Vorsorge

­ Ich empfehle Ihnen, das Lancet vom Januar zu lesen: Da stehen Deutschland und Rumänien an einer Stelle. In Deutschland gibt es 2.500 Masernfälle in einem Jahr ­ in Finnland keinen Fall, in den Niederlanden zwei Fälle, in Frankreich 44. Falls Sie denken, das ist Schnee von gestern, empfehle ich Ihnen, Die Süddeutsche Zeitung von gestern zu lesen. In Hamburg hat es in diesem Jahr über 100 Masernfälle gegeben. Da fasst man sich als Arzt an den Kopf. In anderen Ländern ist das weg. Wenn wir jetzt in Anbetracht aller korrekten Daten die Impfung zurückziehen, weil sie zu sehr kommerzialisiert wird, dann wird alles andere mit herunterrutschen. Und das wird für uns eine Katastrophe.

Dr. Ute Sonntag (Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen e. V. / Nationales Netzwerk Frauen und Gesundheit): Herr Vorsitzender! Meine Damen und Herren! Vielen Dank, dass ich hierher eingeladen wurde.

Ich möchte nach dem vehementen Statement meines Vorredners betonen, dass es das Recht jedes Mädchens, aller Eltern, jeder Frau ist, eine persönliche Entscheidung zur Impfung ­ ja oder nein ­ zu treffen, und dass wir dafür Sorge zu tragen haben, dass eine informierte Entscheidung auf möglichst ausgewogener, evidenzbasierter, qualitätsgesicherter Informationslage möglich wird.

Dazu hat das Nationale Netzwerk Frauen und Gesundheit ­ von der Vertreterin der BARMER bereits angesprochen ­ eine Broschüre erstellt. Wir haben das ­ das ist ein Novum ­ ausführlich von gesunden Frauen evaluieren lassen. Das heißt, wir verfügen über ein Hintergrundwissen, wie eine Broschüre gemacht sein muss, damit sie von Frauen verstanden, für gut befunden, zu Ende gelesen wird. Es sind ja 50 Seiten. Ich kann bei Bedarf gerne noch darauf eingehen, möchte das in meinem Eingangsstatement aber nicht vertiefen.

Ein zweiter Aspekt: Informationen über HPV-Impfungen sollten nicht im Zusammenhang mit anderen Impfungen kurz und knapp mitgeteilt werden, sondern müssten diskutiert und auch im Zusammenhang mit der Problematik der Gebärmutterhalskrebsfrüherkennung an die Frau gebracht werden.

Die Informationsbereitstellung hat einen ganz hohen Stellenwert. In Niedersachsen hat der Runde Tisch für Frauen- und Mädchengesundheit der Region Hannover ein Informationspaket entwickelt: mit einem Standardvortrag, mit der Broschüre der BARMER und der TK sowie weiteren Informationen. Wir veranstalten Schulungen möglicher Organisationen und Institutionen, die Informationsveranstaltungen dezentral, vor Ort, in den Kommunen, in verschiedenen Initiativen, in Stadtteilen für Eltern und für Mädchen durchführen können, und haben mittlerweile Erfahrungen damit gesammelt. Auch dazu kann ich gerne noch berichten. Hintersinn ist, sicherzustellen, dass überall vor Ort ausgewogene qualitätsgesicherte Informationsveranstaltungen stattfinden.

Ein Drittes zum Abschluss: Großer Informationsbedarf besteht besonders bei den Mädchen. Es gibt noch viel zu wenig gute Informationen. In Nordrhein-Westfalen gibt es aber schon ein Projekt, das sehr wichtig ist. Seit Dezember 2008 existiert das Projekt Mädchen und selbstbestimmte Gesundheit vom feministischen Frauengesundheitszentrum Hagazussa ­ von der ARD-Fernsehlotterie gefördert, auf drei Jahre angelegt ­, mit dem Mädchen über die HPV-Impfung umfassend aufgeklärt werden. Es gibt Workshops, es gibt Mädchensprechstunden. Das Projekt geht besonders in sozial benachteiligte Viertel. Es wäre zu wünschen, dass diese Projektarbeit nach den drei Jahren auch aus Landesmitteln weiter gefördert wird, weil uns das Problem, Mädchen zu informieren, nach den drei Jahren nicht verlässt.

Prof. Dr. Peter Hillemanns (Deutsche Krebsgesellschaft e. V.): Sehr geehrter Herr Vorsitzender! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Deutsche Krebsgesellschaft hat einen Schwerpunkt in der Behandlung, Diagnostik, Therapie der invasiven Karzinome. Wir haben aber auch einen Schwerpunkt Prävention. Die Deutsche Krebsgesellschaft sieht die Prävention als einen der elementaren und bedeutsamsten Schritte innerhalb der deutschen Behandlung und der deutschen Therapie an.

Die Prävention fußt im Bereich des Gebärmutterhalskrebses vorwiegend auf der sekundären Prävention. Die sekundäre Prävention hat mit Einführung der Krebsvorsorge in den 70er-Jahren zu einer Halbierung der Zahl der Gebärmutterhalskrebsfälle geführt. Wir haben in Deutschland aber weiterhin noch 6.200 Fälle von invasivem Gebärmutterhalskrebs. Damit liegen wir innerhalb von Westeuropa leider Gottes an zweiter oder dritter Stelle. Dies bedeutet, dass die bisherige Krebsvorsorge nicht adäquat funktioniert. Im Gegensatz zu anderen Ländern, in denen eine organisierte Krebsfrüherkennung stattfindet, ist die Krebsvorsorge in Deutschland nicht strukturiert und nicht gut organisiert. Hier besteht erheblicher Verbesserungsbedarf.

Besser ist allerdings die primäre Prävention, also die Verhütung einer HPV-Infektion.

Der Beginn ist die HPV-Impfung mit Verhinderung der beiden Hochrisiko-HPVTypen 16 und 18. Aber die Geschichte wird weitergehen: Es geht in Richtung eines Achtfach- oder Neunfachimpfstoffes. Wir bewegen uns hier auf einer vor Jahren noch nicht vorstellbaren Leiter. Eines Tages wird es tatsächlich möglich sein, die wesentlichen Hochrisiko-HPV-Viren zu verhindern und damit nicht nur 50, 60, 70 % ­ über die Zahlen möchten wir gar nicht streiten ­ der potenziellen Gebärmutterhalskrebsfälle zu verhindern, sondern wahrscheinlich eine Größenordnung von 90 % und mehr.

Das muss man vor Augen haben.

Die derzeitige Datenlage ist so überzeugend, dass fast alle Länder weltweit diesen Impfstoff unmittelbar und zügig in den normalen Verfahren zugelassen haben. Dies bedeutet, dass wir dann auch hier in Deutschland einen von der EMEA und anderen Behörden zugelassenen Impfstoff zur Verfügung haben, der nicht nur bei diesen beiden Typen wirkungsvoll ist, sondern auch nebenwirkungsarm, weil er kein Lebendimpfstoff, sondern ein Totimpfstoff ist, der ein extrem niedriges Potenzial an Nebenwirkungen hat.

Von daher können wir nur noch einmal betonen, dass die primäre Prävention das Entscheidende ist. Dieser Weg der primären Prävention muss gefördert werden.

Der zweite wichtige Punkt ist die Informationspolitik. Es gibt in Deutschland leider Gottes keine strukturierte Impfung für Jugendliche im Alter zwischen 12 und 18 Jahren, es gibt keine Schulimpfungen. In Spanien und England beispielsweise gibt es Schulimpfungen, und das ist hochwirkungsvoll. Sie haben vorhin Daten zur Impfakzeptanz gehört, aus denen hervorgeht, dass diese weiter und weiter sinkt. Sie ist in Ostdeutschland deutlich besser als in Westdeutschland. Hier besteht erheblicher Nachholbedarf. Das betrifft nicht nur die HPV-Impfung. Aber die HPV-Impfung muss entsprechend propagiert werden, ansonsten wird sie nicht angenommen. Die niedergelassenen Gynäkologen, die Kinderärzte können nicht die Publicity erzielen, dass dies bekannt wird. Insofern ist die Öffentlichkeit hier im Zugzwang und muss aktiv werden.

Die Information darüber muss offen sein, aber nicht so offen, dass keine Entscheidung mehr gefällt werden kann. Das heißt, eine Tendenz zur Empfehlung muss natürlich eingearbeitet werden, ansonsten wird sich niemand überzeugen lassen, die Impfung durchzuführen.

Die gerade angesprochene Aufklärungsbroschüre der BARMER ist sicherlich ein sinnvoller Weg, der gegangen werden sollte. Es ist nur bedauerlich, dass hier keine der Fachgesellschaften wie die Deutsche Krebsgesellschaft, gynäkologische Organisationen und virologische Institutionen einbezogen worden sind. Das muss man als Kritik klar sagen. Es wäre sinnvoll, das Ganze auf eine breite Ebene zu stellen. Wir wären selbstverständlich bereit, daran konstruktiv mitzuarbeiten.

Da diese Broschüren an ein breites Spektrum verteilt werden, ist es notwendig, dass die Aufklärung substanziell stattfindet. Die Überbetonung von Risiken kann dazu führen, dass solche Impfungen nicht akzeptiert werden und die Vorsorge nicht in Anspruch genommen wird. Insofern muss man bei solchen Broschüren sehr darauf achten, welcher Effekt eintritt. Man muss gerade, wenn die Broschüren breit verteilt werden, darauf hinweisen, dass eine entsprechende Evaluierung stattfinden soll.

Um das Spektrum der Informationen zu optimieren: Auch vonseiten der Krebsgesellschaft in Nordrhein-Westfalen ist eine Broschüre aufgelegt worden.

Als Vizepräsident der Deutschen Krebsgesellschaft plädiere ich für eine gut angelegte Information auf Basis der hier verfügbaren Daten.

Vorsitzender Günter Garbrecht: Da die vorgegebenen Redezeiten von je drei Minuten exakt eingehalten wurden, bleibt noch genügend Raum für die Diskussion. Da dies nicht immer so ist, will ich das an dieser Stelle einmal lobend erwähnen.

Bitte sprechen Sie in der nun folgenden Fragerunde die Sachverständigen konkret an. Wir führen nachher noch eine allgemeine Schlussrunde durch. ­ Als Erste hat sich die Kollegin Steffens gemeldet.

Barbara Steffens (GRÜNE): Eine Anmerkung vorab: Es geht uns nicht um ein Verbot des Impfstoffs oder eine Rücknahme der Zulassung ­ das klang zwischendurch an ­, sondern darum.