Wohnen

Zu den Krisendiensten wurde schon vieles gesagt, auch, dass Krisendienste zu einer Erhöhung der Zwangseinweisungsrate führten. Diese Aussage kann man nicht so stehen lassen. Wir haben in den 90er-Jahren das Modellprogramm zu den Krisendiensten in Nordrhein-Westfalen in vier Modellregionen begleitbeforscht. Dabei haben wir sehr sorgfältig auf diese Frage geachtet. Wir haben nicht feststellen können, dass die Krisendienste zu einer Erhöhung der Zwangseinweisungsrate geführt haben. Nach unseren Feststellungen hatten sie keinen großen Einfluss darauf - mit Ausnahme von Bielefeld, wo wir einen allerdings eher senkenden Einfluss nachweisen konnten. In den anderen Regionen war der Krisendienst nur selektiv ausgerichtet - entweder zeitlich begrenzt oder auf Zielgruppen bezogen -, sodass viele Zwangseinweisungen an den Krisendiensten vorbeigelaufen sind und er gar keinen großen Einfluss auf die Zwangseinweisungsrate haben konnte.

Wir haben jedoch festgestellt, dass die Krisendienste - bei denen es sich ausschließlich um fachlich kompetent besetzte Krisendienste handelte; ihre fachliche Kompetenz ist natürlich Voraussetzung; übrigens ist hier nicht nur ärztliche Kompetenz gefragt; auch andere Berufe der Psychiatrie können sehr hilfreich sein, was die Verhinderung von Gewalt und von Zwang anbelangt - in vielen Fällen, wie Frau Dr. Kramer gerade schon angedeutet hat, drohende Zwangseinweisungen in freiwillige Klinikeinweisungen umwandeln konnten. Durch qualifizierte Krisendienste steigt die Zahl der freiwilligen Klinikeinweisungen möglicherweise an - auch das ist nicht erwiesen -, während die Zahl der Zwangseinweisungen wahrscheinlich reduziert wird. Man müsste sich natürlich noch genauer über die Frage unterhalten, welche Qualitätsmerkmale qualifizierte Krisendienste haben. Das kann ich jetzt natürlich nicht ausführen. In unserem Bericht haben wir aber einiges dazu gesagt.

Die Finanzierung ist im Augenblick ungeklärt. Über diese Krisendienste wird seit 20 Jahren geredet. Unser Projekt in den 90er-Jahren fand vor der Frage statt, ob in das eine Verpflichtung der Kommunen aufgenommen werden sollte, Krisendienste oder, wie man eigentlich sagen muss, Krisennotdienste vorzuhalten. Diese Verpflichtung ist damals nicht in das aufgenommen worden - wahrscheinlich, um die Kommunen zu schonen, was ja auch verständlich ist. Man hat allerdings gehofft, dass durch gutes Zureden und durch entsprechende Aufforderungen an die Kommunen etwas geschieht. Heute muss man feststellen, dass die Modellprojekte glücklicherweise noch existieren, dass aber nur wenige Krisendienste hinzugekommen sind. So einfach läuft das also nicht - wobei die Kommunen natürlich auch gute Gründe haben. Sie sagen, diese Krisendienste seien Teil der medizinischen Versorgung. Da stellt sich die Frage, welchen Beitrag die Krankenkassen zur Finanzierung dieser Dienste leisten.

In anderen Bundesländern gibt es zum Teil entsprechende Entwicklungen. Zum Beispiel ist in München jetzt ein sehr qualifizierter Krisennotdienst eingerichtet worden. In Berlin existiert schon seit längerer Zeit ein Krisennotdienst. Dort haben sich die Krankenkassen beteiligt. Die Frage ist, wie es gelungen ist, die Krankenkassen zu einer Beteiligung zu bewegen, und ob das nicht auch in Nordrhein-Westfalen möglich wäre. Die Kommunen haben das bisher nicht geschafft - was auch auf der Hand liegt; die Krankenkassen sind ja nicht kommunal organisiert und insofern ein schlechter Verhandlungspartner. Von daher stellt sich die Frage: Könnte nicht vonseiten des Landes mehr getan werden - in welcher Weise auch immer -, um dem Fortschritt hier endlich einmal etwas voranzuhelfen?

Vorsitzender Günter Garbrecht (AGS): Ich möchte in Erinnerung rufen, dass Frau Veldhues nach Behandlungsvereinbarungen gefragt hatte. Dazu haben Frau Schuhmann-Wessolek für den Landschaftsverband Westfalen-Lippe und Herr van Brederode für den Landschaftsverband Rheinland schon etwas gesagt. Diese Frage richtete sich aber auch an die niedergelassenen Ärzte. - Herr Thamer und noch einmal Herr van Brederode.

Dr. Ulrich Thamer (Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe): In der ambulanten Psychiatrie ist es kein Behandlungsstandard, solche Behandlungsvereinbarungen zu schließen. Wir haben aber zunehmend Kollegen, die sich mit sozialpsychiatrischen Schwerpunktpraxen abgrenzen. Da ist das wohl schon Standard. Solche Zentrenbildungen würde ich persönlich fördern, weil der betroffene Personenkreis in diesen Praxen effizient versorgt werden kann; das ist in unserem Statement auch näher beschrieben. Es wäre sicher hilfreich, wenn Behandlungsvereinbarungen Standard würden. Dadurch könnte man sicher auch die Zahl von Zwangseinweisungen reduzieren - insbesondere dann, wenn man in der Krisensituation selber als Einweiser zur Verfügung stehen kann.

Michael van Brederode (Landschaftsverband Rheinland): Ich halte Behandlungsvereinbarungen für ein wichtiges Instrument zur Stärkung der Patientenrechte. Wir haben dieses Instrument in den Rheinischen Kliniken in der Entwicklung. Ich kann Ihnen aktuell keine Zahl zum Durchdringungsgrad sagen. Ich gehe davon aus, dass es noch nicht in allen Bereichen eingesetzt wird. Behandlungsvereinbarungen sind aber ein aktuelles Thema.

Vorsitzender Günter Garbrecht (AGS): Die von mir vorhin an Frau Dr. Kramer und Herrn Prof. Regus gestellten Fragen sind bereits hinreichend beantwortet worden. Als Nächster ist Herr Voelzke an der Reihe, den ich konkret angesprochen hatte.

Wolfgang Voelzke (Stadt Bielefeld, Amt für Planung und Finanzen, Jugend/Soziales/Wohnen): Ich habe das in meiner schriftlichen Stellungnahme dargelegt; wegen der Kürze der Zeit will ich es hier nicht differenziert ausführen. Ich danke Frau Dr. Kramer für die Darstellung der Praxis.

Im Zusammenhang mit der Untersuchung von Herrn Prof. Regus müsste man aufgrund der Kriterien, die Bielefeld mitbringt - nämlich eine hohe Bettenmessziffer, eine hohe Nervenarztdichte, ein städtischer Ballungsraum mit hoher Einwohnerdichte sowie eine hohe Anzahl von Plätzen in Heimen und im ambulanten betreuten Wohnen -, erwarten, dass wir dort auch eine hohe Zwangseinweisungsrate nach haben. Das ist aber nicht der Fall. Im Vergleich zu den anderen an der Untersuchung beteiligten kreisfreien Städten haben wir deutlich niedrigere Zwangseinweisungsraten. Außerdem zeichnen wir insgesamt abnehmende Zahlen der Zwangsunterbringungen sowohl nach als auch nach Betreuungsrecht.

Was kann da wirken? Sicherlich sind die Wirkungen insgesamt sehr komplex. Wir haben ein differenziertes Hilfesystem. Dazu gehören ein engagierter sozialpsychiatrischer Dienst tagsüber und ein Krisendienst nachts und an Wochenenden, den wir aus Sicht der Stadt Bielefeld empfehlen. Es gehört aber noch mehr dazu. Seit 1993 gehört in Bielefeld das Engagement im Trialog von Psychiatrie-Erfahrenen, Angehörigen und Professionellen dazu. Seit 1993 gehören auch die Bemühungen um Behandlungsvereinbarungen und entsprechende Umsetzungen in der psychiatrischen Klinik in Bielefeld dazu.

Wir haben also ein Hilfesystem, das sich in ganz vielen Zusammenhängen - auch im Tandem des Krisendienstes - in dem Bemühen ausdrückt, möglichst sowohl von der Haltung als auch von den Hilfeangeboten her Hilfen zu schaffen, die erst einmal auf die Vermeidung von Zwangseinweisungen ausgerichtet sind.

Man muss sagen, dass die einzelnen Krisendienste in Zielrichtung, Konzepten und Finanzierung sehr unterschiedlich sind, sodass man sie nicht generell vergleichen kann.

Trotzdem würden wir professionelle Krisendienste und - das startet in Bielefeld jetzt auch - ein mobiles Früherkennungs- und Behandlungsteam, die intensive ambulante Behandlung von Krisen von der Klinik aus, empfehlen.

Dr. Eckhard Gollmer (Arbeitsgemeinschaft der kommunalen Spitzenverbände in NRW): Ich gehe kurz auf die sicher auch etwas akzentuiert-provokant gemeinte Frage ein, ob die Krisennotdienste denn die Unterbringungsrate erhöhen. Diese Frage beantworte ich mit einem klaren Nein. Herr Prof. Regus hat das ja schon im Einzelnen ausgeführt.

In Münster ist die Situation über die letzten sechs Jahre, die wir statistisch jetzt ganz gut überblicken, stabil. In absoluten Zahlen haben wir in Münster zwischen 500 und 630 Zwangseinweisungen pro Jahr. Davon entstehen etwas mehr als 50 % in den Kliniken und etwas weniger als 50 %, also rund 250 bis 300, im ambulanten Bereich. Der Krisennotdienst am Wochenende, der hier infrage steht, ist an 30 bis 50 Einweisungsfällen beteiligt, also an 10 bis 20 % aller im ambulanten Raum überhaupt entstehenden Zwangseinweisungsfällen. Diese Rate ist seit den Zeiten des Modells in der ersten Hälfte der 90er-Jahre stabil. In der Realität ist dieser Krisennotdienst - der ja auch nur am Wochenende zwischen Freitag 20 Uhr und Montag 8 Uhr aktiv ist - also nur an einem Bruchteil des Unterbringungsgeschehens beteiligt. Das kann er auch nur sein, weil er aus unserer Sicht leider - lediglich am Wochenende wirksam wird.

Natürlich ist ein Krisennotdienst - egal, ob er die ganze Woche oder nur am Wochenende zur Verfügung steht - keine Lösung für das Problem der Zwangseinweisungen. Hier ist wohl durch alle bisherigen Beiträge deutlich geworden, wie komplex die Ursachengefüge für hohe oder niedrige absolute oder relative Zahlen sind. Ich bin aber ganz sicher, dass in vielen Kommunen der Ansatz hilfreich ist, über einen solchen Krisennotdienst im Hinblick auf die Versorgungssituation nachzudenken und ihn in der ein oder anderen Form zu praktizieren, um das Problem von Zwangsmaßnahmen.