Forschung

Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales (27.)

Gemeinsame Sitzung (öffentlich) Ei-beh

Vorsitzender Günter Garbrecht (AGS): Meine Damen und Herren, jetzt versuchen wir nach dem gleichen Verfahren wie unter Punkt 1 die Fragestellungen abzuarbeiten. Herr Dr. Knapczik antwortet zuerst auf die Frage von Herrn Dr. Romberg.

Dr. Volker Knapczik (St. Josef Hospital, Bad Driburg): Herr Vorsitzender! Sehr geehrte Damen und Herren! Ich möchte zunächst mein Berufsfeld beschreiben: Ich arbeite an einem Allgemeinkrankenhaus und leite dort die psychiatrische Abteilung. Sie hat die Pflichtversorgung für den Landkreis Höxter, besteht seit 1968 und ist seitdem offen. Das heißt, wir behandeln seit 1968 sämtliche Patienten mit offenen Türen, ohne sie abzuschließen. Sie werden vielleicht fragen: Wie geht das? Ich kann Ihnen sagen: Das geht ganz einfach. Es ist auch kein Experiment mehr. Was für uns zählt, ist die therapeutische Beziehung. Das heißt, ich muss zu dem schwerkranken Patienten einen therapeutischen Kontakt herstellen. Das kann ich nur durch personelle therapeutische Intervention. Notfalls muss ich ihm rund um die Uhr eine Person zuordnen, die auf ihn aufpasst, mit ihm Therapie macht und ihn in der Krise begleitet.

Es ist meiner Meinung nach nicht so, dass man einen Patienten, der in einer akuten Krise kommt - sei es in einer Psychose oder in einer depressiven Störung -, in der er selbst- oder fremdgefährdend ist, wegschließen muss. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das zur Gesundung beiträgt, und ich glaube auch nicht, dass die abgeschlossene Tür vor Suizid schützt. Ich denke, sie gibt eher eine trügerische Sicherheit. Ich muss mich dann genauso um den Patienten kümmern. Das Prinzip der offenen Tür bedeutet für die Profis, dass sie sich nicht in einer trügerischen Sicherheit wiegen können, sondern sich aktiv um den Klienten kümmern müssen.

Hinzu kommt das Phänomen, dass es Patienten, die in einer sehr schweren Krise zu uns kommen und die vielleicht nicht gleich behandlungswillig sind, sehr viel leichter fällt, in einer Abteilung zu bleiben, von der sie wissen: Die Türen sind auf, jederzeit können Leute kommen und gehen, und die Menschen kümmern sich um mich.

Wir haben mit ca. 4 % einen relativ niedrigen Prozentsatz in NRW. Im Dokumentationsverbund, dem 23 Kliniken angeschlossen sind, liegt die Quote bei ungefähr 8 %. Ich denke, dass wir auch nicht mehr andere Zwangsmaßnahmen ergreifen wie höhere Dosen an Medikamenten oder Fixierungen. Eher dürfte das Gegenteil der Fall sein, weil sich die gewaltfreie Atmosphäre sehr positiv auswirkt.

Prof. Dr. Karl H. Beine (Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des St. Hamm): Es wurde ja in den letzten Wochen darum gestritten, ob Wolf Biermann Ehrenbürger der Stadt Berlin wird oder nicht. Er wird es nun. Er hat ein wahres Lied geschrieben, das heißt: Was verboten ist, das macht uns grade scharf.

Ein bisschen trifft das nach meiner Erfahrung auf das Phänomen von geschlossenen und offenen psychiatrisch oder psychotherapeutisch geführten Stationen zu. Ich kenne aus eigener beruflicher Erfahrung beide Einrichtungstypen und habe keinen Zweifel daran, dass unter bestimmten Bedingungen Zwangseinweisungen unabdingbar sind.

Ich bin aber sehr davon überzeugt, dass die Rate der Zwangseinweisungen mit 34 von 96

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Ich bin auch überzeugt davon, dass offene Türen und gewaltarme Stationsatmosphäre bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einer Einrichtung eine Haltung mit sich bringen, die dem Phänomen Anwendung von Zwang und Gewalt Priorität gibt und dazu führt, dass die Aufmerksamkeit im Hinblick auf die Ausgestaltung der therapeutischen Beziehung wesentlich größer sein muss, als wenn man sich im Zweifel darauf verlassen kann, dass die Sicherung durch eine geschlossene Tür funktioniert. Das tut sie bei uns nicht.

Wir haben in Hamm eine Einrichtung mit 100 stationären Behandlungsplätzen für 190.000 Einwohnerinnen und Einwohner und betreiben dort die Regel- und Pflichtversorgung. Wir haben eine Zwangseinweisungsrate von ungefähr 5 % im Jahresdurchschnitt. Ich kann sagen, dass ich gute Erfahrungen damit mache und nicht sehe, dass das Ausmaß an Entweichungen und das Ausmaß an ernsthaften Zwischenfällen größer ist als in anderen Einrichtungen. Ich kenne allerdings keine gut gemachte systematische und validierte Studie, die die beiden Phänomene offene Station und geschlossene Station miteinander vergleicht und das entsprechende Outcome miteinander in Beziehung setzt. Das, was wir relativ sicher sagen können, ist, dass die Stationsatmosphäre - das ist untersucht worden - von den Patienten in offen geführten und in durchmischten Einrichtungen besser beurteilt wird als in anderen Einrichtungen.

Bei dem Ziel, die Zwangseinweisungsrate zu reduzieren, geht es darum, dass wir vonseiten der psychiatrisch Tätigen begreifen müssen, dass das Patientenmerkmal feindselige Haltung mindestens ebenso sehr ein zwischenmenschliches Geschehen wie ein personenbezogenes Merkmal ist. Will sagen: Das hängt ab vom Kontext, davon, wie viel Zeit ich habe, jemandem zu begegnen, davon, welche Ressourcen mir zur Verfügung stehen, und es hängt selbstverständlich auch von der Stationsatmosphäre ab.

Insofern sollten diese Fakten bewirken, dass das Phänomen Anwendung von Zwang und Gewalt in unseren professionellen Zusammenhängen Priorität bekommt und dass wir in den Einrichtungen, aber auch in Kooperation mit Rettungsdiensten, mit der Polizei vor Ort und mit kommunalen Vertretern versuchen, Krisendienste zu realisieren. Ich kann nämlich überhaupt nicht die Aussage bestätigen, dass der Krisendienst in Münster nicht dazu geführt hat, dass die Zwangseinweisungsrate gesunken ist. Was mit der Zwangseinweisungsrate passiert wäre, wenn der Krisendienst in Münster nicht gewesen wäre, möchte ich einmal dahingestellt sein lassen. Ich nehme an, dass sie angestiegen wäre.

Ich sage sehr deutlich, dass die Anstrengungen zur Reduktion von Gewalt gemeinsam mit Betroffenen und mit Angehörigen unternommen werden müssen, also nach dem Prinzip des Trialogs. Nur dann, wenn wir uns verwehren, in unserer eigenen Suppe zu kochen, und wenn wir uns zwingen, über den Tellerrand unserer Profession hinauszuschauen, wenn wir uns also den kritischen Anfragen stellen, wird es möglich sein, dass wir wirklich innovative Behandlungskonzepte und Umgehensweisen finden.

Ein Phänomen, das aus diesem Trialog entstanden ist, sind die Behandlungsvereinbarungen, die Sie angesprochen haben, Frau Veldhues, von denen ich meine, dass sie

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Gemeinsame Sitzung (öffentlich) Ei-beh nicht flächendeckend eingesetzt werden, was ich für nicht gut halte. Ich denke, dass Behandlungsvereinbarungen ein wichtiges Instrument zur Gewaltreduktion sind, weil sie der Ausgestaltung und Verfestigung einer therapeutischen Beziehung dienen und weil sie wertvolle Informationen dafür liefern, wie ich mit jemandem in einer schwierigen Situation, in der es ihm überhaupt nicht gut geht, umgehen kann.

Insofern setzen wir uns nachdrücklich dafür ein, dass die Behandlungsvereinbarungen ausgeweitet werden und dass vielleicht auch Begleitforschung implementiert wird, um die Nutzerbeteiligung in der Psychiatrie an dieser Stelle nachhaltig zu stärken.

Prof. Dr. Heinrich Kunze (Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Merxhausen, Bad Emstal): Herr Dr. Romberg, ich komme aus Hessen, leite eine psychiatrische Fachklinik in der Nähe von Kassel und für Kassel und will aus dieser Erfahrung berichten. Was meine beiden Vorredner gesagt haben, kann ich im Prinzip bestätigen. Nur mache ich kein Dogma daraus. Ich weiß nicht, ob Sie ein Dogma daraus machen - aber wir haben die geschlossene Tür als letzten Notnagel, wenden sie unter bestimmten Bedingungen an.

Worauf ich hinaus will, ist: Es gibt nicht ein System Offene-Tür-Psychiatrie und ein System Geschlossene-Tür-Psychiatrie, sondern man muss die Sache komplexer und differenzierter betrachten. Das Ziel ist doch, dass ich Patienten und Patientinnen überzeuge, zur Behandlung zu bleiben, solange wir das fachlich für notwendig halten. Wir müssen anerkennen, dass es Patienten gibt, die dies nicht von vornherein oder nicht für länger einsehen - dann kommt die Zwangseinweisung, und dann sind wir dafür verantwortlich, dass sie die Klinik nicht verlassen und sich und andere gefährden.

Dafür gibt es verschiedene Mittel. Die Mittel, die eben genannt worden sind, unterschreibe ich alle. Aber wenn ein Patient vorübergehend nicht anders gehalten werden kann, dann schließen wir auch die Tür ab. Die meisten Stationen bei uns sind offen; zwei oder drei Stationen machen die Tür manchmal zu. Wir haben dann allerdings die Regel, dass das immer halbtags überlegt wird. Die Tür ist also auch dort prinzipiell offen, aber wenn man keine andere Möglichkeit hat, wird sie für einen halben Tag, dann vielleicht noch einmal für einen halben Tag usw. geschlossen. Das heißt, es wird ständig kritisch geprüft.

Ich will Ihnen auch ein Beispiel dazu nennen. Wir hatten einen Patienten, bei dem die Tür nicht zu war und der gegen unseren Willen gegangen ist. Er hat dann auf der Straße Müll verstreut, einen schweren Verkehrsunfall verursacht und landete in der forensischen Psychiatrie. Damit will ich sagen: Wir haben die Verantwortung für die Patienten und müssen verschiedene Mittel einsetzen. Wir müssen uns überlegen, wo Patienten, die wir aus der Behandlungskontinuität verlieren, landen: in der Forensik, in der Obdachlosigkeit, im Suizid oder in anderen gefährlichen Situationen. Deswegen kommt es darauf an: Erreichen wir das Ziel? Und mit welchen Mitteln? Die geschlossene Tür ist da ein Notnagel. Es gibt in diesem Zusammenhang noch andere Notnägel, nämlich die Fixierung und die Übermedikation. Auch die muss man prüfen.

Kurz gesagt: Wir können mit möglichst vielen offenen und möglichst wenigen geschlossenen Türen arbeiten, wenn wir Gebäude haben.