Carmen Tietjen DGB Herr Vorsitzender Manchmal ist es von Vorteil wenn man schon ein wenig älter ist

Das kann nicht mehr mit Zuverdiensten erklärt werden: seien es Hausfrauen, die in Minijobs arbeiten, seien es Rentner und Rentnerinnen oder Studentinnen und Studenten. Wir müssen auf jeden Fall eine Lohnuntergrenze einziehen, die es nicht mehr möglich macht, scheinbar auf einem Markt durchsetzbare Löhne, die nichts mehr mit Würde, mit Wert von Arbeit zu tun haben, zu realisieren. In der Diskussion nachher kann ich noch andere Beispiele aufführen.

Carmen Tietjen (DGB): Herr Vorsitzender! Manchmal ist es von Vorteil, wenn man schon ein wenig älter ist. Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, als es völlig normal war, dass die Menschen ein festes Beschäftigungsverhältnis hatten, dass man nach der Ausbildung in der gleichen Firma geblieben ist und dort bis zum Ruhestand 40, vielleicht 45 Jahre tätig war.

Die festen Bahnen, auf die man sich damals einlassen konnte, existieren nicht mehr.

Mittlerweile gibt es ganz verschiedene Routen, auf denen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen unterwegs sind. Sie müssen auch vielfach einen Spurwechsel vornehmen. Selbst wenn die Menschen noch so flexibel, noch so beweglich sind, ist nicht mehr sichergestellt, dass sie einen existenzsichernden Verdienst bekommen, da die Arbeitgeber nicht immer bereit sind, solche Löhne zu zahlen. Sie treten zunehmend aus den Arbeitgeberverbänden aus. In Westdeutschland sind nur noch 65 % der Beschäftigten in einer Tarifbindung.

Eine weitere wesentliche Ursache dafür, dass sich der Niedriglohnsektor in den letzten Jahren so stark ausgebreitet hat, hängt mit der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit zusammen, aber auch mit der Einführung der sogenannten Hartz-Gesetze, die das gesamte Lohnniveau massiv unter Druck gesetzt haben. So muss zum Beispiel ein Arbeitsloser mittlerweile jeden Job bis zur Grenze der Sittenwidrigkeit annehmen.

Diese Jobs werden teilweise bis zu 30 % unter dem Tarifniveau entlohnt. Auch die Anzahl der Menschen, die befristet geringfügig über Entleiharbeit beschäftigt sind, ist in den letzten Jahren enorm gestiegen.

In Nordrhein-Westfalen liegt mittlerweile ein Drittel aller Beschäftigungsverhältnisse aller Erwerbstätigen im atypischen Bereich. Das ist unheimlich viel. All diese Entwicklungen sind häufig erst durch den Gesetzgeber ermöglicht worden. Meine sehr geehrten Damen und Herren, können Sie sich wirklich vorstellen, was es bedeutet, mit einem Verdienst von 7 als Servicekraft in einer Autobahnraststätte auskommen zu müssen, als Leiharbeitskraft für 5,60 in der Stunde Regale einräumen zu müssen, wie es ist, wenn der Lohn kommt und gleich schon wieder weg ist, wenn man auf Dinge verzichten muss, die man sich früher einmal erlauben konnte, was für ein Druck entsteht, wenn zu Hause das Geld fehlt? Ich kann es mir nicht vorstellen, weiß aber, weil die betroffenen Menschen zu uns kommen, dass es ihnen vielfach um die nackte Existenzsicherung geht.

Ich finde ­ das ist heute schon ein paar Mal angeklungen ­, dass es selbstverständlich sein muss, dass ein Mensch, der vollzeitig erwerbstätig ist, davon auch leben kann. Das ist mit Niedriglöhnen nicht möglich. Die Höhe der Vergütung hat auch etwas mit der Anerkennung von Arbeit zu tun. Niedriglöhne stehen nicht dafür. Wir wol len auch nicht, dass der Staat durch aufstockende Sozialleistungen dauerhaft in die Pflicht genommen wird, die originär beim Arbeitgeber liegt.

Niedrige Löhne haben Auswirkungen auf die soziale Sicherung im Alter. Arm trotz Arbeit bedeutet: Heute arm, morgen als Rentnerin oder Rentner ebenfalls arm. Damit wird Armut ein Leben lang zementiert. Das muss durchbrochen werden.

Es ist unbedingt notwendig, dass die sogenannten Minijobs sozialversicherungspflichtig werden. Wir wollen, dass Mindestlöhne bei uns eingeführt werden, dass eine Grenze von zum Beispiel 7,50 gezogen wird, unter die niemand fallen darf.

Vorsitzender Günter Garbrecht: Herzlichen Dank. ­ Die Diskussionsrunde macht Frau Kollegin Steffens auf.

Barbara Steffens (GRÜNE): Herr Dr. Schäfer, da wir Ihre Stellungnahme erst kurzfristig bekommen haben, habe ich dazu keine Fragen. Ich bitte Sie aber, bei meinen Fragen an andere darauf zu achten, zu welchen Punkten Sie speziell aus Ihrer Sicht noch etwas beizutragen haben.

Mein erste Frage, Frau Tietjen: In Ihrer Stellungnahme erwähnen Sie Frankreich als ein Land, in dem gesetzliche Regulierungen gegen atypische Beschäftigung vorhanden sind. Welche davon halten Sie für sinnvoll, sie auch in unserem System zu verankern?

Zweitens. Wenn wir über Auslagerungen von Normalarbeitsverhältnissen in atypische Beschäftigung reden, dann ist es immer schön, das im politischen Raum zu tun.

Der politische Raum ist aber auch Arbeitgeber. Liegen Ihnen Zahlen vor, inwieweit auch im öffentlichen Sektor ­ Land, Kommunen, öffentliche Unternehmen, Bund ­ aus Normalarbeitsverhältnissen ausgestiegen wird und der Einstieg in atypische Beschäftigung stattfindet? Das bekommen wir an verschiedenen Stellen immer wieder mit, es ist aber nicht in Größen verifizierbar.

Frau Tschaut, in Ihrer Stellungnahme gehen Sie auf sittenwidrige Löhne ein. Das Beispiel war und ist ziemlich deutlich. Dabei fällt auf, dass einzelne Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer dagegen klagen und Recht bekommen, die Unternehmen dann für diese Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer etwas ändern, aber nicht generell für sämtliche Beschäftigten. Das heißt, so etwas wie ein allgemeinverbindliches Urteil haben wir nicht. Sehen Sie ein Instrument, mit dem man dies einziehen könnte? Welche gesetzlichen Regelungen bräuchten wir, damit nicht einem Arbeitnehmer oder einer Arbeitnehmerin mehr zahlt und sie kurz darauf entlässt, sondern die Entlohnung grundsätzlich entgegen dieser sittenwidrigen Praxis umstellen müsste?

Frau Dr. Weinkopf, die erste Frage an Sie: Sie haben von einer Reihe von Maßnahmen gesprochen, die notwendig sind, um die hohe Niedriglohnquote zu senken.

Wichtigstes Instrument, das Sie benennen, ist der gesetzliche Mindestlohn. Es gibt auch im Landtag immer wieder die Diskussion über branchenspezifische oder allgemeinverbindliche Mindestlöhne. Warum glauben Sie, dass eine branchenbezogene Regelung das Problem nicht lösen würde? Zweitens. Mittlerweile wird immer mehr aus den Normalarbeitsverhältnissen ausgestiegen, was zu einer Sogwirkung hinein in den Niedriglohn führt. Welche Instrumente könnten wir hier einziehen, um dieser Sogwirkung entgegenzutreten? Wie müsste eine grundlegende Reform ­ Sie haben auch angemahnt, dass wir zu wenig auf die Minijobs eingehen ­ bezogen auf die Minijobs aussehen?

Herr Bauer, zum Ersten: Sie haben eben gesagt, man müsste den Übergang von den atypischen Verhältnissen in die Normalarbeitsverhältnisse verändern, weil sie die Brückenfunktion, die immer wieder beschworen worden ist, nicht haben. Welche arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen könnte man hier einziehen, um aus den atypischen Verhältnissen wieder in reguläre Beschäftigungsverhältnisse hineinzukommen? Sehen Sie geeignete Instrumente dafür? Denn die Diskussion um die Arbeitsmarktinstrumente läuft immer wieder sehr konträr.

Zum Zweiten: Wir haben nicht nur eine hohe Anzahl von befristeten Beschäftigungsverhältnissen; auch die Anzahl von Befristungen bei Neueinstellungen steigt. Das heißt, das Normalarbeitsverhältnis wird mehr und mehr die Ausnahme. Welche Ursachen hat das? Gibt es aus Ihrer Sicht Instrumente, um etwas gegen die Befristung von Arbeitsverhältnissen zu unternehmen?

Zum Dritten sind Sie nicht auf den Zusammenhang mit den Aufstockern eingegangen, wie ich das von Ihnen in Ihrer Funktion als Sprecher der BA erwartet hätte. Wir haben einen stetigen Zuwachs an Aufstockern und Aufstockerinnen in Beschäftigung. In NRW sind es im Moment 27 % der Bedarfsgemeinschaften mit anrechenbarem Einkommen; die Spitze bildet Warendorf mit 32,3 %. Welche Ursachen liegen in diesem Anstieg, und wie kann man da gegensteuern?

Rainer Schmeltzer (SPD): Die einzelnen Stellungnahmen machen deutlich, dass Übereinstimmung darin besteht, dass sich einiges ändern muss. Denn all das, worüber wir hier reden ­ prekäre Beschäftigung, Niedriglohnbereich ­, hat auch etwas mit der Würde des Menschen zu tun. Es geht darum ­ Frau Tschaut hat es eben angesprochen ­, dass die Menschen von dem Einkommen, das sie erarbeiten, auch leben können.

Sehr interessant ist ein Hinweis ­ ich will mit dem Thema Mindestlohn anfangen, zu dem eine recht eindeutige Meinung bei den Fachleuten herrscht ­, der sich in mehreren Stellungnahmen wiedergefunden hat, nämlich auf die Gefahr von sektoralen und regionalen Lohnunterschieden. An anderer Stelle ist darauf hingewiesen worden, dass die Diskussion auch dahin führt, dass es branchenbezogene bzw. regionale Mindestlöhne geben soll. Ich kann mich an Diskussionen hier im Hause erinnern, in denen der Arbeitsminister gerade vor regionalen Mindestlöhnen gewarnt hat, wenn er zum Beispiel Gütersloh mit Düsseldorf verglichen hat, dabei aber auch außer Acht gelassen hat, dass wir eine hohe Anzahl von Pendlern haben, die zwar vielleicht nicht gerade zwischen Gütersloh und Düsseldorf, aber in ähnlichen Strukturen unterwegs sind. Teilen Sie die Meinung, dass regionale Mindestlöhne oder regionale Regelungen ausreichend sind ­ ich fände das sehr positiv ­, oder inwiefern begründen Sie, dass es einen einheitlichen Mindestlohn geben muss, wie er auch in breiten Teilen gefordert wird?