Versicherungsrecht

­ Im Moment kann ich Ihnen nur noch einmal sagen, dass an dieser Stelle das Vereinbarungsprinzip gilt. Ich kann mir aber gerne im Protokoll der entsprechenden Anhörung den Hintergrund anschauen und Ihnen dann im Nachgang zur heutigen Sitzung noch etwas zuleiten.

(Elisabeth Veldhues [SPD]: Okay! Danke!) Dr. Meinolf Noeker (Zentrum für Kinderheilkunde, Universitätsklinikum Bonn):

Ich bin hauptsächlich von Frau Steffens auf die Prävention und die Vernetzung und von Frau Gebhard auf eine Anreizfinanzierung versus Best-Practice-Modelle angesprochen worden. Mit Blick auf die Zeit möchte ich es auf einen Punkt zuspitzen.

Weil wir zwei übergeordnete Systeme haben, und zwar auf der einen Seite das SGB V ­ Krankenversorgung, psychiatrische Versorgung, psychotherapeutische Versorgung ­ und auf der anderen Seite das SGB VIII ­ Daseinsvorsorge, Kinder- und Jugendhilfe ­, ist die Vernetzung miteinander für mich ein absoluter Grundsatz. Hier knüpfe ich an die Ausführungen von Frau Ott und Herrn Weglage an. Settingwechsel machen im Regelfall wenig Sinn. Wenn man Kinder aus der Jugendhilfe, aus Kindergärten und aus Schulen herausnimmt, um sie einer psychiatrischen oder psychotherapeutischen Versorgung zuzuführen, kann man nicht davon ausgehen, dass die Probleme gelöst sind, wenn man die Kinder später reimplantiert. Bei Kindern und Jugendlichen liegen die Störungen deutlich mehr als bei Erwachsenen im Beziehungsgeflecht zwischen den Beteiligten begründet. Daher muss ich mit der Therapie eigentlich in das Setting hineingehen, in dem das Problem auftaucht.

Für den Kindergarten kann ich das einmal ganz kurz durchdeklinieren. Auf Grundlage von Best-Practice-Beispielen weiß ich, was ich bei kindlicher Trennungsangst zu tun habe. Entweder kann ich das Kind als Psychotherapeut in meiner Praxis für 25 oder 45 Stunden in Therapie nehmen ­ mit einem fraglichen Therapieerfolg. Ich kann aber auch fünf Stunden investieren, um in den Kindergarten zu gehen und die Erzieherinnen gemeinsam mit den Müttern coachen, wie sie diese Situation vor Ort regeln können. In diesem Fall ist die Prognose wahrscheinlich besser, weil das Kind dort keine Trennungsangst zeigt, als beim achtfachen Aufwand in meinem Behandlungszimmer.

Analog kann ich das bei einer ADHS-Behandlung im Schulkontext machen, indem ich die Lehrer und das Sozialsetting coache, wie sie auf potenziell gestörtes impulsives Verhalten eines Kindes reagieren sollten.

Bei einem selbstverletzenden impulsiven Verhalten in der stationären Jugendhilfe kann ich es so arrangieren, dass ich die Hürden für ein tatsächliches Überwechseln der Kinder aus der Jugendhilfe in die Kinder- und Jugendpsychiatrie enorm hoch lege. Viele Jugendliche wissen um diesen subtilen Anreiz ­ nach dem Motto: Wenn du hier herauswillst, musst du Symptomatik produzieren, damit du einen Ausgang findest. Dann machst du einmal einen Wechsel in die Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Gegebenenfalls belohnst du das System, indem du die Symptomatik später wieder herunterregulierst, wenn es dir dort auch nicht gefällt.

Vor diesem Hintergrund müssen im SGB-V-Bereich Tätige, namentlich Kinder- und Jugendpsychiater sowie Kinder- und Jugendpsychotherapeuten, in ihrer Kooperation gefördert werden. Damit bin ich schon beim Anreizsystem. Die Kooperation muss so finanziert werden, dass Fachleute mit einem ärztlichen oder psychotherapeutischen Hintergrund in die Jugendhilfeeinrichtungen gehen können, um dort intensiv zu beraten und zu coachen.

In diesem Zusammenhang komme ich auch auf die Neuroleptika zu sprechen. Ein Settingwechsel macht schon allein deswegen wenig Sinn, weil wir im Unterschied zur Erwachsenenpsychiatrie zumindest bei den Patienten bis zum Alter von 13, 14 oder 15 Jahren psychopharmakologisch nur in den allerseltensten Fällen überhaupt eine Behandlungsoption haben. Wenn wir das Setting von der Jugendhilfe in die Kinder- und Jugendpsychiatrie verlegen, ist die Kinder- und Jugendpsychiatrie letztlich auch auf die Bordmittel erzieherischer sowie systemisch verhaltenstherapeutischer und psychotherapeutischer Maßnahmen beschränkt, also auf das gleiche Instrumentarium, wie man es in der Jugendhilfe hat.

Insofern gilt: Die Jugendhilfe muss sich bewegen; sie muss eine höhere Akzeptanz für eine wirklich schwierige Klientel haben und diese auch halten. Die SGB-V-Vertreter müssen sich bewegen; sie müssen bereit sein, in diese Einrichtungen hineinzugehen. Die Vertreter der Jugendhilfe müssen sich in ihren Schwierigkeiten und in ihrem Behandlungsversagen, das sie in Teilen fabriziert haben, outen. Die im SGB-VBereich Tätigen müssen sich wiederum schlaumachen, wie sie dann konzis beraten können, damit vor Ort ein Behandlungserfolg sichergestellt werden kann.

Was wir brauchen, ist eine MiniMax-Intervention ­ auch mit Blick auf die Krankenkassen. Wir müssen diese Kooperation finanziert bekommen. Im Vergleich zu dem Spielchen, das wir sonst zwischen Jugendhilfe und Kinder- und Jugendpsychiatrie drehtürmäßig veranstalten, wäre dort aber nur eine vollkommen überschaubare Größenordnung von finanziellem Investment zu leisten. Man sollte schlicht und einfach in die GOÄ und die GOP additiv eine separate Ziffer für „Anleitung und Beratung der Bezugspersonen mit Verlassen der eigenen Praxis" aufnehmen. Dabei handelt es sich nicht nur um eine ganz überschaubare Größenordnung, wie ich schon gesagt habe, sondern vom Wirkungsgrad her aus meiner Sicht mit um das Beste, was Sie organisieren können. Die dafür aufgewandten Mittel bekommen Sie durch die Hintertür bei Weitem wieder herein, da in der Folge weniger fehlplatzierte stationäre Aufnahmen stattfinden.

Das ist etwas Konkretes, was ich empfehlen würde. Es ist viel wirksamer, auf einer solchen Ebene fallbezogen Kooperationen herzustellen, als vor Ort Gremien von lauter ­ in Anführungsstrichen ­ „Gutmenschen" zusammenzuführen, die letztendlich ergebnislos bleiben. Ich glaube auch nicht an die große Lösung einer Zusammenführung im versicherungsrechtlichen Sinne in Form gemeinsamer Töpfe von SGB V und SGB VIII. Das ist eine Herkules-Aufgabe, die wir nicht gestemmt bekommen. Vielmehr brauchen wir eine separate Finanzierung der Leistungen von im SGB-V-Bereich tätigen Personen, wenn sie in SGB-VIII-Kontexte hineinarbeiten. Vorsitzender Günter Garbrecht: Aus Zeitgründen haben die verbleibenden Expertinnen und Experten nur noch eine Antwortmöglichkeit von jeweils einer Minute. Das tut mir sehr leid; es geht aber nicht anders.

Dr. Johannes Hoppmann (Gesundheits-, Veterinär- und Lebensmittelüberwachungsamt der Stadt Bielefeld): Ich bin konkret nach der Implantierung neuer Systeme gefragt worden. Zwischen den Standpunkten von Herrn Noeker und mir besteht gar nicht so ein großer Dissens. Beispielsweise bin ich ebenfalls der Auffassung, dass die tatsächlich erforderlichen Leistungen zum Beispiel von Psychotherapeuten auch bezahlt werden müssen. Das Problem ist allerdings, dass man politisch nicht das realisiert, was gewollt wird, nämlich zum Beispiel aufsuchende Dienste. Meines Erachtens sind aufsuchende Dienste, egal wo sie lokalisiert sind, ein wesentlicher Standpfeiler von Clearing, Beratung und Unterstützung. Manchmal reicht ein Beratungsangebot für Eltern. Ich halte das sogar für ein wesentliches Standbein. Die entsprechenden Angebote sind aber alle weggebrochen, sodass es nur noch wenige Beratungskapazitäten gibt. Aufgrund der großen Unterschiede zwischen den einzelnen Kommunen kann man hier nicht eine allgemeine Regelung schaffen, sondern muss auch die Strukturen vor Ort berücksichtigen.

Außerdem darf nicht übersehen werden, dass in Bezug auf den stationären Bereich tatsächlich Handlungsbedarf besteht.

Birgit Pamme (Deutscher Kinderschutzbund, Landesverband NRW, Wuppertal):

Es gibt in Essen genügend Kinderärzte. Das große Problem ist aber, dass sie nicht im Essener Norden sind, wo wir sie brauchen, sondern sich alle im Essener Süden niedergelassen haben. Grundsätzlich ist Essen sogar mit Kinderärzten überversorgt.

Wir leiden im Essener Norden in den sogenannten sozial schwachen Stadtteilen aber unter ihrer ungleichen Verteilung.

Aus meiner Praxissicht möchte ich noch einmal auf die Wichtigkeit von Interdisziplinarität und Vernetzung hinweisen. Wir gehen in die Kindertagesstätten, arbeiten mit den Pädagogen zusammen, veranstalten gemeinsame Fortbildungen und führen zusammen Supervisionen durch, an denen auch ein Psychotherapeut beteiligt ist. Alle diese Aktivitäten müssen wir allerdings über Spendengelder finanzieren.

Die frühe Prävention ist ebenfalls immens wichtig. Ich arbeite seit sieben Jahren in einer Schreikind-Ambulanz mit, in der wir psychisch auffällige Kleinstkinder ­ auch von psychisch auffälligen Müttern ­ betreuen, und kann nur sagen: Wenn man früh anfängt, werden der Gesellschaft sehr viele Kosten erspart.

Eva Dorgeloh (Landesarbeitsgemeinschaft Sozialpsychiatrischer Dienste Nordrhein-Westfalen e. V.): Zum einen möchte ich die Aussagen von Herrn Albers und Herrn Noeker unterstützen und zum anderen auf die Frage von Frau Steffens eingehen, was wir schon ganz früh brauchen. Ein wesentlicher Faktor ist tatsächlich die Qualifikation von Erzieherinnen im genannten Sinn. Außerdem muss die Kooperation zwischen den Systemen gestärkt werden ­ zum Beispiel durch gemeinsame Fortbildungen.