Grundschulgutachten haben weder funktional noch inhaltlich etwas mit Zitat staatlich verordneter Hellseherei zu tun

Sicht völlig deplatzierten Begriffen ab, kommen die Direktorenvereinigungen zu folgendem Ergebnis: Grundschulgutachten tragen dazu bei, dass individuelle Begabungs- und Leistungsunterschiede bei Grundschulkindern frühzeitig erkannt werden und jedem Schüler die Chance eingeräumt wird, durch die Empfehlung einer bestimmten Schulform sein individuelles Potenzial bestmöglich zu entfalten.

Grundschulgutachten haben weder funktional noch inhaltlich etwas mit ­ Zitat ­ staatlich verordneter Hellseherei zu tun. Kinder werden während ihrer Grundschulzeit von erfahrenen, fachlich qualifizierten Pädagogen über vier Jahre äußerst verantwortungsbewusst geschult und gefördert. Während der Grundschulzeit werden die Eltern kontinuierlich beraten. Es findet ein ständiger Austausch zwischen Schule und Eltern über den Leistungsstand und die persönliche Entwicklung des Kindes statt. Eltern haben zu einem überwältigenden Teil die Beratung und Beurteilung ihrer Kinder durch die Grundschullehrerinnen als insgesamt positiv bewertet. Das heißt, für die meisten Eltern sind die Beurteilungen am Ende der Grundschulzeit transparent, verständlich und nachvollziehbar.

Die am Ende des ersten Halbjahres der vierten Klasse erstellten Grundschulempfehlungen beinhalten nach unseren Erfahrungen ein Zeugnis und ein Gutachten. Während im Zeugnis einzelne Fächer benotet werden, gibt das Gutachten in der Regel sehr aufschlussreich, fachkundig und differenziert Auskunft über die Lernentwicklung, über das Arbeits- und Sozialverhalten eines Kindes. Auf der Grundlage dieser Langzeitbeurteilung kommt die Schule zu einer überwiegend hochrangig fundierten Aussage zum Leistungsstand und Begabungspotenzial eines Kindes. Im Gutachten werden unter anderem Aussagen darüber getroffen, wie leicht dem Kind das Lernen fällt, wie selbstständig und lernbegierig es ist, wie die Schule den Schüler hinsichtlich seiner Lernstrategien, seiner kognitiven Potenziale und sozialen Kompetenzen einschätzt.

Die Rheinische Direktorenvereinigung und die Westfälisch-Lippische Direktorenvereinigung weisen ausdrücklich darauf hin, dass das Grundschulgutachten zum überwiegenden Teil das Leistungsvermögen eines Kindes korrekt einstuft. Schülerinnen und Schüler bestätigen während der Erprobungsstufe des Gymnasiums in der Regel die in den Grundschulgutachten ausgewiesenen Leistungs- und Entwicklungspotenziale. Sie sind eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die sich bereits in der Grundschule herausgebildeten individuellen Leistungs- und Begabungsunterschiede der Kinder erkannt werden und die Kinder in weiterführenden Schulformen differenziert gefördert werden.

Die Rheinische Direktorenvereinigung und die Westfälisch-Lippische Direktorenvereinigung sehen eine sinnvolle Optimierung des Übergangsverfahrens nicht in der Abschaffung der Grundschulgutachten, sondern in einer Erweiterung und Verbesserung der Diagnostik. Die im Antrag formulierte Forderung individuelle Förderung braucht individuelle Lernbegleitung ist richtig. In diesem Sinne sind aber kleinere Klassen, qualitativ hochwertiger Unterricht und eine deutliche Aufstockung der Förderstunden in differenzierten Schulformen die beste Grundlage für eine leistungsund begabungsgerechte Förderung von Schülerinnen und Schülern.

Eine Abschaffung der Grundschulgutachten und die Einführung von individuellen Lernentwicklungsberichten beheben nicht die Problematik, dass die Empfehlungen für eine weiterführende Schule in Einzelfällen regional unterschiedlich gehandhabt werden. Sieht man einmal davon ab, dass im bisherigen Übergangsverfahren von der Grundschule zu weiterführenden Schulen bereits differenzierte Aussagen zur Lernentwicklung eines Kindes enthalten sind, dürften reine Lernentwicklungsberichte extrem zeitaufwendig sein und sehr schnell dazu führen, dass verallgemeinernde, wenig aussagekräftige Textbausteine benutzt werden. In Zukunft gäbe es dann regionale Unterschiede bei den individuellen Lernentwicklungsberichten. Wäre das ein gutes Argument, um sie dann wieder abzuschaffen? Rainer Dahlhaus (Schulleitungsvereinigung der Gesamtschulen NRW, Wuppertal): Herr Vorsitzender! Meine Damen und Herren Abgeordnete! Meine Damen und Herren! Frau Balbach sagte gerade, dass sei eine Veranstaltung im Rahmen des Wahlkampfs. Als ich zuhörte, dachte ich mir: Ja, das stimmt, und auch ihr Beitrag gehört dazu. ­ Als Mathelehrer, der ich bin, versuche ich es etwas objektiver.

Als Vertreter der Schulform Gesamtschule haben wir einen umfassenden Blick auf dieses Phänomen Schulformempfehlungen. Denn bei uns kommen Kinder mit allen Schulformempfehlungen, die die Grundschulen vergeben, an. Ich sage Ihnen: Aus Sicht der Gesamtschulen sind diese Schulformempfehlungen ein untaugliches Mittel der Steuerung von Schülerlaufbahnen.

Sie sind untauglich, weil dabei, bezogen auf die einzelnen Schülerinnen und Schüler, nicht das Richtige herauskommt. Ich vergleiche es horizontal: Wenn man sieht, dass die Schulformempfehlungen und die Notenschnitte der Grundschulzeugnisse in keinem nachvollziehbaren Zusammenhang zueinander stehen, dann muss man sich fragen, wieso eigentlich die Schulformempfehlungen und nicht die Noten oder irgendein anderes Instrument ­ und seien es Leistungsberichte ­ Auswahlkriterium sind.

Die Schulformempfehlungen ­ das haben wir in unserem Beitrag deutlich gemacht ­ werden auch regional sehr unterschiedlich vergeben. Wenn man sich anschaut, wie sich die Übergangsquoten mit den verbindlichen Schulformempfehlungen in den unterschiedlichen Städten des Landes darstellen, könnte man auf den Gedanken kommen, dass in Bonn grundsätzlich sehr viel intelligentere Menschen leben als zum Beispiel in Herne. Aber das glaube ich nicht.

Schließlich ­ das ist auch schon angesprochen worden, und dazu gibt es auch eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Untersuchungen ­ sind Schulformempfehlungen schichtenspezifisch unterschiedlich verteilt. In der Literatur gibt es den Begriff des Habitus. Das heißt, je nachdem, wie sich ein Kind in der Grundschule verhält und ob es den Erwartungen an die Haltung, an die Form des Ausdrucks der jeweiligen Grundschullehrerin oder des Grundschullehrers entspricht, kommt die eine oder die andere Schulformempfehlung dabei heraus, und das halten wir als Schulleitungsvereinigung der Gesamtschulen nicht nur bildungs- oder schulpolitisch, sondern auch sozialpolitisch für einen ausgesprochen beunruhigenden Befund. Denn hier geht es um Diskriminierungsfragen.

Man kann es auch vertikal betrachten, welche Auswirkungen die Schulformempfehlungen haben, beispielsweise dann, wenn man sich Schülerbiografien anschaut. Wir haben als Schulleitungsvereinigung, motiviert durch Pressemitteilungen des Ministeriums, unsere Schülerinnen und Schüler 2009 im Abitur gefragt: Welche Schulformempfehlung hattest du eigentlich damals in Klasse 4?

Das erste Phänomen, das wir beobachten konnten, war, dass sie sich unglaublich gut daran erinnern konnten. Das war für uns ein Hinweis darauf, wie einschneidend dieses Instrument im Leben eines zehnjährigen Kindes sein kann. Und Sie alle wissen ­ das ist inzwischen ausreichend durch die Presse gegangen ­: Wir haben in einer repräsentativen Erhebung herausgefunden, dass 70 % der Schülerinnen und Schüler, die bei uns vor dem Abitur standen, in Klasse 4 eben keine Gymnasialempfehlung hatten. Daher sind wir auch in dieser biografischen Sicht des Problems der Meinung, dass Schulformempfehlungen ein untaugliches Instrument sind, um die individuelle Förderung und die Zuweisung auf Schulformen zu regulieren.

Ich will noch eines hinzufügen. Aus unserer Sicht ist dieses Instrument der Schulformempfehlung auch mit Blick auf ein anderes Anwendungsfeld untauglich. Wir haben in letzter Zeit wahrgenommen, dass Schulträger dazu übergehen, Schulformempfehlungen in den Grundschulen zu nutzen, um Schulentwicklungsplanung zu machen. Dazu hat es beispielsweise eine Diskussion in Düsseldorf gegeben, wo es um die Frage ging: Wie verteilen sich Schulformempfehlungen an bestimmten Gesamtschulen, und welche Auswirkungen hat das?

Wenn man aber weiß, dass diese Schulformempfehlungen unter prognostischen Gesichtspunkten äußerst fragwürdig sind, dann kann man eigentlich nicht nachvollziehen, dass Schulträger in eine solche Richtung denken. Und auch das ist ein Grund dafür, das zu unterstützen, was im Antrag der Grünen vorkommt, nämlich den Vorschlag, diese Schulformempfehlungen aus dem geltenden Recht ersatzlos zu streichen.

In der Summe: Aus Sicht der Gesamtschulen sind Schulformempfehlungen ein untaugliches Instrument der Prognose ­ sowohl der Prognose in Bezug auf den Schulerfolg als auch auf die Einsortierung von Schülerinnen und Schülern in Leistungsgruppen oder Schulformen. Sie schaden mehr, als sie nützen, und ihre Abschaffung wäre ausgesprochen wünschenswert. ­ Danke schön.

Vorsitzender Wolfgang Große Brömer: Danke schön, Herr Dahlhaus. ­ Meine Damen und Herren, wir beginnen nun mit der ersten Fragenrunde, und ich erteile Frau Beer das Wort. Bitte schön.

Sigrid Beer (GRÜNE): Herr Vorsitzender! Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Ich bedanke mich sehr für Ihre heutigen Beiträge sowie für Ihre schriftlichen Stellungnahmen.