Gefahrenabwehr

Noch einmal zum zeitlichen Ablauf: Nach Benachrichtigung der Polizei um 0:20 Uhr sei diese um 1:00 Uhr mit Spürhunden eingetroffen. Ab wann habe die groß angelegte Fahndung begonnen? Erst nach der Suche mit den Spürhunden?

Und auch wenn die Ministerin zu der Erklärung der JVA-Leiterin und den Pressemeldungen nicht Stellung nehme, spreche aber nichts dagegen, sich von ihrer Seite zu der Tatsache zu äußern, dass aufgrund zu langer Bearbeitungszeiten von wichtigen Strafsachen 19 Untersuchungshäftlinge nach Ablauf von sechs Monaten gem. § 121 hätten freigelassen werden müssen. Müsse die Landesregierung nicht, um die Justiz wieder in ein gutes Licht zu rücken, deutliche Aktionen durchführen, damit die Menschen in Nordrhein-Westfalen wieder an die Justiz glaubten?

Denn wöchentlich verlängere sich die Liste der Artikel mit Meldungen über das, was in Nordrhein-Westfalen nicht funktioniere. So heiße es in der Neuen Rhein Zeitung vom 17. Oktober: Langsam benötigt die Justiz selbst ein Alibi. Frank Sichau (SPD) erkundigt sich - erstens - unter dem Stichwort Gefahrenabwehr und Strafverfolgung, ob nicht das Tätigwerden außerhalb der Mauern einer JVA zu den Aufgaben der Polizei - sprich: damit nicht zu denen der JVA-Mitarbeiterschaft zähle.

Zweitens: Gebe es in der JVA Krefeld Fassadendetektion; diese könnte die Ermittlungen präzisieren.

Drittens: Habe die Anstalt - eine solche Fragestellung gelte als im Sicherheitsbereich nicht unüblich -, da einer der beteiligten Bediensteten ein unverhältnismäßig teures Auto fahre, Anlass für eine Zuverlässigkeitsüberprüfung gesehen?

Viertens: Habe jemand aus der Justiz versucht, den Entflohenen an seinem Heimatort in der Türkei telefonisch zu erreichen?

Justizministerin Roswitha Müller-Piepenkötter empfindet es als faszinierend, wie Thomas Stotko Zeitungsartikel, Zitate und Überschriften vermenge, um einen Vertrauensverlust in die Justiz zu konstruieren. Ein solcher Vertrauensverlust existiere nicht. Außerdem bestände dafür kein Grund, da kein besorgniserregender Anstieg aufgehobener Haftbefehle vorliege.

Die vier in Rede stehenden Mitarbeiter seien zurzeit krank und würden nach ihrer Rückkehr in der Hauptanstalt eingesetzt.

Selbstverständlich falle die extramurale Gefahrenabwehr in die Zuständigkeit der Polizei.

Eine Fassadendetektion gebe es in der JVA Krefeld nicht, jedoch vier Kameras zur Überwachung des Eingangs und der Höfe. Bekanntlich sehe die Planung das Schließen der JVA Krefeld nach Fertigstellung von Willich II und Umbau von Willich I vor.

Auch die Zuverlässigkeitsprüfung gehöre zum Gegenstand des Ermittlungsverfahrens und der in polizeilicher und dienstrechtlicher Hinsicht stattfindenden Ermittlungen. Deshalb werde sie dazu nichts sagen. - Im Übrigen führe nicht das Ministerium die Ermittlungen, sondern Polizei und Staatsanwaltschaft Krefeld.

MDgt Holten (JM) ist nicht bekannt, ob jemand versucht habe, den Geflohenen in der Türkei zu erreichen.

Vorsitzender Dr. Robert Orth erinnert an die Begrenzung der Sitzung auf 10:00 Uhr. Wegen des Beginns des Plenums werde er die Sitzung dann auch beenden. Im Augenblick, um 9:46 Uhr, ständen noch sechs Personen auf der Rednerliste.

Als Nächster auf der Rednerliste stehe der Abgeordnete Ralf Jäger. Ralf Jäger gehöre dem Ausschuss jedoch nur als stellvertretendes Mitglied an. Da die SPD-Fraktion vollständig vertreten sei, habe Ralf Jäger kein Rederecht.

(Eine Abgeordnete der SPD-Fraktion verlässt den Sitzungssaal.)

- Wenn die SPD-Fraktion das so handhabe, dann habe sich das Problem erledigt.

Gleichwohl rege er mit Blick auf die SPD-Fraktion an, darüber nachzudenken, vielleicht die Mitgliedschaft bei Gelegenheit neu zu regeln.

Ralf Jäger (SPD) betont gegenüber der Ministerin die Freiheit der Abgeordneten, zu beurteilen, ob es einen Vertrauensverlust in die nordrhein-westfälische Justiz gebe oder nicht.

Und in Rechtsausschusssitzungen - soweit zu der einleitenden Bemerkung des Vorsitzenden - dürften die Abgeordneten nicht nur Fragen an die Landesregierung formulieren, sondern sich auch kommentierend einlassen.

Eine Antwort der Ministerin vermisse er immer noch auf die Frage, ob sie den mindestens dreieinhalb Stunden - eingerechnet den Umschluss sogar sechs Stunden dauernden Versuch, den Häftling mit Bordmitteln außerhalb und innerhalb der JVA wiederzufinden, als sachgerecht beurteile und weshalb sie Äußerungen der Polizei, das lange Zögern der Leitung der JVA bis zur Unterrichtung der Polizei hätte nicht gerade fahndungsunterstützend gewirkt, als Spekulation bezeichne.

Ferner: Wie erkläre sich die Ministerin die Information der Öffentlichkeit - und zudem nur der Teilöffentlichkeit in Krefeld - trotz der Einleitung der bundesweiten Fahndung bereits am Samstag erst am Sonntag? Wäre eine frühzeitigere landesweite Unterrichtung der Öffentlichkeit zur Unterstützung der am Samstag begonnenen Fahndung nicht sachgerechter gewesen? Wie könne es zu einem derart verzögerten Reagieren kommen?

Schließlich: Nachdem die Ministerin sehr ausführlich die Zahl der Entweichungen aus JVAs und die Zahl der entwichenen Gefangenen in den letzten Jahren aufaddiert ha be, könne sie eventuell auch mitteilen, wie oft sich Gefangene in Luft aufgelöst hätten.

Vielleicht verstehe Ralf Jäger unter in Luft auflösen das im Jahre 2003 in der JVA Aachen Geschehene, erwidert Justizministerin Roswitha Müller-Piepenkötter:

Nachdem dort ein Gefangener bei der Morgenkostausgabe vermeintlich noch gesehen worden, bei der Ausgabe des Mittagessens aber nicht mehr in seinem Haftraum anwesend gewesen sei, habe man die Zweiganstalt erfolglos durchsucht und keine Ausbruchsspuren festgestellt. Im Bett habe sich morgens lediglich eine Figur befunden, die das Bild einer schlafenden Person habe vermitteln können. Der damalige Justizminister Gerhards habe den Rechtsausschuss über diesen Vorfall vom 7. Oktober 2003 und den bis dahin noch ungeklärten Verlust des Gefangenen am 17. Oktober 2003 unterrichtet. Am 23. Oktober 2003 habe dann ein - anschließend zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilter - Bediensteter die Befreiung des Gefangenen gestanden.

Als Meister erweise sich die Opposition in der Dehnung von Zeiten - dreieinhalb Stunden, sechs Stunden.

Offizielle Verlautbarungen der Polizei habe sie nicht als Spekulationen bezeichnet.

Eine solche offizielle Verlautbarung der Polizei dazu, ob sie zu spät oder zu früh benachrichtigt worden sei, sei ihr weder bekannt noch hier vorgetragen worden.

Die bundesweite Fahndung sei in der Nacht um 3 Uhr in Gang gesetzt worden.

Dr. Robert Orth (FDP) kann auf der einen Seite den Fragebedarf der Opposition nachvollziehen, andererseits gebe es in den letzten Jahren keine besorgniserregende Häufung, und bei den Ereignissen handele es sich um Einzelfälle.

Lasse er jedoch die Zeit von vor 2005 Revue passieren, zeige sich ein von der damaligen Opposition immer kritisiertes Ignorieren von Zusammenhängen durch die seinerzeitige Landesregierung. Er erinnere nur an die von der Landesregierung bis zur Ersetzung des Anstaltsleiters durch einen Psychologen immer als eine unglückliche Verkettung von Umständen bezeichnete Selbstmordserie in der Ulmer Höh Niemals ließen sich bei rund 18.000 Häftlingen Ausbrüche einzelner verhindern. Zu verhindern gelte es allerdings Wiederholungen, also Fälle gleicher Art. Dafür, dass es sich hier um eine solche Wiederholung handeln könnte, spreche nichts.

Die Frage nach dem Verbleib ausgebrochener Gefangener habe auch er, Orth, vor drei Jahren gestellt und aus dem Justizministerium die angesichts der großen Zahl von abhanden gekommenen Häftlingen erschreckende Auskunft erhalten, man hätte niemanden wieder aufgegriffen. Von den vier Ausgebrochenen in diesem Jahr habe man immerhin drei bereits wieder gefasst.