Kalkhöhlen, die es heute nicht mehr gibt. Dieses Museum befasst sich thematisch mit der Entstehung des Menschen oder mit dem Menschwerden, aber auch mit dem Wesen des Menschen. Betrachtet man Migration und Integration einmal unter diesem menschheitsgeschichtlichen oder kulturanthropologischen Aspekt, stellt man fest, dass die Wanderungsbewegungen mit der Industrialisierung ­ NRW ist eins der größten Industrieländer in Deutschland ­ eingesetzt haben. Das ist in Museen überall gut dokumentiert. In Unna-Massen soll aber die Zeit danach, also die Phase der Integration, dargestellt werden. Ich denke, dass das, was im Neanderthal Museum mit der Beschreibung der Entstehung des Menschen erfolgt, in Unna-Massen als Beschreibung dieses Phänomens der Industriegesellschaft fortgesetzt werden kann. Der Mensch hat lange gebraucht, um sesshaft zu werden. Er hat sich bekämpft und Gebiete erobert. Aufgrund der starken Wanderungsbewegungen im 20.