Krankenhaus

Ganz zum Schluss darf ich noch ein Stichwort nennen. Ich halte es für eine sehr gute Entwicklung, dass ein Gutachten erarbeitet worden ist und dass sich dort etwas tun soll. Ich kann nur bitten, dem spitzen finanziellen Bleistift eines Krankenhausmanagers wirklich Macht zu geben und ihn nicht als Feigenblatt zu benutzen.

Dr. Carl-Ernst von Schönfeld (Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Bethel): Als Psychiater aus Bethel stehe ich seit 1992 als Konsiliarpsychiater mit dem Justizvollzug in Verbindung. Ich biete dort regelmäßig alle 14 Tage für einen halben Tag eine Sprechstunde an und werde durchschnittlich noch einmal pro Woche zu einem Notfall dazugerufen.

(Frank Sichau [SPD]: In I?)

­ In I, aber auch in II. Seit einem guten Jahr haben wir auch eine forensische Fachambulanz, sodass auch Patienten aus II zu uns nach Bethel kommen. Das sind aber nur sehr wenige. Hauptfeld ist der geschlossene Vollzug in Bielefeld-Brackwede I.

Weil wir dort einen Eindruck davon bekommen haben, welche enorme Zahl von psychisch kranken Menschen in Haft ist, haben wir uns auch überlegt, eine Stichtagsuntersuchung durchzuführen. Daraufhin sind von Herrn Prof. Schneider von der Universität Düsseldorf und von uns aus Bielefeld verschiedene Ansätze zusammengeführt worden. 2002/2003 haben wir dann versucht, zu einem bestimmten Stichtag mit guten Ressourcen ­ zwei Doktoranden waren dabei, eine Kollegin und ich ­ alle Patienten zu untersuchen, um herauszufinden, wie viele Menschen mit psychischen Störungen es dort gibt. Dabei ist eine erschlagend hohe Zahl von über 80 % herausgekommen. Sie war deshalb so enorm hoch, weil auch die Menschen mit Suchterkrankungen dabei waren. Das Bild war aber auch von echten Depressionen und Schizophrenien geprägt. Vor allem bei den Frauen haben wir in diesem Zusammenhang posttraumatische Belastungsstörungen gefunden. Etwa die Hälfte der inhaftierten Frauen ist ja drogenabhängig. Die meisten von ihnen haben auch den entsprechenden Hintergrund von Beschaffungsprostitution und Ähnlichem. Dieser Teufelskreis von Katastrophen, in den sie immer wieder neu hineinkommen, prägt dort einfach den Alltag.

Es ist vielleicht ganz anschaulich, wenn ich den Fall des allerersten Patienten schildere, den ich im Justizvollzug hatte. Dieser junge Mann ist mir vorgestellt worden, nachdem aufgefallen war, dass er sich komplett mit Toilettenpapier eingewickelt hatte. Dazu hatte er angegeben, das habe er gemacht, um seine Schatten zusammenzuhalten. Damit war ein solcher Punkt der Auffälligkeit erreicht, dass er vorgestellt wurde. Bei genauerem Hinsehen stellte man fest, dass das einen Vorlauf von vielen Wochen hatte, in denen er sich zurückgezogen hatte und nicht mehr in die Freistunde gegangen war. Lange Zeit hatte das aber niemanden gestört. Im Gegenteil! Er war ruhiger geworden als vorher. Das war eher praktisch. Erst als dieser Punkt überschritten war, kam der Psychiater ins Spiel.

Ein anderes Beispiel: Der letzte Patient, den ich am vergangenen Donnerstag gesehen habe ­ er ist auch längere Zeit im Justizvollzugskrankenhaus behandelt worden; der Kollege und ich haben auf der Hinfahrt darüber gesprochen ­, war mit dramatischen Suizidversuchen in Erscheinung getreten. Eine Körperhälfte war völlig mit Verbrennungsnarben bedeckt. Eine große Narbe zog sich von links nach rechts über den Bauch. Sie rührte daher, dass er auch einmal versucht hatte, sich im Harakiri-Stil umzubringen. Dieser Patient hielt durch diesen Umgang mit sich selbst seine Umgebung in Schach. Er hat enorme Kräfte gebunden, weil alle immer alarmiert waren und achtgaben, dass ihm auch ja nichts passiert. Er hatte seine Mechanismen und suchte sich bestimmte Lieblingsleute heraus. Mit denen lief es dann prima, während es mit anderen umso schlechter ging. In Bezug auf diesen Patienten entstand also unheimlich viel Aufregung und Ressourcenbindung ­ und gleichzeitig schrecklich viel Hilflosigkeit unter den Menschen, die alltäglich mit ihm zu tun hatten und dem eigentlich gar nicht gewachsen waren.

Ein Anlasspunkt für den hier vorliegenden Antrag war wohl auch der Anstieg bei den Suizidfällen. In der Praxis werden in den Justizvollzugsanstalten an dieser Stelle eine Menge effektive Maßnahmen ergriffen. Sie stehen aber eigentlich alle unter dem Vorzeichen restriktive Maßnahme. Wenn deutlich wird, dass jemand suizidal gefährdet ist, finden typische Stufen statt: Entzug aller gefährlichen Gegenstände; Gemeinschaftsunterbringung; ab einem bestimmten Grad der Suizidalität kommt der Betroffene in den besonders gesicherten Haftraum. Das ist ein gekachelter Raum mit zwei schweren Türen, einem Loch in der Ecke als Toilette und einer Kamera oben.

Mehr passiert erst einmal nicht. Das ist total effektiv. Der Mensch wird sich in diesem Raum nicht umbringen. Mir ist kein Fall bekannt, in dem jemand im besonders gesicherten Haftraum Suizid begangen hätte. Es ist aber natürlich eine totale Sackgasse.

Der Weg aus dieser Sackgasse ­ aus diesem Gefühl von Ohnmacht, von Perspektivlosigkeit, von Beschämung ­ heraus geht nur über Beziehungsarbeit. Das muss man erstens können, und zweitens muss man die Menschen haben, die sich darauf einlassen können, damit dieser Rückweg funktioniert.

Gestatten Sie mir eine winzige Anmerkung. In dem Antrag ist noch der Begriff Selbstmord verwendet worden. Diese Formulierung war früher üblich. Im psychiatrischen Kontext hat man sich darauf geeinigt, eher Begriffe wie zum Beispiel Suizid oder Selbsttötung zu verwenden, weil beim Wort Mord ­ die Juristen unter Ihnen wissen das ­ eher niederträchtige Assoziationen mitschwingen, die man hier auf jeden Fall vermeiden sollte.

In Bethel führen wir auch forensische Nachsorge für Maßregelvollzugspatienten durch. In den letzten Jahren haben wir dabei die ganz eindeutige Erfahrung gemacht, dass eine vernünftige Nachsorge hilft ­ wenn auch nicht in allen Fällen ­, Rückfälle zu vermeiden. Der Maßregelvollzug geht da mit gutem Beispiel voran. Dort ist man finanziell erheblich besser ausgestattet und kann Dinge ausprobieren. Mittlerweile kann aber auch keiner mehr sagen, er habe es nicht gewusst. Wenn man eine gute Nachsorge betreibt, kann man etwa ein Drittel aller Rückfälle vermeiden. Das ist ja schon einmal ein Wort. Verglichen mit diesem Effekt ist die Nachsorge gar nicht so enorm aufwendig. Bei den Justizvollzugsanstalten ist er im Moment aber noch praktisch gleich null. Wenn man dort eine effektive Nachsorge installieren würde, könnte man mittelfristig dafür sorgen, dass ganz viele Menschen mit psychischen Störungen nicht wieder in Haft kommen, und damit viel Gutes tun.

Neben den wirklich schweren Fällen haben wir auch ein Heer von Kleinkriminellen, bei denen man sich fragt, ob sie wirklich zu Recht inhaftiert sind. Ich denke zum Beispiel an folgenden Fall: Jemand ist zum x-ten Male wegen Schwarzfahrens in Haft.

Natürlich wurde er nicht sofort zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Zuerst kam ein Strafbefehl. Darum hat er sich aber nicht gekümmert, weil er das alles mit seiner Schizophrenie nicht geregelt kriegt. Irgendwann kommt dann eine Automatik in Gang, und er wird inhaftiert. Wenn man ihn nach dem Hintergrund fragt, erwidert er: Ach, Herr Doktor, die Unruhe! ­ In seiner psychotischen Unruhe zieht er auch von Ort zu Ort. Das verhindert, dass irgendwo einmal eine Betreuung eingerichtet wird.

Deshalb hatte dieser Mensch schon Jahre seines Lebens in Haft verbracht, obwohl er eigentlich nie mehr gemacht hat, als schwarz mit der Deutschen Bahn zu fahren.

Wenn man sich dann überlegt, wie viel ein Haftplatz kostet und wie viel eine Dauerkarte für die Deutsche Bahn kosten würde, weiß man, dass Gutes nicht immer teuer sein muss.

Wir müssen aufpassen, dass wir nicht ausschließlich auf diejenigen achten, die mit Dramatik und ganz laut in Erscheinung treten. Aus der Politik wissen Sie vermutlich auch, dass der Lauteste nicht unbedingt die tiefste Substanz hat. Wenn wir uns im Justizvollzug um diejenigen kümmern, die ganz besonders auffällig werden, besteht die Gefahr, Menschen zu übersehen, die es vielleicht noch viel dringender nötig hätten. Menschen, die sich mit einer Depression, mit einer posttraumatischen Belastungsstörung, mit einem schizophrenen Autismus zurückziehen ­ wie der Patient in meinem ersten Beispiel ­, werden manchmal über lange Zeit übersehen; denn jemand, der sich schizophren zurückzieht und in keine Freistunde geht, stört nicht weiter. Vielleicht ist man eine Weile sogar ganz froh darüber. Wenn die Haft irgendwann zu Ende ist, wird der Rückweg aber unendlich viel schwerer. Darum muss früher interveniert werden.

Psychisch kranke Menschen, ob nun persönlichkeitsgestört oder schizophren, erkennen oft nicht, dass sie gestört und krank sind. Deshalb ist es notwendig, überhaupt erst einmal eine Basis herzustellen, auf der man sich einigen kann, worum es denn in einer Behandlung gehen könnte. Diese Menschen haben eher den Eindruck, die ganze Welt sei verrückt, aber sie doch nicht. Bei diesen Menschen individuelle Behandlungsziele und Therapieziele zu erreichen, ist in der Regel dann möglich, wenn für sie dabei ein unmittelbarer Erfolg herausspringt. Im Rahmen der Suchtbehandlung schafft man es oft über § 35 Therapie statt Strafe, dass sie sich auf eine Behandlung einlassen. Die Erfolgsquoten sind dort zwar nicht beeindruckend; es ist aber für viele Menschen ein Weg. Etwas Vergleichbares fehlt im Bereich der Psychiatrie. Das ist schade. Wenn man den Betroffenen das Angebot machen könnte, am Ende der Haftzeit einen Rest der Strafe zur Bewährung auszusetzen, wenn sie sich auf eine vernünftige Behandlung einlassen ­ was im Grunde mit der Regelung des § 35 vergleichbar ist ­, wäre nach meiner Einschätzung vielen weiteren Menschen wirklich zu helfen.

Im Übrigen ist es ein Trugschluss, zu glauben, psychisch kranken Menschen allein mit guten Medikamenten wirklich helfen zu können. Der Patient, der mit dem Toilettenpapier in Erscheinung getreten war, hatte 23 Stunden am Tag in seiner Zelle gesessen. Die wenige Arbeit, die es gibt, geht natürlich an diesen Menschen vorbei,