Regulierung

22. Sitzung (öffentlich) stau

Wir sind uns schnell darüber einig, dass man aus verfassungsrechtlichen Gründen das Widerspruchsverfahren bis auf Ausnahmefälle nicht benötigt. Herr Ipsen hatte darauf hingewiesen. Aus den Erfahrungen der Praxis heraus empfiehlt es sich also immer, sich die drei Funktionen ins Gedächtnis zu rufen, die das Widerspruchsverfahren hat. Es hat die Selbstkontrollfunktion für die Verwaltung, die Entlastungsfunktion für die Verwaltungsgerichte und die Rechtschutzfunktion für die Bürger und die Unternehmen. Diese drei Funktionen verleihen dem Widerspruchsverfahren einen Charakter, den es an der Bürokratisierung nicht teilhaben lässt. Im Grunde ist es ein Ansatzpunkt für Bürger und Unternehmen, sich gegenüber Bürokratisierung zur Wehr zu setzen, und das auf relativ einfache Art und Weise. Ich will das mit einigen Erfahrungen aus der Praxis hinterlegen, die ich immer wieder mache. Ich will mich darauf beschränken und keine großen theoretischen Ausführungen machen.

Ich beginne aus der Sicht der Wirtschaft. Bei uns passiert es im Widerspruchsverfahren immer wieder, dass man aus der Sicht eines Unternehmens eine Baugenehmigung oder eine sonstige Verwaltungsentscheidung zunächst einmal mitnehmen muss, weil man nicht die Zeit hat, sich im Vorfeld mit der Verwaltung über jede Detailfrage abzustimmen und einvernehmliche Lösungen herbeizuführen. Die Verwaltungen sind häufig bereit, zu sagen, wir nehmen die Genehmigung erst einmal mit und legen dann hinterher gegen Teile davon Widerspruch ein, die nicht auf Konsens stoßen. Das ist ein sehr bewährtes Verfahren. Hinterher hat man ohne Zeitdruck und außergerichtlich die Möglichkeit, sich mit der Verwaltung selbst noch einmal zu einigen.

Die Widerspruchsbehörde agiert nach meiner Erfahrung immer auch als Vermittlerin zwischen Genehmigungsbehörde und Fachbehörden. Sie ist auch in der Lage, Ermessensausübungen nachzuprüfen. Das ist sehr wichtig. Das Verwaltungsgericht kann dies nur in sehr eingeschränktem Umfang, und prüft nur, ob der große Rahmen der Ermessensausübung verlassen worden ist. Das ist bei der Widerspruchsbehörde anders. Davon wird auch Gebrauch gemacht. Insofern kann man aus Sicht der Wirtschaft sagen, das ist das genaue Gegenteil einer Entbürokratisierung. Das möchte ich mit Nachdruck in Erinnerung rufen. Das Widerspruchsverfahren ist ein praxisbewährtes und kostengünstiges Rechtsschutzangebot, was durch ein verwaltungsgerichtliches Verfahren in keiner Weise ersetzt werden kann.

Es ist nicht mein Haupttätigkeitsfeld in der anwaltlichen Praxis. Es spielt aber vielleicht noch etwas stärker ein Argument eine Rolle, was auch für die Unternehmen zutrifft. Es ist die Tatsache, dass beim Verwaltungsgericht nach dem heutigen Gerichtskostenrecht mit der Einreichung der Klage oder eines Antrags auf Regelung der Vollziehung sofort Verwaltungsgerichtsgebühren fällig werden, auf deren Erstattung unabhängig vom Ausgang des Verfahrens kein Anspruch besteht. Man verteuert das Ganze im Grunde genommen also mit dem Wegfall des Widerspruchsverfahrens und schafft eine Kostenposition. Das macht beim Bürger wahrscheinlich relativ mehr aus als bei den Unternehmen, wo das Teil einer größeren Kostenposition sein mag. Man belastet den Rechtschutz aber mit einem sofort eintretenden Kostenrisiko und einem weitergehenden Risiko, was in den Gesamtkosten des Verfahrens besteht. In dieser Form besteht das im Widerspruchsverfahren nicht.

22. Sitzung (öffentlich) stau

Ich will noch auf einen weiteren Aspekt aus der Praxis aufmerksam machen. Nach meiner Beobachtung aus langjähriger Tätigkeit wird in den weitaus meisten Widerspruchsverfahren ein befriedigender Verfahrensabschluss gefunden, der eine Einschaltung des Verwaltungsgerichts überflüssig macht. Wir reden hier über Deregulierung und nicht über die Verlagerung von Beschäftigung mit Verfahren von einem öffentlichen Sektor in einen anderen. Selbst im Fall eines erfolglosen Widerspruchs ist es sehr häufig so, dass dem Anliegen des Bürgers oder des Unternehmens, die Verwaltung möge die Richtigkeit ihrer Entscheidung noch einmal überdenken, durch einen ablehnenden Widerspruchsbescheid Genüge getan wird, wenn er gut gemacht und inhaltlich überzeugend geschrieben ist. Häufig gelingt es auch, eine Konsenslösung zu finden, die eine formelle Entscheidung über den Widerspruch entbehrlich macht.

Eine weitere Gefahr besteht meines Erachtens im Hinblick auf die Entlastungsfunktion der Verwaltungsgerichte. Ich habe kürzlich darüber mit dem Präsidenten des Verwaltungsgerichts Minden telefoniert. Herr Wortmann hat mir auch die Zahlen genannt, die bei den beiden Baukammern des Verwaltungsgerichts Minden vorliegen.

Es trat grob etwa eine Verdoppelung der Eingangszahlen in Bausachen ein. Zugleich gab es eine Halbierung der Erledigungszeiten. Das ist nur auf den ersten Blick erstaunlich. Es kann nur darauf zurückzuführen sein, dass die Baukammern mit Lappalien beschäftigt werden, die eigentlich gar nicht oder zumindest erst nach der Filterfunktion des Widerspruchsverfahrens dorthin gehören.

Insofern würde man die Kapazitäten der Verwaltungsgerichte mit Fällen belasten, die auf einfachere Weise von den Widerspruchsinstanzen zu erledigen wären.

Das ist in kurzen Worten meine Einschätzung zur versuchsweisen Abschaffung des Widerspruchsverfahrens. Ich sehe das kritisch. Meines Erachtens hat das mit Deregulierung nichts zu tun.

Lassen Sie mich noch einige wenige Worte zur Änderung der Landesbauordnung Nordrhein-Westfalen sagen. Die in dem Entwurf enthaltenen Änderungen sind nach meiner Erfahrung praxisgerecht. Sie entsprechen auch einem Bedarf der Praxis. Sie sind sinnvoll. Das gilt in erster Linie für die Möglichkeit zur Ersetzung des Einvernehmens. Man kann darüber streiten. Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg und das Oberverwaltungsgericht Koblenz sind ganz unterschiedlicher Auffassung in der Frage, ob nicht schon aus § 36 Abs. 2 Baugesetzbuch die zuständige Behörde nach Landesrecht verpflichtet wäre, das Einvernehmen zu ersetzen, wenn es zu Unrecht versagt wird. Das ist nach wie vor umstritten.

Deswegen macht es unabhängig von dieser bundesgesetzlichen Diskussion Sinn, das im Landesrecht mit aufsichtsrechtlichen Regelungen klarzumachen. Die vorgesehene Änderung in § 80 der nordrhein-westfälischen Landesbauordnung kann sehr hilfreich sein. Sie verschärft nach einer Auffassung die bundesrechtliche Regelung inhaltlich nicht, nach der anderen Auffassung schon. Unabhängig davon ist das rechtlich unbedenklich. Es ist Aufsichtsrecht. Da steht dem Landesgesetzgeber ohnehin die Gesetzgebungskompetenz zu.

22. Sitzung (öffentlich) stau Praxiserforderlich ist die Regelung über die Ersetzung des Einvernehmens. Die Einvernehmensentscheidungen in den Kommunen treiben in der Praxis immer wieder Blüten. Zum Teil werden sogar Auffassungen vertreten wie die, dass die Entscheidung über das Einvernehmen eine politische Entscheidung sei. Das ist sie gerade nicht. Sie ist eine nach ganz strengen rechtlichen Kriterien ausgerichtete Entscheidung.

Um diesem Wildwuchs an Entscheidungen im Bereich rechtswidrig versagter Einvernehmen vorzubeugen, ist diese Regelung in der Bauordnung auf jeden Fall sinnvoll.

Der nächsten vorgesehenen Änderung mit dem Anzeigeverfahren statt dem Genehmigungsverfahren stehe ich positiv gegenüber. Dies gilt vor allem dann, wenn man dem Vorhabensträger ein Wahlrecht einräumt, wie im Emissionsschutzrecht ­ dort hat es ein praktisches und sehr bewährtes Vorbild ­ in bestimmten Fällen ein Genehmigungsverfahren durchzuführen. Das halte ich für ausgesprochen sinnvoll.

So wird es auch im Änderungsantrag vorgetragen. Das hat nichts mit überflüssiger Regulierung zu tun. Das ist ein Wahlrecht für denjenigen, den es betrifft. Das kann keine Überregulierung sein.

Zum Straßen- und Wegegesetz habe ich meiner Stellungnahme ausgeführt, dass ich dies positiv sehe. Dazu will ich an dieser Stelle nichts weiter sagen. Ich habe meine 10 Minuten Redezeit ausgeschöpft. Vielen Dank.

Horst Wüstenbecker (Rechtsanwalt, Münster): Herr Vorsitzender! Meine Damen und Herren! Wie Sie der Ihnen vorliegenden Stellungnahme entnehmen können, möchte ich mich auch auf die beiden Punkte beschränken, die den Schwerpunkt der Diskussion bilden, nämlich auf die befristete Aussetzung des Widerspruchsverfahrens in bestimmten Bereichen und auf die Ersetzung des rechtswidrig versagten Einvernehmens.

Zum Widerspruchsverfahren muss man wissen, dass wir im Verwaltungsprozess eigentlich genau die umgekehrte Situation wie im Zivilprozess haben. Im Zivilprozess hat uns der Bundesgesetzgeber vor einigen Jahren durch § 15 a Zivilprozessordnung Einführungsgesetz auf Landesebene die Möglichkeit gegeben, vorgerichtliche Gütestellen einzurichten. Im Verwaltungsprozess haben wir genau den umgekehrten Trend. Es ist mehrfach angesprochen worden. Die meisten Bundesländer haben ­ wenn auch in höchst unterschiedlicher Weise ­ von der erweiterten Öffnungsklausel in § 68 Gebrauch gemacht. Man muss sich dabei immer vor Augen führen, dass diese Regelung bereits am 1. Januar 1997, also vor immerhin fast genau zehn Jahren, in Kraft getreten ist. Einige Länder waren schneller, andere langsamer.

Wenn wir über die Abschaffung oder ­ wie im Entwurf des Bürokratieabbaugesetzes I ­ von der befristeten Aussetzung des Vorverfahrens sprechen, sollte man meines Erachtens die Gründe dieser Entwicklung, warum sich im Verwaltungsprozess eine ganz andere Entwicklung ergeben hat als im Zivilprozess, nicht unbeachtet lassen.

Selbstverständlich können wir in diesen Bereichen die unterschiedlichsten Regelungen treffen. Das haben wir heute schon gehört. Das haben die Länder in beispielhafter Weise gemacht und damit ein Beispiel für ineffektiven Föderalismus geboten.