Verbraucherschutz

Konsequenzen aus der Katastrophe von Nachterstedt für die Rheinischen Braunkohletagebaue

Das Ministerium für Wirtschaft, Mittelstand und Energie hat die Große Anfrage 39 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Ministerpräsidenten, dem Innenministerium, dem Ministerium für Bauen und Verkehr und dem Ministerium für Umwelt und Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz wie folgt beantwortet:

Vorbemerkung der Großen Anfrage

Die Katastrophe von Nachterstedt in Sachsen-Anhalt, bei der unkontrolliert eine ehemalige Tagebauböschung mit über 2 Mio. m3

Erdreich in den darunter liegenden Concordia-See stürzte, drei Menschen zu Tode kamen und eine ganze Siedlung zerstört bzw. unbewohnbar gemacht wurde, wirft die Frage der Standsicherheit der Böschungen in den Rheinischen Braunkohletagebauen und das Risiko für die in der Tagebauregion lebenden Menschen auf.

Das betrifft sowohl die laufenden Tagebaue als auch die geplanten großen Restseen Inden, Hambach und Garzweiler.

Von den Tagebaubetreibern wurde umgehend ein Unglück wie das in Nachterstedt im Rheinland für ausgeschlossen erklärt. Da bisher aber keinerlei Erfahrungen mit der über mehrere Jahrzehnte dauernden Anlage derartiger großer und tiefer Restseen vorliegen, müssen zur Sicherheit der Bevölkerung die Regelungen in den Braunkohleplänen im Hinblick auf die Standsicherheit von Böschungen vor dem Hintergrund der neuen Erkenntnisse überprüft werden.

Es stellt sich die Frage, ob die in den Braunkohleplänen festgeschriebene Dimensionierung der Sicherheitsstreifen, Gelände am Tagebaurand, dass nicht bebaut werden darf (im Falle der Tagebaue Hambach und Inden: Breite Sicherheitsstreifen = halbe Tagebautiefe), ausreichend ist.

Die Tagebaue im Rheinland sind deutlich tiefer als in Ostdeutschland (z. B. Tagebau Hambach über 400 Meter). Unter Fachleuten ist unstrittig, dass das Risiko von Hangrutschen mit der Tiefe der Tagebaue exponentiell zunimmt. Das heißt, in einem Tagebau mit 400 Metern Tiefe ist das Risiko eines Hangrutsches im Grundsatz nicht nur viermal so hoch wie in einem Tagebau mit 100 Metern Tiefe, sondern noch wesentlich höher.

Keinesfalls darf ein Risiko für die Rheinische Tagebauregion, wie von RWE und zum Teil auch von der Landesregierung mit dem Hinweis abgetan werden, in Nachterstedt herrschten andere geologische Verhältnisse und deshalb könnten derartige Ereignisse hier nicht auftreten (z. B. wegen „Fließsanden" und Risiken wegen Altbergbau in Sachsen-Anhalt). Natürlich herrschen im Rheinland andere geologische Verhältnisse wie in Ostdeutschland. Aber daraus kann nicht einfach geschlossen werden, dass die Risiken im Rheinland geringer sind. Im Gegenteil: Erheblich größere Tiefe der Tagebaue, zum Tagebau hin geneigte Gleitschichten, Vorhandensein von Altbergbau, hochkomplexe tektonische Störungen und erhöhte Erdbebengefahr sind nicht zu unterschätzende Risikofaktoren in der Rheinischen Tagebauregion.

Im Rheinland liegen etliche Ortschaften nur wenige Hundert Meter von den Tagebaukanten und den späteren Böschungen der Restseen entfernt.

In der Vergangenheit ist es auch in den Tagebauen im Rheinland zu größeren Hangrutschungen gekommen: So versank 1983 ein etwa 2 Hektar großes Freizeitgelände am Rand der Ortschaft Dürwiß bei Eschweiler im Kreis Aachen im damaligen Tagebau Zukunft. Dort war schon in den 1930er Jahren ein Teil des Friedhofes in den Tagebau abgerutscht. In die ehemaligen Gruben Fortuna und Fischbach bei Bergheim im Rhein-Erft-Kreis rutschten mehrfach größere Böschungssysteme während der 20er, 30er und 40er Jahre des vorigen Jahrhunderts. In den 50er Jahren rutschte ein komplettes Waldstück in die Grube, so dass diese über Monate nicht mehr betrieben werden konnte. Bei Bergheim verschwanden während solcher Böschungsrutschungen Teile eines Gestüts im dortigen Tagebau.

Vor diesem Hintergrund muss geklärt werden, welche Erkenntnisse und Konsequenzen aus diesen und weiteren Ereignissen für die Standsicherheit der Böschungen gezogen worden sind.

Dass es ein relevantes Risiko gibt, belegen die von RWE angebrachten Messpunkte für Bodenbewegen an den Tagebaurändern. Ob sie vor Unglücken schützen, ist unsicher, denn im Fall von Nachterstedt wurden offensichtlich vorher keine Besorgnis erregenden Bodenbewegungen festgestellt.

Ebenfalls gibt es im Rheinland wie in Nachterstedt aus früheren Bergbauaktivitäten aufgespülte und verfüllte Bereiche ­ zum Teil mit Besiedlung ­, die im Zuge des Abbaufortschritts der laufenden Tagebaue tangiert werden (z. B. beim Tagebau Inden im Bereich Lucherberg und beim Tagebau Hambach im Bereich von Morschenich). Solche Bereiche werden als besonders problematisch im Hinblick auf die Hangfestigkeit angesehen.

Noch aus einem anderen Grund erstaunt, dass leichtfertig die Vergleichbarkeit der Verhältnisse in Nachterstedt mit denen in der Rheinischen Tagebauregion abgetan wird: Noch im August 2006 präsentierten RWE und Landesregierung den Concordia-See bei Nachterstedt den Mitgliedern des Braunkohleausschusses bei der Bezirksregierung Köln als ein besonders gelungenes Beispiel für eine Restseerekultivierung.

Völliges Neuland, mit entsprechenden Risiken für die Standsicherheit von Böschungen, werden die verbleibenden Braunkohlerestseen Inden, Hambach und Garzweiler sein. Schon das Kleinste der drei Restlöcher, Inden, das ab 2030 geflutet werden soll, soll mit einer Fläche von 1.100 Hektar und 180 Metern Tiefe nach ca. 2070 der größte See von NRW sein. Weltweit gibt es keinerlei Erfahrung mit der Flutung und Standsicherheit der Böschungen von Tagebaurestlöchern solcher Dimension. Es muss detailliert überprüft werden, ob die Risiken der Standfestigkeit von Böschungen derartig großer Restseen überhaupt verantwortbar sind.

Erst kurz vor den Sommerferien hat die Landesregierung die Flutung des Restlochs Inden anstelle der bisher vorgesehenen Erdbefüllung genehmigt. Die Genehmigung ist allerdings noch nicht veröffentlicht und damit auch noch nicht rechtskräftig. Angesichts des Unglücks in Nachterstedt erscheint es selbstverständlich, dass die Landesregierung der Genehmigung der Seebefüllung vorerst keine Rechtskraft verleiht und sämtliche Planungen zur Flutung des Restlochs Inden hinsichtlich der Standfestigkeit der Böschungen noch einmal einer genauen Prüfung unterzieht. Dies gilt besonders auch im Hinblick auf die Risiken möglicher Interaktionen zwischen Indesee und dem später folgenden, nur sechs Kilometer entfernten, noch deutlich größeren und bis zu 400 Meter tiefen Hambachsee. Sollten nicht alle Risiken ausgeschlossen werden können, muss die Schaffung von Restseen in dieser Dimension grundsätzlich in Frage gestellt werden.

Die Schaffung von großen Restseen anstelle der Verfüllung birgt eine Vielzahl von Risiken, deren Auswirkungen - verbunden mit möglichen Folgekosten - heute kaum abschätzbar sind.

Da die Phase der Seebefüllung Jahrzehnte andauern und dann der Bergbau längst beendet sein wird, ist es fraglich, ob RWE für diese Kosten aufkommen kann oder will. Deshalb ist zu prüfen, welche Sicherheitsleistungen das Unternehmen heute für diese Folgekosten aufbringen muss. Es darf nicht sein, dass der Konzern mit der Gewinnung der Braunkohle viele Milliarden Euro verdient, am Ende die Allgemeinheit aber für die Folgekosten aufkommen muss.

Wie wenig die geologischen Prozesse und damit einhergehend die Risiken des Braunkohlenbergbaus für die gesamte Tagebauregion - vor allem im Zusammenhang mit der großräumigen Absenkung des Grundwassers ­ bis heute verstanden werden, zeigt eine Vielzahl unerwarteter Bergschäden, wie z. B. die massiven Tektonikschäden an der Kirche St. Margaretha in Mönchengladbach, der Kirche St. Remigius in Bergheim, Tektonikschäden in Hückelhoven sowie überraschend viele Tektonikschäden im über 16 km vom Tagebau Hambach entfernten Swisttal und im Raum Euskirchen.