Schwellenwerte

Ich möchte mich heute in meinem Statement auf den zentralen Punkt der Absenkung der Schwellenwerte und das Thema der additiven Schwellenwerte konzentrieren, weil das für die Aufgabenwahrnehmung der Kommunen im kreisangehörigen Raum von zentraler Bedeutung ist. Wir wissen, dass die Einwohnerschwellenwerte seit 30 Jahren gelten, sie sind seinerzeit aber nach sorgfältiger Abwägung festgelegt worden.

Ich darf vorweg sagen: Es geht uns nicht um die bloße Verteidigung von Kreiszuständigkeiten ­ das wäre bei Weitem zu kurz gesprungen ­, sondern uns ist klar, dass durch die Festlegungen im Koalitionsvertrag die Absenkung der Schwellenwerte politisch gewollt ist und auch kommen wird. Wir bewegen uns ungern in Schlachten, die politisch schon geschlagen sind. Die Bedingungen für eine Absenkung der Schwellenwerte können aber auch nach dem Inhalt der Koalitionsvereinbarung so durch den Landtag umschrieben werden, dass sie keine nachhaltigen Schäden für den kreisangehörigen Raum insgesamt auslösen, und zwar durch eine Fixierung von Genehmigungsvoraussetzungen anhand eines Wirtschaftlichkeitsgegenchecks für die ausbrechende Gemeinde einerseits und den Kreis mit seinen verbleibenden Aufgaben sowie den Kosten für die Aufgabenerfüllung in den verbleibenden Gemeinden andererseits.

Unstreitig dürfte sein, dass es bei Absenkung der Schwellenwerte im Bereich der dann neu definierten Mittleren kreisangehörigen Städte ab 20.000 statt bisher 25.000 Einwohnern zwei Hauptanwendungsfälle geben wird, nämlich bei der Einrichtung eigener Bauämter und eigener Jugendämter. Es dürfte kaum eine Stadt ab 50.000 Einwohnern als dann Große kreisangehörige Stadt besonderes Interesse entwickeln, etwa die Aufgaben einer Ausländerbehörde anstelle des Kreises für ihr Gebiet zu übernehmen. Tatsächlich war in den vergangenen Jahren eine zunehmende Tendenz bei städtischen, also kreisangehörigen Ausländerbehörden zu verzeichnen, dass Große kreisangehörige Städte vertraglich einen Aufgabenrückfall an den Kreis vereinbaren. Hierdurch entstehen für beide Beteiligten Synergie- und Effizienzvorteile, die sich kostensparend sowohl für die die Aufgabe zurückgebende Stadt als auch für den aufnehmenden Kreis auswirken.

Es sind erhebliche Mehrkosten für die kommunale öffentliche Verwaltung zu befürchten, wenn nicht seitens des Landtags noch Korrektive im Genehmigungsverfahren durch das Innenministerium eingezogen werden; denn durch eine Zersplitterung von Aufgaben bei einer Vielzahl von Aufgabenträgern innerhalb der Kreise werden weder qualitativ hochstehende Dienstleistungen, schnelle Entscheidungen noch wirtschaftliche Vorteile infolge von Synergie- oder Skaleneffekten erreicht.

Dies gilt auch im Bereich der Bauämter ohne differenzierte Kreisumlage, denn dort können sich nur finanzstarke Gemeinden ein Ausbrechen aus dem umlagefinanzierten Solidarverbund des Kreises erlauben, da sie im Rahmen der Kreisumlage die Aufgabenwahrnehmung des Kreises bei der unteren Bauaufsicht solidarisch mit allen anderen Gemeinden weiter zu tragen haben.

Ich sprach schon davon: Das Gesetz ist geeignet, einen gemeindlichen Kannibalismus in Gang zu setzen. Dies ist ­ ich will dem Kollegen von Lennep nicht zu nahe treten ­ im Präsidium des Städte- und Gemeindebundes sicherlich unter Entscheidungsträgern entschieden worden, die möglicherweise nicht ganz repräsentativ für den Städte- und

Gemeindebund insgesamt sind; schauen Sie nur auf die Zusammensetzung des Präsidiums.

Ich weise darauf hin, dass sich dann finanzstarke Gemeinden oberhalb der neuen Schwellenwerte auf und davon machen und eigene Aufgabenträgerschaften ohne Rücksicht auf den Rest der kreisangehörigen Gemeinden und die Kreise insgesamt gründen werden. Die Aufgabenerledigung bezogen auf die Gesamtheit Kreis und kreisangehörige Gemeinden wird im Saldo teurer, also entsteht für den Steuerzahler eine höhere Belastung. Dies darf der Landesgesetzgeber nach unserer Auffassung nicht zulassen. Das ist auch, Herr von Lennep, eindeutig konnexitätsrelevant. Solange es als wesentliche Quelle der Kreisfinanzierung eine Kreisumlage gibt, muss es im Interesse des Landes liegen, eine Mindestbasis für Verwaltungskraft und Aufgabenbündelung auf Kreisebene festzuschreiben und keine Atomisierung der kommunalen Aufgabenwahrnehmung auszulösen. Dies ist mit einer entsprechenden Ausgestaltung des Genehmigungsverfahrens durch das Innenministerium zu gewährleisten; wir machen dazu in unserer Stellungnahme konkrete Vorschläge.

Zur Ausgangslage: Wir haben bereits jetzt eine vergleichsweise zerklüftete Aufgabenwahrnehmungslandschaft im kreisangehörigen Raum. Zurzeit gibt es 373 kreisangehörige Städte und Gemeinden, davon 35 mit über 60.000 Einwohnern und dem Status einer Großen kreisangehörigen Stadt. 124 verfügen über den Status einer Mittleren kreisangehörigen Stadt. Es gibt 36 Gemeinden im Einwohnerbereich zwischen 20. und 25.000 Einwohnern, die also potenziell zu den 124 genannten Gemeinden dazukämen. Schließlich weisen 18 Städte Einwohnerzahlen zwischen 50.000 und 60. auf, die künftig Große kreisangehörige Städte werden könnten.

Bereits jetzt haben wir 178 Jugendämter im Land, davon 51 in Kreisen und kreisfreien Städten. Damit existieren außer in den 35 Großen kreisangehörigen Städten mit derzeit über 60.000 Einwohnern 92 kreisangehörige Jugendämter im Bereich zwischen aktuell 25.000 und 60.000 Einwohnern, zu denen die genannten 36 Schwellenwertgemeinden potenziell hinzuträten.

Im Bereich der unteren Bauaufsicht verfügt Nordrhein-Westfalen nach unseren Erhebungen über weit mehr als 200 Kommunen mit eigener Bauaufsicht, also kreisfreie Städte, Kreise, Große kreisangehörige Städte, Mittlere kreisangehörige Städte sowie sogenannte Sonderstatusstädte mit einer Privilegierung aus der Zeit der Funktionalreform. Das sind Städte im Bereich ab 20.000 Einwohner.

Ich frage Sie: Wenn die Landesregierung zu Recht im Rahmen der Verwaltungsstrukturreform dauernd und zutreffend von einer Straffung und Bündelung staatlicher Behörden und Instanzen redet, weshalb geht sie mit der Senkung der Schwellenwerte im kommunalen Bereich einen völlig entgegengesetzten Weg wider jede wirtschaftliche Vernunft?

Aus eins mach zwei oder drei oder vier, könnte man auch sagen, und das um den Preis einer verteuerten Aufgabenwahrnehmung bei den finanzschwachen Gemeinden, die sich das nicht leisten können und notgedrungen beim Kreis verbleiben müssen.

Überdies: Es gibt eine erheblich zurückgehende Fallzahl von Neubauvorhaben aufgrund des Gebäudebestandes und der demografischen Entwicklung. Lohnt es sich wirklich, in jeder Gemeinde ab 20.000 Einwohnern ein eigenes Bauamt mit anderthalb Kräften vorzuhalten, die das gesamte Spektrum des Bauplanungs- und Ordnungsrechts abdecken müssen?

Die gleiche Erwägung gilt für die Begründung gemeindlicher Jugendämter ab 20.000 Einwohnern. Absehbar wird es bald kaum noch Jugendliche geben, für die Minijugendämter vorgehalten werden müssen. Infolge der differenzierten Kreisjugendamtsumlage wird jeder Bürgermeister für sich rechnen, ob ein Aussteigen aus dem Kreisjugendamt wirtschaftlicher ist als ein Verbleiben im Solidarverbund des Kreises. Immer wenn der Anteil an der Kreisjugendamtsumlage größer ist als die Kosten für die Begründung eines eigenen Jugendamtes, das nur die im Gemeindegebiet anfallenden Kosten zu tragen hat, wird es einen Ausstiegsbeschluss geben. Wir haben Ihnen diesen Aspekt anhand der Verhältnisse im Rhein-Sieg-Kreis detailliert in unserer Stellungnahme dargelegt, Herr Becker.

Um diese Folge und die daraus erwachsende weitere Abwanderungstendenz der finanziell bis dahin zweit- oder drittstärksten Gemeinde etc. im Sinne einer spiralartigen Entwicklung zu verhindern, ist auch hier geboten, im Rahmen eines Genehmigungsverfahrens auf Verleihung des Status einer Mittleren oder Großen kreisangehörigen Stadt durch das Innenministerium bei andersartigen übergeordneten Interessen die Genehmigung zu versagen. Die Versagungsgründe sollten unseres Erachtens jedenfalls in der Gesetzesbegründung aufgeführt werden. Auch dazu machen wir Ihnen konkrete Vorschläge in unserer Stellungnahme.

Noch gravierender werden die von mir skizzierten Folgen bei einer Zulassung der aufgabenträgerunabhängigen interkommunalen Kooperation, auch Rosinenpickerei oder Aufgabenhopping, gestelzter auch additiver Schwellenwert genannt; denn natürlich bilden sich im Zweifel Verbünde von zwei finanzstarken Städten mit jeweils 10.000 Einwohnern, die ein gemeinsames Bauamt betreiben, was aber für den Kreis zu einer Verteuerung seiner Restzuständigkeit führt, da die Synergieeffekte eines großen Kreisbauamtes als untere Bauaufsicht in dem Umfang der ausscheidenden Gemeinden schlicht wegfallen.

Letztlich handelt es sich also nicht so sehr um eine Auseinandersetzung zwischen den ausbrechenden Gemeinden und dem Kreis, sondern vielmehr um ein Ausscheren zulasten der übrigen, in der Regel überwiegend kleinen und mittleren Gemeinden im Kreisgebiet.

Voraussetzung für ein faires Genehmigungsverfahren wäre, dass die Genehmigung nur dann erteilt wird, wenn Belange Dritter nicht unangemessen beeinträchtigt werden oder Gründe des öffentlichen Wohls nicht entgegenstehen. Hier müssen die gleichen Gründe gelten wie bei der Statusverleihung einer Mittleren und Großen kreisangehörigen Stadt.

Herr von Lennep, Sie haben das Verfassungsrecht angesprochen. Da mache ich gerne mit. Erst jüngst haben wir eine Entscheidung aus Mecklenburg-Vorpommern zur dort geplanten Kreisgebietsneugliederung erhalten, die man in aller Ruhe auswerten sollte.

Selbstverständlich hat die Aufgabenerledigung durch den Kreis Vorrang vor einer Aufgabenerledigung durch interkommunale Zusammenarbeit von Gemeinden. Das ist durch die Rechtsprechung hinreichend deutlich dargelegt worden.