Krankenpflege

Es gibt zwar einige wenige Beschäftigungsplätze; für die betreffenden Menschen ist das aber viel zu wenig. Er saß also 23 Stunden in seiner Zelle herum. Man darf sich nicht einbilden, dass er allein dadurch, dass man ihm gute, teuerste und modernste Medikamente gibt, aus seinem versponnenen Wahnsystem herauskommt. Dazu bedarf es einer Absprache und der Möglichkeit, irgendetwas zu tun.

Wenn man zum Beispiel im Rahmen einer Ergotherapie beispielsweise montags, mittwochs und freitags vormittags eine Beschäftigungsmöglichkeit anbieten würde, gäbe es für die Menschen einen Grund, aufzustehen und wieder mit anderen in Kontakt zu kommen. Dann wäre auch ganz viel an Diagnostik möglich. In unserer Klinik hilft oft nicht ein einziges Gespräch. Wenn jemand ganz merkwürdig ist und irgendwelche bizarren Vorstellungen hat, muss ich ihn mehrfach bestellen. Eine psychiatrische Vorstellung ist relativ teuer. Eine Ergotherapeutin, die zwei Stunden mit ihm gearbeitet hat, könnte mir möglicherweise sofort sagen: Dieser Mensch hat sein Werkstück vollkommen konfus angefangen. Das kenne ich. Er hat mit psychotischen Denkstörungen zu tun. ­ Wenn man diese qualifizierte Beschäftigungstherapie einführen würde, wäre mit relativ bescheidenen Mitteln unglaublich viel an Diagnostik und Therapie möglich.

Wir haben auch einige andere gute Ansätze. Zum Beispiel ist es auf dem Standard gesetzlich Krankenversicherter ambulant auch möglich, häusliche Krankenpflege zu bestellen. Wir haben eine Krankenpflege-Fachkraft gewonnen, die regelmäßig in die Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Brackwede I kommt. Das ist zwar ein Tropfen auf den heißen Stein; es ist aber ein Beispiel dafür, wie es gehen kann. Manchmal ist es ja gar nicht notwendig, dass ein Patient dauernd ärztlich vorgestellt wird. Wenn eine solche Krankenpflege-Fachkraft einmal pro Woche mit ihm spricht, kann sie ein Entlastungsventil bieten und bekommt mit, wann er wieder in seine Psychose abzurutschen droht. Würde man die Möglichkeiten der ambulanten Versorgung nutzen, die außerhalb bestehen, wäre schon sehr viel getan.

Würden wir diese Möglichkeiten nutzen, müssten wir den stationären Bereich auch sehr viel weniger belasten. Im Rahmen der sozialpsychiatrischen Entwicklung haben wir ja die Erfahrung gemacht, dass es zwar für einige hilfreich ist, den Schwerpunkt auf die stationäre Versorgung in Großkrankenhäusern zu legen, dass das aber nicht generell der Weg sein kann. Bei den Größenordnungen, mit denen wir es hier zu tun haben, hängt der Gesamterfolg auch nicht davon ab, ob wir in Fröndenberg 30 oder 50 vollstationäre Plätze haben. Letztlich geht es doch um die Versorgung von Hunderten oder, wenn wir die Suchtkrankheiten und Persönlichkeitsstörungen mit einbeziehen, Tausenden von Menschen. Es kann eine Entlastung sein, wenn ein Patient einige Wochen in Fröndenberg ist. Die meisten Menschen sind aber chronisch krank.

Nach ihrem Aufenthalt in Fröndenberg müssen sie häufig noch einige Jahre Haft verbüßen. Da muss ein Umgang gefunden werden. Deshalb lautet mein deutliches Votum, die Versorgung vor Ort zu stärken.

Dr. Jens Wittfoot (JVA Hannover, Fachbereich Medizin): Da ich der einzige in Niedersachsen Tätige bin, der heute eingeladen ist, will ich eingangs kurz die nieder sächsische Situation schildern. Ich selber arbeite seit September 2001 als Psychiater und Psychotherapeut in einer Krankenstation der JVA Hannover, die in den zur psychiatrischen Krankenstation entwickelt worden ist ­ damals noch mit der Überlegung, man bräuchte eine Vorschalteinrichtung, damit Einweisungen von Gefangenen in psychiatrische Krankenhäuser besser gesteuert werden könnten. Das war ein wenig durchdachter Ansatz, der auch nicht getragen hat. Natürlich ist sehr schnell deutlich geworden, dass es tatsächlich darum geht, Menschen zu behandeln.

Als ich im Jahr 2001 dort angefangen habe, haben wir mit den maximal 16 effektiven Behandlungsplätzen, über die wir verfügen, das ganze Land Niedersachsen mit 6.500 Gefangenen versorgt. Im Laufe der Zeit sind zwei weitere Standorte dazugekommen, und zwar in Sehnde und in Lingen. Insgesamt verfügen wir jetzt über 40 Behandlungsplätze ­ in etwa nach dem Modell der Krankenstation der JVA Hannover organisiert ­ und damit über drei hauptamtliche Psychiater, die auch überwiegend dafür zuständig sind.

Wir haben die wohl ganz typische Erfahrung gemacht, dass es nach beiden Neueröffnungen zu keiner Entlastung kam. Vielmehr war die betreffende Krankenstation in beiden Fällen auch sehr schnell voll. Dann wurde deutlich, dass wir uns immer noch an der Spitze des Eisbergs bewegen. Das heißt: Auch mit diesen 40 Plätzen können wir den Bedarf, über den wir wissenschaftlich gesehen jetzt auch einiges mehr wissen, selbstverständlich gar nicht decken.

Wir brauchen also mehr. Ähnlich wie Herr von Schönfeld bin ich aber der Meinung, dass es nicht alleine nützen würde, eher zentralisierte Krankenstationen oder Krankenhausabteilungen weiter auszubauen. Vielmehr müssen wir mehr Behandlung vor Ort machen. Die niedersächsische Differenzierung der drei Stationen in drei Regionen ist schon ein Schritt in die richtige Richtung. Er reicht natürlich nicht aus. Wenn ich mir etwas wünschen könnte, würde ich mir beispielsweise wünschen, dass es eine spezielle Behandlungseinheit für den Jugendvollzug, eine spezielle Behandlungseinheit für den Frauenvollzug und einiges mehr gibt. Im Idealfall würde man chronisch kranke Gefangene auch dort behandeln, wo man sie am Ende aus der Haft entlassen wird, wo Kontakte zu den Angehörigen herstellbar sind, sodass die Angehörigen draußen in die Behandlung einbezogen werden können, und wo sie auch eine vernünftige Vollzugsplanung durchlaufen können, die eben nicht durch eine ausgelagerte Behandlung unterbrochen wird.

Unabhängig von der Notwendigkeit, in angemessenem Umfang stationäre Behandlungsplätze zu schaffen, sehe ich ­ auch wieder ähnlich wie Herr von Schönfeld ­ einen großen Bedarf in Bezug auf die Behandlung vor Ort. Wir brauchen natürlich mehr Fachkräfte. Für die Behandlung so schwieriger Patienten, wie psychisch kranke Gefangene das nun einmal sind, brauchen wir selbstverständlich mehr Fachärzte.

Wir brauchen auch mehr Psychologen. Diese Psychologen müssen wir aber auch bei der Behandlung psychisch kranker Gefangener einsetzen können. Das heißt, dass sie dazu qualifiziert sein müssen. Es reicht eben nicht, dass jemand Psychologie studiert hat. Vielmehr bedarf er auch einer psychotherapeutischen Qualifikation oder muss zumindest auf dem Wege dorthin sein. Wir brauchen aber auch andere Be rufsgruppen. Selbstverständlich benötigen wir fachlich weitergebildetes Krankenpflegepersonal, Ergotherapeuten und Sozialarbeiter.

Neben dem Personal müssen auch die notwendigen Strukturen vorhanden sein, um psychisch kranke Gefangene überhaupt integrieren zu können, so wie das in der Gesellschaft draußen auch versucht wird. Das bedeutet, dass wir tagesstrukturierende Angebote benötigen. Wir brauchen Beschäftigungsmöglichkeiten. Dazu zählen auch Freizeitangebote und Sportangebote. Diese Gefangenen sind besonders darauf angewiesen, dass sie angeleitet werden. Das ist hinter den Gittern nicht anders als davor.

Einige Worte zum Thema Suizid: Ich finde die Zahlen nach wie vor erschreckend. Da ist die nordrhein-westfälische Situation nicht anders als die niedersächsische. Im niedersächsischen Justizvollzug bringt sich im Schnitt etwa alle acht Wochen ein Gefangener um. Da das sehr verteilt passiert, sieht man es natürlich nicht so zusammengefasst. Man kann aber immer nachhalten, dass das so ist.

(Christian Möbius [CDU]: Wie viele Haftplätze hat Niedersachsen?)

­ In Niedersachsen gibt es etwa 6.500 Gefangene. Das ist die letzte offizielle Zahl.

(Frank Sichau [SPD]: Ein Drittel so viel wie in Nordrhein-Westfalen!)

Ich denke schon, dass die Zahl der Suizidopfer verringert werden kann. Das in diesem Zusammenhang entscheidende Schlagwort ist die Professionalisierung. Außerhalb von Gefängnissen ist es eigentlich nicht denkbar, dass ein tatsächlich als suizidgefährdet einzuschätzender psychisch auffälliger Mensch nicht innerhalb kurzer Frist einem Facharzt für Psychiatrie vorgestellt wird. In unseren Gefängnissen ist das alles andere als selbstverständlich. Dort wird Suizidprophylaxe wenig nach den fachlichen Standards betrieben, die psychiatrische Krankenhäuser dafür entwickelt haben. Genau diese Standards wären bei einer Frage, bei der es letztendlich um Leben und Tod geht, aber anzuwenden.

Gestatten Sie mir eine letzte Bemerkung. Bei der Forderung nach einer Erweiterung des Fortbildungsangebotes für den Allgemeinen Vollzugsdienst handelt es sich um eine der wichtigsten Forderungen, die man in diesem Zusammenhang überhaupt aufstellen kann. Der Allgemeine Vollzugsdienst trifft auf eine große Zahl psychisch kranker Gefangener, bemerkt auch, dass sie psychisch krank und auffällig sind, ist aber in keiner Weise darauf vorbereitet, damit umzugehen. Eine Befassung mit diesem Thema ist sowohl während der Ausbildung als auch danach in Form von regelmäßigen Weiterbildungen, begleitet von einer gewissen Supervision, schlicht und einfach unerlässlich, wenn man Tag für Tag mit diesen sehr schwierigen Menschen arbeiten muss.

Vorsitzender Dr. Robert Orth: Ich danke Ihnen herzlich für Ihre einführenden Statements. ­ Jetzt kommen wir zu der Frage- und Antwortrunde.