Die schlechten Arbeitsbedingungen und die hohe Arbeitsbelastung werden auch durch zu wenig Personal verursacht

Jetzt müssen wir gemeinsam entscheiden: Was sind der Umgang mit Menschen und die Pflege wert? Sind sie uns weniger wert als ein Handwerk? Darauf brauchen wir eine gemeinsame Antwort.

Wir brauchen dringend ein Personalbemessungsverfahren. Die schlechten Arbeitsbedingungen und die hohe Arbeitsbelastung werden auch durch zu wenig Personal verursacht. Aber wenn die Politik entscheidet, dass es eine klare Personalbemessung gibt, die eingehalten werden muss, dann brauchen wir auch das Personal dafür. Damit sind wir bei der Frage der Ausbildung. Wie können wir junge Menschen begeistern, diese Berufe zu wählen?

Zur dramatischen Situation tragen auch Überstunden und lange Arbeitszeiten über das vereinbarte Maß hinaus bei, was die Belastungssituation natürlich erheblich verschärft. Die Flexibilität der Beschäftigten ist sehr stark gefragt. Es gibt zwar Dienstpläne; aber wir kennen viele Einrichtungen, in denen diese Dienstpläne nur auf dem Papier stehen, wo eine ganz andere Arbeitszeit gilt und in denen es das sogenannte „Holen aus dem Frei" gibt. Das heißt, die Kolleginnen und Kollegen haben dienstplanmäßig frei und bekommen trotzdem ständig Anrufe: Wir brauchen euch, kommt bitte arbeiten. ­ Das erschwert natürlich das Privatleben. Für Menschen mit Familie ­ wir alle wollen, dass es die noch gibt ­ sind solche Arbeitsbedingungen schwierig.

Auch das erhöht nicht gerade die Attraktivität des Pflegeberufes.

Zur besonderen gesundheitlichen Situation: Bekannt und statistisch auffällig ist, dass es einen hohen Krankenstand in diesen Berufen gibt. Darauf müsste ein Augenmerk gerichtet werden, denn das kommt nicht von ungefähr.

Die Ausbildungsumlage ­ sie wurde schon angesprochen ­ fordert ver.di seit Jahren.

Damit würde ein wichtiger Meilenstein erreicht, um mehr Ausbildungsplätze zu gewährleisten. Das ist eine wichtige Sache.

Prof. Christel Bienstein (Institut für Pflegewissenschaft, Universität Witten/Herdecke gGmbH): Ich werde nicht sehr viel zur demografischen Entwicklung und dazu sagen, wie sich der Personalnotstand darstellt; das zeichnet sich in ganz vielen Studien ab. Ich möchte vor allen Dingen auf die strukturellen Besonderheiten eingehen.

Wir wissen, dass es gerade in der Altenpflege und dort insbesondere in der Nachtwache eine völlige Überlastung gibt. Bei 60 alten Menschen, von denen sicher 30 % dekubitusgefährdet sind, schafft man es nicht mehr, regelmäßige Lagerungswechsel durchzuführen. ­ Das ist nur einer der Punkte, die vorhin schon angesprochen worden sind.

Es gibt auch eine deutliche Zunahme der Verantwortung, weil die pflegerische Versorgung der alten Menschen immer komplexer geworden ist. Wir haben es mit wesentlich mehr multimorbiden Patienten zu tun. Zum Vergleich: Vor zehn Jahren bestand diese Situation so noch nicht. Personen in der Altenpflege müssen heute eine hohe reflexive Kompetenz haben. Sie müssen evidenzbasiert arbeiten und schnell Entscheidungen treffen können. Man kann das nicht mehr auf die lange Bank schieben. Des Weiteren ­ das wurde vorhin schon angesprochen ­ ergeben die Daten der NEXT-Studie deutliche Rückkopplungen: 85 % der norwegischen Kollegen sind mit ihrer Arbeit zufrieden; bei uns in Deutschland beträgt dieser Wert nur noch 45 %.

Das hat auch sehr viel mit strukturellen Prozessen zu tun. Unsere Arbeitsverteilung und die Arbeitszeitregelungen sind absolut nicht familienfreundlich. Während man in den Niederlanden zum Beispiel nie vor fünf Uhr aufstehen muss, um zum Dienst zu gehen, ist das in Deutschland ganz anders. Hier gibt es immer noch mehr als 35 %, die regelmäßig vor fünf Uhr aufstehen müssen. Das hat etwas mit Managementaufgaben und nicht unbedingt mit Engpässen zu tun.

Darüber hinaus möchte ich noch darauf abheben, dass die negative Presse auch dazu beiträgt, dass diese Berufsgruppe nicht besonders positiv in der Allgemeinheit angesehen wird; das können wir nicht unberücksichtigt lassen. Gerade wurde wieder von Herrn Püschel darauf hingewiesen, dass sehr viele Patienten und alte Menschen verstorben seien, weil sie einen Dekubitus gehabt hätten. Oder man hat festgestellt, dass sie einen Dekubitus haben. Häufig gehen Presseberichte in eine solche Richtung.

Auch die Neuentwicklung der MDK-Begutachtung mit den 82 Items führt absolut nicht dazu, dass wir eine positive Rückkopplung zu der Arbeitsleistung haben, die die Altenpflegerinnen und Altenpfleger in den Einrichtungen erbringen. Dabei werden nur Struktur und Prozess und absolut kein Outcome geprüft, was im Grunde genommen überhaupt nichts bringt. Dieser Prozess muss dringend überarbeitet werden. Dann auch noch eine Heimbewertung vorzunehmen, bei der man Punktesysteme aufstellt, Noten vergibt und das in den Eingangsbereich hängt, wo Kollegen jeden Morgen vorbeigehen müssen, ohne eine Rückkopplung zu bekommen, was sie alles Hervorragendes leisten...

Das hat natürlich auch damit zu tun, was Frau Buresh gesagt hat. Zwei Kollegen, eine Journalistin und eine Pflegewissenschaftlerin aus den Staaten, Frau Gordon und Frau Buresh, haben Folgendes untersucht: Warum ist die Pflege so still? Warum berichtet sie nicht über das, was sie Gutes leistet? ­ Das heißt, wir brauchen Kollegen, die gezielt geschult werden müssen, um darüber zu berichten, was die Altenpflege Hervorragendes leistet. Das muss auf der Homepage stehen. Das muss in der Tagespresse stehen. Die Modelle müssen vorgestellt werden ­ und nicht nur das, was vielleicht nicht geklappt hat.

Weiterhin brauchen wir natürlich eine Durchlässigkeit in der beruflichen Ausbildung: von einer Assistenzfunktion bis hin zu einer Professur. Wir müssten auch in Nordrhein-Westfalen gerontopsychiatrische Pflegelehrstühle einrichten, denn das würde sicherlich etwas deutlich werden lassen.

Wir brauchen auch dringend eine horizontale Weiterentwicklung, eine Spezialisierung. Wir brauchen Kollegen, die sich in der Palliation oder in der Rehabilitation modular fortbilden können. Wir brauchen rehabilitative Kurzzeitpflegeeinrichtungen, damit alte Menschen nach einer Hüftoperation nicht sofort ins Altenheim übersiedeln, sondern erst die Chance haben, sich etwas zu erholen. Wir brauchen Kliniken, die Stationen für Langzeitversorgung einrichten, damit rehabilitative Maßnahmen auch dort unter Leitung von Pflegenden stattfinden können.

Wir wissen inzwischen auf der Grundlage der internationalen Erkenntnisse, dass es einen Einfluss hat, wenn man qualifizierte, akademisierte und natürlich evidenzbasierte Kollegen hat, die in der Lage sind, Implementierungsprozesse in verschiedenen Einrichtungen durchzuführen. Wir müssen dahin kommen, über genügend Personen zu verfügen, die diese Qualifikationen mitbringen und damit natürlich auch die anderen Mitarbeiter deutlich unterstützen.

Ein Weg ist die Gesundheitsfachhochschule, die in NRW geplant ist. Darüber hinaus müssen sich die anderen Hochschulen deutlich in diese Richtung entwickeln und ebenfalls mit den Studierenden erarbeiten, wie man positive Modelle in die Öffentlichkeit bringt.

Nachgefragt wurde nach der integrierten oder generalistischen Ausbildung. Das ist längst überholt; das wissen wir. Ich durfte in der Zukunftswerkstatt „Pflege neu denken" der Robert-Bosch-Stiftung mitarbeiten. Auch wir haben festgestellt, dass das in anderen Ländern längst der Fall ist. Wir haben überall alte Menschen. Ich habe gerade im Krankenhaus einmal wieder in der Nachtwache mitgemacht, um zu schauen, wie sich die Situation verändert hat. Auf einer normalen kardiologischen Station gab es neun schwer demente Menschen, mit denen die Pflegenden in der Nachtwache allein zurechtkommen mussten. Natürlich waren sie darauf nicht vorbereitet.

Wir haben inzwischen natürlich auch in der hausärztlichen Praxis solche Situationen.

Auch da gehören Pflegeexperten und -expertinnen aus der Altenpflege hin, die auf die Multimorbidität reagieren können. Es ist also nicht mehr die Frage, ob das sein muss, sondern wir müssten dazu längst Entscheidungen getroffen haben.

Zu der Ausbildungsumlage habe ich nur kurz Stellung genommen. Ich glaube, dass eine Ausbildungsumlage auf der einen Seite helfen kann. Auf der anderen Seite ist es aber etwas Besonderes. Dabei handelt es sich wieder um etwas, was zu einem Sonderstatus in der Pflege führt, wie es auch in der Gesundheits- und Krankenpflege der Fall ist. Wir werden gar nicht alle Akteure, die von Altenpflegern profitieren, an dieser Ausbildungsumlage beteiligen können. Wenn die Tandempraxen kommen, die zum Beispiel auch in NRW geplant sind, wenn in Sanitätsfachhandelsgeschäften solche Kollegen tätig sind, wenn in Unternehmen oder vor allem in den Pflegestützpunkten solche Personen tätig sind ­ wie wollen wir es schaffen, sie alle zu erfassen und bei der Ausbildungsumlage einzubinden? Das müsste eine steuerfinanzierte öffentliche Aufgabe sein.

Ich möchte noch Folgendes zu bedenken geben: Bei 85 % aller Beschäftigten, die in der Pflege und in der Altenpflege arbeiten, handelt es sich um Frauen. Ich glaube, in der Altenpflege liegt dieser Anteil sogar noch etwas höher. Frauenberufe haben per se einen schwierigeren Status. Ich würde die Landesregierung bitten, eine große Aktion „Männer in Frauenberufe!" zu starten und das ganz aktiv zu betreiben.

Andrea Bergstermann (Fachseminar für Altenpflege): Sehr geehrte Damen und Herren! Für die Einladung zu dieser öffentlichen Anhörung bedanke ich mich herzlich.