Die Schulversager die Schulverweigerer und der Schulabsentismus kosten in diesem Land Zigtausend Schuljahre

Grundsatzdiskussionen sind notwendig und richtig. Parallel muss aber ­ da stimme ich Herrn Minister Laumann zu ­ unverzüglich das Problem der Unterversorgung mit teilstationären und stationären Plätzen in Angriff genommen werden. Anders als für die ambulanten Plätze ist das Land dafür zuständig. Das Land ist in der Pflicht, seiner Aufgabe gerecht zu werden. Hier existiert aber eine Dreiteilung. Erstens gibt es das Familienministerium. Wenn man die Familien dazu bringen will, mehr Kinder zu bekommen, muss man ihnen zeitgerecht Hilfe anbieten und darf sie nicht vertrösten.

Der Ablauf ist hier dargestellt worden. Zweitens gibt es das Schulministerium. Es soll keine Sitzenbleiber mehr geben. Die Schulversager, die Schulverweigerer und der Schulabsentismus kosten in diesem Land Zigtausend Schuljahre, weil die Kinder monatelang nicht zur Schule gehen. Bis sie in Behandlung kommen, sind ein Schuljahr oder zwei Schuljahre verloren. Drittens gibt es das MAGS. Diese Dreiteilung findet sich also auch in der Landesregierung wieder. Im Prinzip müssten das Familienministerium, das Schulministerium und das MAGS zusammenarbeiten und sich um diese Fälle kümmern. Die Solidargemeinschaft muss das Ganze unterstützen und darf es nicht durch Misstrauen torpedieren.

Dr. Gudrun Ott (Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, LVR-Klinikum Düsseldorf): Ich will versuchen, die vielen Fragen ein wenig in eine Linie zu bringen, was nicht ganz einfach ist.

Frau Steffens hat eine Frage in Richtung Prävention gestellt. In Düsseldorf haben wir eine ähnliche Ausgangsbasis, wie Herr Jebens sie eben geschildert hat. Nach der Erhöhung der Zahl der Tagesklinikplätze haben wir jetzt statt 2,1 ungefähr 4 Plätze pro 100.000 Einwohner. Damit liegen wir weiter unter dem Limit. Nichtsdestotrotz oder gerade deshalb versuchen wir noch stärker, viel früher anzusetzen, obwohl die von Frau Veldhues angesprochene Psych-PV hier sehr begrenzend wirkt. Wir haben nicht nur zu wenige Betten oder Plätze für ein zu großes Gebiet, sondern sind gleichzeitig personell absolut unterbesetzt. Über die Berufsgruppen verteilt liegt die Besetzung bei etwa 70 %, also ein Drittel unter dem Soll, was unerträglich ist.

Damit bin ich auch schon bei der Frage, was unseren Beruf denn attraktiv macht.

Lassen Sie mich einmal die Situation bei uns schildern. Meine Oberärztin und ich sind seit einigen Jahren die einzigen Fachärztinnen. Ich bin mittlerweile 22 Jahre in Düsseldorf, seit 1993 in Leitungsfunktion, und habe sehr viele Fachärzte mit Erfolg weitergebildet, die sich überwiegend auch hier niedergelassen haben, was uns sehr freut. Facharztstellen in den Kliniken sind für sie aber nicht attraktiv, weil die Arbeitsbedingungen unglaublich sind. Meine Oberärztin und ich haben jeweils den halben Monat Dienst. Sie können sich vorstellen, dass man es ja irgendwie aufteilen muss.

Das bedeutet, dass man sich mitunter einen halben Monat im Dauerdienst befindet; unabhängig von der tatsächlichen Inanspruchnahme ist man immer in Alarmbereitschaft. Wenn die Kollegin Urlaub hat oder krank ist oder wenn bei ihr irgendetwas anderes anfällt, steht jede von uns im Grunde genommen alleine da ­ wie ein Privatunternehmer, der wir nun wirklich nicht sind. Es gibt aber keine Ausweichmöglichkeiten.

Hinzu kommen die Schnittstellen zur Jugendhilfe, bei der die gleiche Personalknappheit herrscht. Da es so viele psychisch auffällige Jugendliche gibt, die Hilfeangebote brauchen, haben einige Jugendhilfeträger als Marktlücke entdeckt, eine Wohngruppe so zu konzipieren, dass man sie unter ein diagnostisches Etikett fasst. Das hatte für uns zur Folge, dass wir über einen Zeitraum von mehr als einem Jahr andauernd frisch aufgeschnittene Jugendliche bekamen. Sie nahmen alle Suchtmittel, die es überhaupt gibt, und verletzten sich dann, machten uns aber klar: Behandeln dürft ihr uns nicht. Wir kommen zur Krisenintervention hierher. Das Konzept unserer Wohngruppe ist so; wir dürfen das. ­ Wir haben mit dem entsprechenden Träger daran gearbeitet. Gott sei Dank hat sich etwas geändert. Solche Ideen tauchen aber immer wieder auf. Ich kann nur davor warnen, eine klinische Diagnose zu einer Eintrittskarte für eine Wohnsituation zu nehmen. Das ist für jedes Kind und jeden Jugendlichen kontraproduktiv.

Damit komme ich auch zur Frage der Beheimatung, auf die ich in meiner Stellungnahme schon ein Stück weit eingegangen bin. Zu uns werden häufig Jugendliche und auch Kinder gebracht ­ als unmittelbare Gefährdungssituation wird neuerdings meistens akute Suizidalität oder drohender Amoklauf genannt ­, bei denen es entweder noch am gleichen Tag oder einen Tag später heißt: Das Kind darf übrigens nicht zurück; der Platz steht nicht mehr zur Verfügung. ­ Hier ist mehr als eine individuelle Absprache gefragt. An dieser Stelle muss tatsächlich auch das Festzurren von Pflichtversorgungsbereichen erfolgen. Auch in der Jugendhilfe brauchen wir eine Pflichtversorgung. Es kann nicht angehen, dass ab 17 Uhr niemand mehr zuständig ist, geschweige denn an Feiertagen oder von Freitagnachmittag bis Montagmorgen.

Wir reden viel darüber. Geändert hat sich bisher nichts. Das bedeutet, dass wir im Zweifelsfall mit stationärer Versorgung alles, was irgendwo passiert, auffangen müssen. Die Kinder geraten natürlich darüber natürlich in Not.

Vorsitzender Günter Garbrecht: Berichten Sie jetzt über Ihre Erfahrungen in Düsseldorf?

Dr. Gudrun Ott (Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, LVR-Klinikum Düsseldorf): Ja, über unsere weitreichenden Erfahrungen in Düsseldorf. Das ist der Alltag, mit dem wir kämpfen. Wir sind ja für die Stadt Düsseldorf und den Kreis Mettmann zuständig. In beiden Bereichen gibt es so etwas.

Das gleiche Phänomen ergibt sich häufig ­ in diesem Zusammenhang kann ich nur dazu aufrufen, wirklich etwas zu verändern, nämlich weg von sogenannten Bezugssystemen und hin zu wirklicher Beziehungsarbeit zu gehen ­, wenn Kinder aus Fremdunterbringungssituationen zu uns kommen. In diesen Fällen passiert es sogar, dass uns jemand vonseiten des Trägers offiziell schreibt, ob wir allen Ernstes erwarteten, dass jemand zusammen mit dem Kind zur Akutaufnahme komme und dann in der Aufnahmesituation stundenlang dabeibleibe, wie Eltern es gewöhnlich tun; denn dann sei die Einrichtung selbst ohne Betreuer. Das sind Strukturprobleme. Dort muss sich dringend etwas ändern. Natürlich dürfen Kinder oder Jugendliche nicht benach teiligt werden, nur weil sie fremduntergebracht leben. Das geht überhaupt nicht. Im Alltag haben wir es aber andauernd mit Kindern zu tun, die von einer solchen Situation betroffen sind. ­ Dies zum Thema „Entbergen von Kindern". Mit Geborgenheit hat das nichts mehr zu tun.

Ich weiß nicht, ob Modellprojekte in diesem Zusammenhang das Richtige sind; denn es dauert dann jahrelang, bis man wieder irgendetwas ersonnen und erdacht hat. Die Schaffung von Hilfen vor Ort, und zwar hier und jetzt, bleibt dabei ein Stück weit auf der Strecke.

Zu den Neuroleptika hat Herr Jebens das Wesentliche gesagt. Die von Herrn Seibt zitierten Zahlen dürften auf Studien aus dem Erwachsenenalter beruhen. Ich habe ähnliche Zahlen am vergangenen Wochenende auf einer Tagung in Berlin gehört.

Die ihnen zugrundeliegenden Studien bezogen sich allerdings nicht auf psychisch Kranke allgemein, sondern speziell auf Psychosekranke und dort auf an Schizophrenie erkrankte Menschen. Bei den Kindern und Jugendlichen haben wir eine ganz andere Verteilung. Für Düsseldorf kann ich sagen, dass etwa 80 % der Kinder und Jugendlichen wegen konflikthafter Störungen aufgrund von Familienproblemen, Schulproblemen oder Problemen im Kindergarten zu uns gebracht werden. Kinder mit Psychosen sind in der absoluten Minderheit, weil es diese Erkrankung im Kindesalter nur ganz selten gibt. Es ist auch relativ selten der Fall, dass Jugendliche mit Psychosen zu uns kommen.

Allerdings hat ­ was ich sehr besorgniserregend finde ­ die Zahl von Jugendlichen mit Psychosen zugenommen, und zwar insbesondere im Zusammenhang mit dem Missbrauch von Cannabis. Diese Entwicklung verzeichnen wir auch bundesweit. Dafür gibt es Anhaltszahlen. In erster Linie hat das sicher mit der höheren Toxizität der Cannabinoide zu tun, aber auch mit dem Verharmlosen, das immer noch stattfindet.

Hier ist auch eine bessere Vernetzung zwischen all denjenigen gefragt, die an der Prävention von Suchterkrankungen arbeiten. Manchmal kommen Eltern zu uns, die nicht bereit sind, ihr Kind dazulassen. Das Kind will das sowieso nicht. Wir halten es aber für das Mindeste, dass das Kind zur Suchtberatung geht. Wenn es dort dann gesagt bekommt: „Es ist ja nur Cannabis; das ist nicht so schlimm", ist das weit verfehlt. Abgesehen davon ist Cannabis nach wie vor die wichtigste Einstiegsdroge, die dann zu einem multiplen Gebrauch von Drogen führt.

Selbstverständlich handeln wir bei der Neuroleptikatherapie leitliniengerecht. Es gibt nur eine sehr geringe Zahl von Erkrankungen, bei denen Neuroleptika überhaupt eingesetzt werden dürfen. Von den modernen Medikamenten sind auch nur ganz wenige überhaupt für bestimmte Alterssegmente im Kinder- und Jugendbereich zugelassen. Das ist allerdings nicht nur gut, sondern eigentlich eine Katastrophe; denn die Eltern müssen deshalb allein das Risiko tragen, wenn ihr Kind ein Anrecht auf modernere Behandlung haben soll. Bei diesen Medikamenten gibt es auch noch gar keine so langen Untersuchungen. Die Studie zur Lebenserwartung bezieht sich daher auf Medikamente der sogenannten Erstgeneration. Von der Zweitgeneration liegen noch gar nicht genügend Daten vor, um eine solche Aussage treffen zu können.