Grundschule

Die Frage lautet: Wie können wir damit leben? Im Fragenkatalog wurde auch die Frage nach dem pädagogischen Ethos gestellt. Ich kann ihnen nur sagen: Wir leben nicht gut damit, und wir werden damit schlecht leben, insbesondere dann, wenn die ersten Gerichtsverfahren auf uns zukommen.

Ein Punkt, der aus schulaufsichtlicher Sicht im Zusammenhang mit Gutachtenerstellungen besonders problematisch ist ­ auch schon bei Empfehlungen ­, ist die Tatsache, dass wir aus nahe liegenden Gründen keiner einzigen Grundschule garantieren können, dass die Lehrer kontinuierlich eine Klasse unterrichten ­ das heißt, dass die Lehrer in den Klassen 3 und 4 im Idealfall mit Blick auf das Grundschulgutachten diejenigen sind, die das Kind wirklich begleiten. Dass die Dokumentation der Erfahrungen in der Grundschule so gut wie möglich erfolgt, nehme ich in dem Zusammenhang einmal heraus; deswegen ist es kein Problem. Eltern sehen heute schon den Lehrerwechsel nach Klasse 3 als Problem an und gehen massiv dagegen an.

Wenn das Grundschulgutachten eine so hohe Verbindlichkeit haben wird, werden Eltern sich noch massiver und auch mit Rechtsmitteln gegen Lehrerwechsel, gegen unvermeidbaren Unterrichtsausfall und gegen möglicherweise schlechte Qualität von Unterricht in einzelnen Fächern zur Wehr setzen. Man kann es ihnen sicher nicht verdenken, wenn sie dieses tun.

Die Frage nach den Konsequenzen: Es muss in diesem Rechststaat für Eltern die Möglichkeit geben, Rechtsmittel gegen Entscheidungen von Behörden einzulegen; die wird es selbstverständlich auch geben, wenn ich den Entwurf richtig interpretiere. Die Frage ist: Was folgt daraus, und wie aufwendig wird das Verfahren, in dem die Behörden und die Schule darstellen, dass sie doch Recht haben?

Wenn man alle diese Konsequenzen bedenkt, also Rechtsmittel, Klagen ­ Konsequenzen für das Kind lasse ich hier aus guten Gründen weg, weil sie hier schon angesprochen worden sind und sicher auch noch einmal angesprochen werden ­, Konsequenzen im Sinne einer zusätzlichen Dokumentation, einem zusätzlichen Aufwand an Bürokratie, wobei ich gedacht hatte, dass alle Beteiligten ihn geringer haben wollen, als er zur Zeit ist: Erreichen wir damit das, was wir wollen, nämlich die Trefferquote zu erhöhen? Nichts anderes sollte ja der Sinn der Übung sein. Ich habe da meine Zweifel.

Wenn wir es so belassen, wie es jetzt ist, sind die Maßnahmen, die ich vorhin genannt habe ­ nämlich die Möglichkeiten der zusätzlichen Informationen über die mögliche Leistungsfähigkeit eines Kindes ­, sicher dienlicher, die Trefferquote zu erhöhen als bürokratische Maßnahmen, die auch noch gerichtlich zu überprüfen sind.

Dr. Bruno Köneke (Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, Landesvorstand): Sehr geehrter Herr Vorsitzender! Meine Damen und Herren! Ich möchte als Mitglied des Landesvorstandes der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und vor meinem eigenen beruflichen Hintergrund ­ ich leite seit gut 15 Jahren ein Gymnasium in Dortmund ­ zu zwei Kernpunkten Stellung nehmen: zu dem Projekt eines verbindlichen Vorschlages, einer verbindlichen Empfehlung der Grundschulen für die weiterführende Schulform und zu dem Stellenwert des Elternrechts.

Schon das Konzept einer verbindlichen Empfehlung enthält aus meiner Sicht einen Widerspruch in sich. Entweder handelt sich um eine Empfehlung - dann ist es ein Vorschlag - oder es ist eine Zuweisung, eine Zuordnung, die verbindlich ist. Entweder ­ oder. Verbindliche Empfehlung scheint mir ein Konzept der semantischen Tarnung zu sein.

Wenn aber die Empfehlung in Wahrheit eine Zuweisung sein soll ­ und das würde sie sein ­, dann kann man auch nicht mehr, wie das einzelne fragende Abgeordnete getan haben, relativierend sagen: stärkere Mitsprache oder stärkere Verbindlichkeit. Entweder, meine Damen und Herren, verbindlich oder nicht verbindlich. Entweder Zuweisung oder Vorschlag.

Wenn man der Grundschule damit die abschließende Entscheidung darüber zubilligt, welche weiterführende Schulform in einem gegliederten Schulsystem neun- bzw. zehnjährige Kinder besuchen sollen, dann allerdings stellt sich, meine Damen und Herren, von der Sache her gesehen, die zwingende Frage: Auf der Basis welcher Qualifikationen, auf der Basis welcher Erfahrungen, auf der Basis welcher prognostischen ­ oder muss man sagen: prophetischen? ­ Fähigkeiten treffen die Lehrkräfte der Grundschulen ­ in der Regel also die Lehrerinnen der Grundschulen ­ diese Entscheidungen?

Und da zeigen jedenfalls ausschnitthaft die von mir in mehr als 15 Jahren der Leitung eines Gymnasiums gesammelten Erfahrungen genauso wie die unterschiedlichen Untersuchungen, die heute bereits hier eingebracht worden sind, die zu wiederholen um diese Stunde reichlich langatmig wäre: Die so genannte hundertprozentige Trefferquote gibt es nicht.

Jede andere Trefferquote aber, meine Damen und Herren, die unterhalb von 100 % liegt, birgt das Risiko, dass es für einzelne Kinder, dann Jugendliche, schwere Fehlentscheidungen gibt. Was nützt es dem einzelnen Kind, dem die Chance des Besuchs einer anspruchsvolleren weiterführenden Schulform vorenthalten wurde, wenn, wie es Baden-Württemberg behauptet, die Trefferquote zu 92 % oder 93 % Zuverlässigkeit garantiert? Denjenigen, die selbst unter diesem niedrigst angenommenen freundlicheren Wert von 7 % oder 8 % fallen, nützt das gar nichts. Für das individuelle Lebensschicksal der einzelnen Menschen ist jedenfalls in einem Schulsystem, das die Durchlässigkeit ganz offenkundig um ein Vielfaches mehr nach unten denn nach oben realisiert, eine noch so hohe Trefferquote ­ den Begriff kann man ohnehin nur metaphorisch verwenden ­ wenig erfreulich.

Das alles gebietet die sachliche Klarheit und die konzeptionelle Ehrlichkeit. Die Frage stellt sich auch ­ sie ist auch von einigen meiner Vorredner schon angesprochen worden ­: Auf der Basis welcher Kenntnisse treffen denn Grundschullehrkräfte die verantwortliche Entscheidung? Als Leiter einer weiterführenden Schule sage ich umgekehrt meinen Kolleginnen und Kollegen oft genug: Hüten wir uns davor, aus der Perspektive von Gymnasiallehrerinnen oder Gymnasiallehrern womöglich abfällige Urteile über andere Schulformen zu treffen! Kennen wir denn so genau etwa eine Hauptschule von innen? Kennen wir denn so genau eine Realschule von innen?

Ich denke, wir alle bemühen uns um ein möglichst abgewogenes Urteil. Aber die Einschätzung, was ein Gymnasium, eine Realschule, eine Hauptschule heute an konkreten fachlichen, sozialen und sonstigen Kompetenzen vermittelt und verlangt, diese verantwortliche Kenntnis kann eine Grundschullehrerin, ein Grundschullehrer wiederum entweder aus der Erinnerung an die eigene Schulzeit oder aus der ­ so wird es meistens sein ­ Vermittlung durch die Perspektive der eigenen Kinder haben, die inzwischen in der Regel wiederum ein Gymnasium besuchen werden.

Von daher habe ich insbesondere als Leiter und Lehrer an einem Gymnasium besonders große Zweifel daran, wie verlässlich eigentlich die Prognosen im Blick auf den Besuch von Realschulen oder Hauptschulen sein können.

Weiter ist unter Bemühung der Kräfte des Verstandes, der uns allen gegeben ist, zu fragen: Wie verlässlich ist die Trennschärfe bei überlappenden Leistungspotenzialen?

Auch zu der etwa von einem Herrn Heller bemühte Untersuchung, der zufolge es kein Problem mache, das leistungsstärkste Drittel eines Jahrgangs vom leistungsschwächsten Drittel zu unterscheiden, kann ich wiederum bei allem Respekt vor der Wissenschaft nur sagen: Dazu muss man kein ausgewiesener Bildungsexperte und Bildungsforscher sein. Ein großes Problem ist es, die überlappenden Qualifikationen und die überlappenden Leistungspotenziale zu unterscheiden. Dieses Problem stellt sich aber nur dann, wenn es solche verbindlichen Grundschulgutachten gibt. Wie groß ist dieses Risiko von Irrtümern in jenem mittleren Leistungsdrittel, in dem sich in der Tat sehr oft die Frage stellt: eher Gymnasium oder Realschule oder auch eher Realschule oder Hauptschule?

Noch einmal: Die Zahl der Einzelfälle, auf die sich das Risiko des Irrtums bezieht, mag überschaubar oder sogar sehr groß sein. Niemand kann verlässlich garantieren, dass er oder sie trennscharf die Profile benachbarter Schulformen so verlässlich unterscheiden kann, dass für neunjährige Kinder diese Entscheidung mit abschließender Weichenstellung richtig getroffen wird. Deswegen wird, wenn die Grundschulempfehlung nicht nur eine Empfehlung, sondern eine Zuweisung wird, jedenfalls dann, wenn man die pädagogische Substanz dieses so schwierigen wie anspruchsvollen Berufes angemessen definiert, das Berufsethos dieser durch solche verbindlichen Gutachten geforderten Lehrerinnen und Lehrer auf schwer ertragbare Weise überstrapaziert, ja verzerrt und verbogen.

Lassen Sie mich neben diese Wertung noch eine korrigierende Information stellen. Frau Hund hat bereits darauf hingewiesen, dass es schon früher einen Probeunterricht gegeben hat. Der Präzisierung halber sei deutlich gesagt: In diesem älteren Verfahren, das bis 1996 gegolten hat, an das ich mich selber als Abnehmender noch gut erinnern kann, war das Beurteilungsspektrum sehr viel weiter und offener. Damals war nämlich nicht die Unterscheidung zu treffen, ob das Mädchen X definitiv aufs Gymnasium und der Junge Y definitiv auf die Realschule gehen soll, sondern das Spektrum war: geeignet für Realschule/Gymnasium. Zwischen diesen beiden Schulformen wurde nicht unterschieden. Dann stellte sich auch nicht die alternative Frage, geeignet oder nicht geeignet, plus oder minus, hopp oder top, sondern es gab sehr wohl die schattierende Zwischenbemerkung: vielleicht geeignet.

Wenn der verantwortlichen Grundschullehrerin nicht einmal dieses vorsichtige Urteil vielleicht geeignet für Realschule/Gymnasium möglich schien, wenn es ausdrücklich hieß nicht geeignet, dann erst war der Probeunterricht erforderlich.