Die Einführung der Zweitstimme wird mit sehr großen Worten angekündigt

Prof. Dr. Bodo Pieroth (Westfälische Wilhelms-Universität Münster): Ich will mich kurzfassen. Bei den drei wesentlichen Punkten, zu denen die Sachverständigen Ausführungen machen sollten, muss ich zunächst ein bisschen Wasser in den Wein gießen.

Die Einführung der Zweitstimme wird mit sehr großen Worten angekündigt. Es wird betont, sie gebe größere wahldemokratische Entscheidungsoptionen, erlaube es, den politischen Willen differenzierter zu artikulieren. Schaut man sich etwas nüchterner an, was die führenden Wahlrechtsexperten der Bundesrepublik Deutschland dazu sagen, fällt das Ergebnis deutlich anders aus.

Einer von ihnen ist Prof. Ipsen. Er ist ein großer Spezialist - allerdings nicht der Spezialist, als der er in Ihrer Einladung angekündigt wird: Er ist nämlich nicht der Direktor des Instituts für Kommunalwahlrecht, sondern Direktor des Instituts für Kommunalrecht.

Ich will zusammenfassen, wie er das Zweistimmenwahlrecht charakterisiert. Dabei geht es nicht um die Frage, ob das Einstimmen- oder das Zweistimmenwahlrecht - mit Ihrem Entwurf wollen Sie das Zweistimmenwahlrecht einführen - verfassungswidrig ist, sondern es geht um die Beurteilung aus verfassungspolitischer und nicht aus verfassungsrechtlicher Sicht. Herr Ipsen hält das bisherige System für besser, denn die Abschaffung des Zweistimmenwahlrechts auf Bundesebene hätte aus seiner Sicht Vorteile: Erstens. Das Wahlsystem würde klarer, weil die Entscheidungsalternativen deutlicher hervorträten, ohne dass die Möglichkeit des Lavierens, eines Kompromisses, vorgespielt werden würde.

Zweitens. Das Wahlsystem würde ehrlicher und böte weniger Möglichkeit zur Manipulation. Zweitstimmenkampagnen, die auf die Unkenntnis der Wähler spekulieren, wären fernerhin undenkbar.

Drittens. Das Wahlsystem würde demokratischer, weil es zu verstärkter Wahlkreisarbeit nötigt. Keine Partei könnte sich darauf verlassen, allein mithilfe des Verhältnisausgleichs über die Zweitstimme in den Bundestag oder den Landtag einzuziehen.

Viertens. Das Wahlsystem würde konsequenter, weil dem Wähler die Entscheidung für eine bestimmte Partei ohne Umwege abverlangt werden würde. Das ist die Grundlage des Verhältniswahlsystems überhaupt.

Fünftens. Das Wahlsystem würde rationaler, weil es widersprüchliche Aussagen der Art a und non a, als die sich das Stimmensplitting nüchtern besehen darstellt, nicht mehr zuließe.

Sechstens. Das Wahlsystem würde unanfälliger gegenüber Verletzungen der Wahlrechtsgleichheit, die durch die Überhangmandate gegeben sind. Dazu wird Herr Pukelsheim sicher noch etwas sagen.

Diese verfassungspolitische Einschätzung wird nicht nur von Ipsen, sondern auch von einigen anderen so vertreten.

Zum Wahlsystem nach Sainte-Laguë/Schepers enthalte ich mich jeder Ausführung. Ich kann mich nur dem anschließen, was Herr Pukelsheim dazu geschrieben hat: Es ist die beste Art und Weise, eine adäquate wahlrechtsgleiche Korrelation zwischen Wählerstimmen und Repräsentation im Parlament herzustellen.

Auch das Wahlrecht mit 16 Jahren ist meines Erachtens keine Frage der Verfassungsmäßigkeit, sondern wiederum der Verfassungspolitik, für die hauptsächlich entscheidend sein sollte, welche Erfahrungen bisher bei den Kommunalwahlen mit dem Wahlalter von 16 Jahren, das es auch in Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, und Schleswig-Holstein gibt, gemacht worden sind. Zunächst erhobene verfassungsrechtliche Einwände gegen ein Wahlrecht ab 16 Jahren werden heute nicht mehr ernsthaft vertreten.

Es ist darauf hingewiesen worden, dass es ein Widerspruch in der Rechtsordnung sei, einerseits die Geschäftsfähigkeit im bürgerlichen Rechtsverkehr erst mit 18 Jahren beginnen zu lassen, andererseits aber Personen, die in diesem Sinne noch nicht geschäftsfähig sind, zu erlauben, an der politischen Willensbildung teilzunehmen. Bei der Ausübung der politischen Willensbildung geht es aber nicht um rechtliche Bindungen und rechtliche Bindungsfähigkeit wie bei der Geschäftsfähigkeit. Um etwas anderes als rechtliche Bindungen und Bindungsfähigkeit geht es zum Beispiel auch bei der Religionsmündigkeit: Mit 14 Jahren darf jeder seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft selber bestimmen.

Prof. Dr. Uwe Andersen (Ruhr-Universität Bochum): Ich möchte vorwegschicken, dass ich gerade erst eine Augenoperation mit Schreib- und Leseverbot hinter mich gebracht habe und deshalb nicht in der Lage war, Ihnen vorher eine schriftliche Stellungnahme zukommen zu lassen. Dennoch möchte ich mich gerne äußern.

Im Gegensatz zu meinem Vorredner komme ich bei der ersten Frage zur Einführung der Zweitstimme zu einem positiven Urteil: Ich halte diese Einführung für einen richtigen Schritt. Aus meiner Sicht lautet die Kernbegründung - das ist die Voraussetzung eines solchen Urteils -, dass der Wähler Differenzierungsmöglichkeiten erhalten soll. Im Übrigen entspricht die Einführung durchaus dem generellen Trend in Deutschland, solche Differenzierungsmöglichkeiten einzuräumen.

Denkt man an die Auswirkungen, ist sicherlich zu berücksichtigen, dass die Zweitstimme es zum einen erlaubt, die Persönlichkeitswahl gegenüber der Parteienwahl abzugrenzen. Das ist ein Kriterium für eine kleinere Wählergruppe, die einen Kandidaten absolut nicht leiden kann oder aber ihn besonders präferiert.

Wichtiger aber ist nach empirischen Untersuchungen das Stimmensplitting als taktisches Instrument, insbesondere für die Anhänger kleinerer Parteien, die bei chancenlosen Direktkandidaten ihrer eigenen Partei ihre Präferenz für eine bestimmte Koalition durch ihre Erststimme zum Ausdruck bringen. Das führt für die großen Parteien zu deutlich mehr Erststimmen im Vergleich zu den Zweitstimmen. Solch ein taktisches Verhalten tritt allerdings auch bei Anhängern großer Parteien auf, wenn es bei möglichen Koalitionspartnern um die 5 %-Hürde geht. Allerdings könnte man sich auch ein erweitertes taktisches Kalkül des Wählers vorstellen, indem er mit seinem Votum für Parteien, die an der 5 %-Hürde krebsen, die zukünftigen Koalitionsmöglichkeiten beeinflusst.

Von daher kann man die Einführung der Zweitstimme durchaus auch kritisch sehen. Sie hat Einfluss auf das taktische Verhalten der Parteien; das Stichwort Zweitstimmenkampagne ist schon gefallen. Kritisch sehen kann man sie auch mit Blick auf die Kenntnis der Wählerschaft von der Wirkung unseres Wahlsystems. Allerdings werden die Infor mationen immer dann besser, desto näher der Wahltermin rückt. Dadurch nimmt die Unkenntnis etwas ab.

Ich möchte mich von daher dem Vorschlag anschließen, wie in anderen Wahlgesetzen auch die Begriffe Erst- und Zweitstimme zu vermeiden, da diese Begriffe eine Gewichtung zwischen erstrangig und zweitrangig nahelegen, was sicherlich nicht zutrifft.

Für Nordrhein-Westfalen erwarte ich ähnliche Auswirkungen wie bisher im Bund und den Bundesländern, in denen es bereits Erfahrungen mit der Zweitstimme gibt.

Was das Wahlsystem anbelangt, hat sich Herr Pukelsheim sehr detailliert damit beschäftigt. Ich halte das Divisorverfahren für sehr sinnvoll und präferiere es eindeutig, denn es ist das unter dem Gesichtspunkt des gleichen Gewichts jeder Wählerstimme zu bevorzugende.

Sehr aufwendig scheint mir die Ersatzbewerberregelung. Hält man sie für notwendig dabei kommen nur extreme Ausnahmefälle infrage -, wäre es konsequent, die Ersatzbewerber ernst zu nehmen. Das heißt unter anderem: Würde beispielsweise ein direkt gewählter Abgeordneter im Laufe der Legislaturperiode ausscheiden, sollte man auf den Ersatzbewerber zurückgreifen. Die jetzige Regelung halte ich insofern für nicht sehr konsequent.

Zum Wahlrecht mit 16 Jahren ist vorauszuschicken, dass die Festsetzung des Wahlrechtsalters gewissermaßen eine begründete Willkürkomponente enthält. Wissenschaftlich können Sie keine zwingenden Gründe für ein Wahlrecht mit 14,16,18 oder 21 Jahren anführen. Die Entscheidung hängt aus meiner Sicht von Wertpräferenzen ab.

Ich selber bin gegenüber einer Absenkung des Wahlalters sehr skeptisch. Meines Erachtens sollte die allgemeine Mündigkeit mit dem Wahlalter gekoppelt werden. Ich erachte das Wahlrecht für ein sehr hohes Gut, für das entscheidende Recht zur Machtverteilung in einer Demokratie. Wollte man also die Mündigkeit auf 16 Jahre senken - es gibt Argumente dafür und dagegen -, würde sich die Situation für mich anders darstellen.

Allerdings bekommen die höheren Altersgruppen angesichts der demografischen Entwicklung ein immer größeres Gewicht in der Wählerschaft und damit zwangsläufig auch im Parteienkalkül; das scheint mir das Kernargument der Befürworter einer Absenkung zu sein. Deshalb leuchtet der Versuch ein, gerade die jüngeren Altersgruppen, die politisch unter die Räder zu geraten drohen, zu stärken. Das wäre allerdings nur ein sehr begrenzter Schritt. Aus meiner Sicht würde das die genannte Wertpräferenz nicht überwiegen.

In Bezug auf die Auswirkungen liegen Erfahrungen von den Kommunalwahlen vor. International lassen sich nur wenige Erkenntnisse sammeln. In Österreich war dies jüngst möglich. Es mangelt an hartem empirischem Material exakt für die Gruppe der 16- bis 18-Jährigen, was bedauerlich ist. Daher kann man nur grobe Tendenzangaben machen. Wir wissen um die durchgängig sehr niedrige Wahlbeteiligung der jüngsten Altersgruppe. Es spricht nichts dafür, dass das bei den 16- bis 18-Jährigen anders ist. Die Chance, die das Wahlrecht bietet, wird von dieser Altersgruppe offensichtlich nur sehr begrenzt genutzt.