Es tut mir leid dass ich heute vorzeitig abreisen muss

Die vor uns liegende Problematik ist komplex. Ich möchte ein Stück weit davor warnen, mit allzu schnellen Schüssen zu reagieren. Am Ende unserer Stellungnahme haben wir unter Punkt 10 einen Vorschlag unterbreitet, mit dem man hier gut vorankommen könnte. In der Tat wäre es sinnvoll, ungefähr fünf Sitzungen anzuberaumen, die in kleinem Kreis stattfinden sollten. Wenn Sie in diesem Rahmen zunächst die Kinder- und Jugendpsychiater an einen Tisch bringen ­ die Bereitschaft dazu ist vorhanden; das Engagement ist groß ­, können wir zu den verschiedensten Fragestellungen, die natürlich von Ihnen vorgegeben werden sollten, gut abgesprochene Stellungnahmen en detail vorbereiten. Sie haben hier ja eine größere Anzahl von Stellungnahmen bekommen. Ich würde es begrüßen, wenn wir Ihnen sehr fokussiert zu Hilfe kommen könnten, indem wir versuchen, in Bezug auf definierte Fragen Prioritätenlisten zu erstellen.

Es tut mir leid, dass ich heute vorzeitig abreisen muss. Herr Minister Laumann wird uns in Essen um 11 Uhr einen Bewilligungsbescheid für ein Förderprojekt zu den Problembereichen Schulverweigerung und Jugendarbeitslosigkeit überreichen. Ich bedaure diese Terminkollision außerordentlich. Wir haben noch versucht, diesen Termin zu verlegen; das ließ sich aber nicht arrangieren. ­ Vielen Dank.

Vorsitzender Günter Garbrecht: Da eine Reihe von Sachverständigen darauf hingewiesen haben, dass sie Ihre schriftliche Stellungnahme unterstützen ­ zum Teil haben sie ja auch persönlich daran mitgearbeitet ­, werden unsere Nachfragen sicherlich auch von Ihren Kollegen beantwortet werden können.

Michael van Brederode (LVR-Dezernat Klinikverbund und Heilpädagogische Hilfen): Herr Vorsitzender! Meine Damen und Herren! Wir hatten bereits mehrfach Gelegenheit, die Versorgungsengpässe in der Kinder- und Jugendpsychiatrie hier darzustellen. Insofern bin ich auch dankbar, dass die Warnungen der Fachleute nicht nur in den beiden heute zur Diskussion stehenden Anträgen Reflexion gefunden haben, sondern inzwischen auch in einem Sofortprogramm des Landes, das darauf abzielt, die vorhandenen Versorgungsnöte rascher abzubauen. Das ist ein wesentlicher Erfolg und lässt uns ein wenig optimistischer in die Zukunft blicken. Deswegen will ich diesen Punkt nicht noch einmal vorbringen. Wir haben aber natürlich nach wie vor erhebliche Versorgungsengpässe. Es gibt sowohl Wartezeiten als auch eine Überauslastung der bestehenden Kapazitäten. Lassen Sie mich mit Blick auf die Zukunft den Fokus jedoch auf einen etwas anderen Aspekt lenken, nämlich die Frage der besseren Früherkennung und Prävention psychischer Störungen in der Jugend.

Wir wissen aus einschlägigen Untersuchungen, dass wir in der Kinder- und Jugendpsychiatrie maximal die Hälfte ­ wahrscheinlich deutlich weniger ­ der behandlungsbedürftig an psychischen Störungen erkrankten Kinder und Jugendlichen erreichen.

Es wird eine wesentliche Aufgabe sein, die Kinder- und Jugendpsychiatrie so zu entwickeln, dass sie betroffene Kinder und Jugendliche sowie ihre Eltern früher erreichen kann. Dafür ist auch eine bessere Vernetzung der unterschiedlichen Bereiche notwendig, damit Kinder und Jugendliche mit psychischen Störungen dort erkannt werden können. Dazu gehört neben der Schule mit Sicherheit auch die Jugendhilfe.

Auf diesem Feld haben wir noch einen erheblichen Entwicklungsbedarf, die unterschiedlichen Segmente der Versorgung so zu vernetzen, dass wir das Ganze tatsächlich in ein integriertes Präventions- und Früherkennungskonzept einbringen können. ­ Vielen Dank.

Dr. Rudolf Jebens (Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Klinikum Lippe, Bad Salzuflen): Herr Vorsitzender! Sehr verehrte Damen und Herren! Vielen Dank für die Einladung. Ich freue mich über das Interesse an diesem Thema. Es treibt uns als Kliniker seit Jahren um und hat zu einer Vielzahl von Anträgen, Stellungnahmen und Bestätigungen geführt, dass die Versorgungskapazitäten und der Versorgungsbedarf eklatant auseinanderklaffen und die uns zur Verfügung gestellten stationären, teilstationären und ambulanten Maßnahmen nicht ausreichen, um den Bedarf auch nur annähernd zu decken. ­ Lassen Sie mich einige wenige Punkte herausgreifen.

Die Bettenmessziffer ist obsolet. Sie ist veraltet. Es sollten mehr die Versorgungsverhältnisse in den einzelnen Regionen und die lokalen Bedingungen der Kinder und Jugendlichen sowie Familien ins Auge gefasst werden. Darauf sollte regional reagiert werden können, um flexibel zu sein und unter Ausnutzung vor Ort vorhandener Ressourcen Bedarfe wirklich abzudecken.

Eine Wartezeit von sechs Wochen bis zur stationären oder teilstationären Aufnahme und eine durchschnittliche Auslastung einer Klinik von 90 % sollten dabei Maßstab sein ­ bei 100 % Psych-PV. Eine Absenkung der Verweildauer, um mehr Patienten durchzuschleusen, ist nicht die Lösung des Problems, sondern würde eher zu einem Drehtür-Effekt führen.

Die überregionalen Behandlungsschwerpunkte wie beispielsweise die Versorgung geistig Behinderter, Suchtkranker und sexuell Delinquenter sollten ausgebaut werden und nicht auch in den zum Teil kleinen Versorgungskliniken mit abgedeckt werden müssen. Das ist keine gute, qualifizierte Behandlung und führt auch zur Alteration anderer Patienten.

Das Thema Prävention wurde bereits angesprochen. Wir brauchen die Möglichkeit der Mutter-Kind-Station im Bereich der Früherkennung und Frühbehandlung. Dies ist eine absolute Notwendigkeit. Wir können nicht erst im Alter von fünf oder sechs Jahren mit den Behandlungen beginnen. ­ Zur Prävention gehört auch die Möglichkeit der aufsuchenden Tätigkeit, etwa in Kindergärten oder auch in Frauenkliniken. Wenn man dort Konsile macht, sieht man häufig schon schwierige soziale Verhältnisse, bei denen man früh regulierend eingreifen könnte.

Ein weiterer Punkt ist die Kooperation mit der Erwachsenenpsychiatrie. Die Altersgrenze von 18 Jahren ist rein willkürlich. Die Behandlung von Adoleszenten in der Erwachsenenpsychiatrie gestaltet sich zum Teil problematisch. Daher sollte diese Altersgrenze flexibel gehandhabt werden können. Es darf nicht länger so sein, wie es zum Beispiel bei uns in Bad Salzuflen bisher ist. Wir müssen wegen des Aufnahmedrucks Patienten mit 18 Jahren verlegen, was häufig die weitere Behandlung verkompliziert.

Die Problematik in Bezug auf Jugendhilfe und Schulen ist in dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ausführlich dargestellt worden. Diesen Gesichtspunkt unterstütze ich nachdrücklich. Die Jugendhilfe ist zum Teil überfordert. Es kommt zu zahlreichen Verlegungen von der Jugendhilfe in die Kinder- und Jugendpsychiatrie im Rahmen von Notfall- bzw. Krisenaufnahmen; denn die Jugendhilfe ist überfordert, weil sie personell unterausgestattet ist und zunehmend schwierige Kinder und Jugendliche aufnehmen muss. Die Zahl der Notaufnahmen aus der Jugendhilfe ist in den letzten Jahren drastisch gestiegen. Die 2. Ulmer Heimkinderstudie belegt, dass 60 % aller Kinder und Jugendlichen in Heimen psychisch behandlungsbedürftig sind.

Das spüren wir als Versorgungsklinik unmittelbar. Ein Ansatzpunkt ist daher die Schaffung einer klar geregelten Zusammenarbeit der Kinder- und Jugendpsychiatrie mit der Jugendhilfe ­ nicht einzelfallbezogen und nicht personenabhängig, sondern strukturell geordnet mit klaren Standards, festen Prozeduren und verbindlichen Regelungen, welche Hilfen bei welchen Belastungsfaktoren einzusetzen haben.

Letztendlich hängt die adäquate Versorgung der betroffenen Kinder und Jugendlichen auch von den zur Verfügung stehenden Ausbildungsplätzen für Fachkräfte ab.

Je weniger stationäre und teilstationäre Einrichtungen es gibt, desto geringer ist die Zahl der auszubildenden Kinder- und Jugendpsychiater. Dieser Aspekt sollte nicht außer Acht gelassen werden.

Abschließend ist Folgendes festzuhalten: Tageskliniken sind nicht die Lösung des Problems. Sie sind mittlerweile zu Ersatzkliniken für vollstationäre Behandlungen geworden ­ mit zum Teil nicht mehr vertretbaren Belastungen der Kinder und Jugendlichen sowie ihrer Familien. Inzwischen ist die Zahl der Verlegungen von Tageskliniken in unsere Klinik in Bad Salzuflen mehrfach größer als die Zahl der Verlegungen in die umgekehrte Richtung. Tageskliniken sind notwendig, können aber stationäre Betten nicht ersetzen, sondern müssen zusätzlich eingerichtet werden. ­ Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

Dr. Gudrun Ott (Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, LVR-Klinikum Düsseldorf): Vielen Dank ­ letztlich im Namen der betroffenen Kinder und Jugendlichen, die Sie damit auch vertreten und für die Sie auf diesem Weg hoffentlich etwas bewegen können. ­ Dem von meinen Kollegen grundsätzlich Gesagten kann ich mich anschließen. Um keine Redundanzen entstehen zu lassen, möchte ich Ihre Aufmerksamkeit nur noch auf einige kritische Punkte fokussieren.

Es ist wichtig, die ambulante Versorgung, die teilstationäre Versorgung und die stationäre Versorgung nicht wegen der Kosten gegeneinander auszuspielen. Alle Bereiche sind dringend notwendig und müssen ausgebaut werden. Obwohl wir alle natürlich anstreben, dass Kinder, wenn irgend möglich, nicht stationär aufgenommen werden müssen, zeigt sich, dass nach wie vor ein hoher Bedarf besteht und nicht genügend Betten vorhanden sind.

Aufgrund der knappen personellen Ressourcen in allen Sektoren, sowohl in der Medizin als auch in der Jugendhilfe, passiert gelegentlich das, was der Bund 1975 mit der Psychiatrie-Enquete erreichen wollte und zum Teil auch erreicht hat.