Sicherungsverwahrung für Jugendliche

In 2006 waren es noch 1.657 oder 10,2 %) und 2.141 Heranwachsende (20,1 % aller Sanktionen gegenüber Heranwachsenden, die nach Jugendstrafrecht sanktioniert wurden; in 2006 waren es noch 2.907 oder 22,2 %) mit einer Jugendstrafe sanktioniert. Von den aussetzungsfähigen Jugendstrafen wurden bei der Altersgruppe der Jugendlichen 70,2 % und bei den Heranwachsenden (bei Anwendung des Jugendstrafrechts) 68,5 % der Jugendstrafen zur Bewährung ausgesetzt. Belastbare Zahlen über die Rückfallhäufigkeit Jugendlicher nach einer vollstreckten Jugendstrafe liegen für Nordrhein-Westfalen nicht vor. Ausweislich der Daten der ersten bundesweiten Rückfallstatistik „Legalbewährung nach strafrechtlichen Sanktionen" von Jehle/Heinz/Sutterer aus dem Jahre 2003 (Hrsg. BMJ) belaufen sich die Rückfallquoten nach einer zuvor erfolgten Jugendstrafe ohne Bewährung auf 77,83 % innerhalb eines vierjährigen Rückfallzeitraums (S. 57 und 55 der Statistik). Eine länderspezifische Auswertung des der Statistik zugrunde liegenden Datenmaterials erfolgte in der damaligen Studie nicht. Es ist zu beachten, dass die hohen Quoten in der bundesweiten Rückfallstatistik nicht allein mit Sanktionswirkungen interpretiert werden können, sondern auch mit der Klientel zusammenhängen, denen gegenüber die Jugendstrafe vollstreckt wurde. Diese hat im Regelfall zuvor bereits das gesamte Sanktionsprogramm des JGG durchlaufen, stellt insoweit also gewissermaßen eine „Negativauslese" unter den jungen Verurteilten dar.

Hält die Landesregierung angesichts der Ablehnung in Wissenschaft und Praxis die nachträgliche Sicherungsverwahrung für Jugendliche mit den Leitgedanken des Jugendstrafrechts (Erziehung, Eingliederung und Rückfallvermeidung) für vereinbar?

Die nachträgliche Sicherungsverwahrung für Jugendliche ist nach Ansicht der Landesregierung mit den Leitgedanken des Jugendstrafrechts vereinbar. Sie verhindert, dass ein Straftäter in Freiheit kommt, obwohl er seine gerichtlich festgesetzte Strafe voll verbüßt hat, weil er eine große Gefahr für die Allgemeinheit darstellt. Vor diesem Hintergrund darf die Sicherungsverwahrung nur angewendet werden, wenn es kein anderes Mittel gibt, um die Allgemeinheit zu schützen. Da bei jungen Menschen, die über eine kürzere Lebensgeschichte verfügen und deren Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist, eine ausreichend sichere Gefährlichkeitsprognose nur sehr schwierig zu treffen ist, sieht der mit dem „Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung bei Verurteilungen nach Jugendstrafrecht vom 8. Juli 2008" eingeführte § 7 Abs. 2 JGG bei Jugendlichen keine originäre, sondern ausschließlich die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung vor. Wegen der besonderen Entwicklungssituation und der Aussichten für eine positive Einwirkung im Vollzug der Jugendstrafe wird so bei jungen Menschen über die Anordnung der Sicherungsverwahrung immer erst aufgrund einer Gesamtwürdigung am Ende des Strafvollzugs entschieden, auch wenn wesentliche Anzeichen für eine künftige Gefährlichkeit bereits anfänglich erkennbar waren. Die Verhängung der nachträglichen Sicherungsverwahrung gemäß § 7 Abs. 2 JGG ist an enge Voraussetzungen geknüpft: Verurteilung zu einer Jugendstrafe von mindestens sieben Jahren, Erkennbarkeit von Tatsachen vor Ende des Vollzugs, die auf eine fortbestehende erhebliche Rückfallgefährlichkeit des jungen Verurteilten hinweisen. Angesichts dieser - auf Extremfälle ausgerichteten - gesetzlichen Eingrenzung des neuen Reaktionsinstruments ist nicht von einer Durchbrechung des Erziehungsgedankens (§ 2 JGG) auszugehen.

Wie bewertet die Landesregierung die im politischen Raum (z.B. "Wiesbadener Erklärung der CDU vom 05.01.2008) immer wieder geforderte Änderung des Aufenthaltsrechts, wonach der Ausweisungsschutz für delinquente ausländische Jugendliche zurückgefahren werden soll?

Jugendkriminalität ist kein alleiniges Problem ausländischer Jugendlicher, sondern betrifft ebenso deutsche Jungendliche. In den Fällen, in denen ausländische Jugendliche durch delinquentes Verhalten auffallen, kommt es in jedem Einzelfall auf eine Vielzahl von Faktoren an, die mitentscheidend sind und gegebenenfalls zu einer Abschiebung führen können. Geboten sind daher - neben einer konsequenten Anwendung bestehender rechtlicher Vorgaben - insbesondere übergreifende Ansätze, die Jugendliche insgesamt betreffen.

Die Landesregierung begrüßt die auf Bundesebene im Rahmen der Koalitionsvereinbarung für Wachstum, Bildung und Zusammenhalt getroffene Vereinbarung, Jugendkriminalität mit wirksamen Maßnahmen zu begegnen und alle Anstrengungen zu unternehmen, um ihren Ursachen entgegenzuwirken. Dazu sollen Präventionskonzepte gestärkt und ausgebaut, unter Einbeziehung aller Verantwortlichen erzieherische Ansätze verbessert sowie Vollzugsdefizite bei der konsequenten Durchsetzung des geltenden Jugendstrafrechts abgebaut werden. Eine Verschärfung des Ausweisungsrechts für delinquente Jugendliche ist dort nicht vorgesehen. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach einer Verschärfung der Ausweisungsvorschriften für Jugendliche derzeit nicht.

Wie viele Jugendliche haben jeweils in den Jahren seit 1998 ­ aufgeschlüsselt nach Alter, Geschlecht, Migrationshintergrund ­ eine Jugendstrafe verbüßt?

Wie viele Jugendliche, die seit 1998 eine Jugendstrafe verbüßt haben oder verbüßen, haben ­ nach Geschlecht und Migrationshintergrund aufgeschlüsselt ­ vor Strafantritt bereits einen Schulabschluss erworben?

Zu den Fragen 255 und 256 der Großen Anfrage ist festzustellen, dass in den Rechtspflegestatistiken keine Angaben zur Zuwanderungsgeschichte außer der aktuellen Staatsangehörigkeit erhoben werden. In der Strafvollzugsstatistik, hier die Stichtagstatistik zum 31. März jeden Jahres, gibt es lediglich eine Aufschlüsselung nach deutscher oder nichtdeutscher Staatsangehörigkeit. Damit kann die Frage 255 nur nach Alter und Geschlecht beantwortet werden (Anlage 22) Die in der Frage 256 gewünschte Auskunft nach der Schulbildung kann nicht erteilt werden, da hierüber in der Strafvollzugsstatistik keine Daten erhoben werden.

Wie viele Jugendstrafvollzugsanstalten verfügen über die Möglichkeit, jugendlichen Straftäterinnen und Straftäter zu einem Schulabschluss oder einer Ausbildung zu verhelfen und wie hoch ist jeweils der Anteil erfolgreicher Absolventinnen und Absolventen?

Schulische Bildungsmaßnahmen finden in allen Anstalten statt, in denen sich jugendliche Untersuchungs- oder Strafgefangene befinden, d.h. in den Justizvollzugsanstalten Düsseldorf, Heinsberg, Herford, Hövelhof, Kleve, Köln, Siegburg, Wuppertal. Ausbildungsmaßnahmen für jugendliche Gefangene werden in den Justizvollzugsanstalten Heinsberg, Herford, Hövelhof, Iserlohn, Köln, Siegburg und Willich II durchgeführt. Über die Inanspruchnahme gibt die Tabelle in Anlage 23 Auskunft:

Wie bewertet die Landesregierung Projekte zur Haftvermeidung?

Welchen Bedarf für Haftvermeidungsprojekte sieht die Landesregierung?

Auf die Vorrangstellung von Alternativen zur Jugendstrafe wurde bereits hingewiesen (vgl. Antwort zu Frage 245). Um Alternativen zur Untersuchungshaft zu mehren und so die Zahl der jugendlichen Untersuchungsgefangenen in Nordrhein-Westfalen von jährlich zwischen knapp 400 und fast 500 Personen zu vermindern, wurde die neue „Gemeinsame Konzeption des Justizministeriums und des Ministeriums für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen zur einstweiligen Unterbringung von Jugendlichen in geeigneten Einrichtungen der Jugendhilfe (§ 72 Abs. 4 i. V. m. § 71 Abs. 2 JGG i. V. m. § 34 SGB VIII)" vom 28. März 2009 entwickelt. Kernpunkt dieser Haftvermeidungskonzeption ist eine Leistungsbeschreibung für künftige Angebote von Trägern, die bereit sind, entsprechende Heime als Intensivangebot der stationären Jugendhilfe einzurichten. Um die justizielle Praxis vertiefend über die neue Gemeinsame Konzeption zu informieren, veranstaltet die Justizakademie in jedem OLG-Bezirk jeweils eintägige Informationsveranstaltungen für Jugendstaatsanwälte, Jugendrichter und Haftrichter. Auch über den Jugendbereich (siehe die ergänzenden Antworten auf die Fragen 259, 260) hinaus haben Projekte der Haftvermeidung für die Landesregierung einen hohen Stellenwert. Das Justizministerium hat gerade erst zum 1. Oktober 2009 vier Projekte zur Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen durch gemeinnützige Arbeit in Bielefeld, Kleve, Köln und Paderborn eingerichtet. Die Projekte sollen im Wege der Begleitforschung evaluiert werden.

Wie bewertet die Landesregierung die geschlossene Unterbringung von schwierigen und häufig delinquenten Kindern und Jugendlichen grundsätzlich?

Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass schwierige und häufig delinquente Kinder und Jugendliche nicht zwangsläufig geschlossen untergebracht werden müssen. Dabei ist zu beachten, dass zu unterscheiden ist zwischen freiheitsbeschränkenden und freiheitsentziehenden Maßnahmen. Freiheitsbeschränkende Maßnahmen sind häufig auch als intensivpädagogische Maßnahmen zu verstehen, die auf einen regelhaften und durchstrukturierten Tagesablauf abzielen. Lediglich bei freiheitsentziehenden Maßnahmen ist eine geschlossene Unterbringung gemeint.

Freiheitsentziehende Maßnahmen in der Jugendhilfe sind immer auch gravierende Eingriffe in die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen. Sie sind daher nur unter sehr eingeschränkten Voraussetzungen durchführbar und immer nur dann denkbar, wenn ansonsten keine anderen Mittel aus dem Spektrum des Jugendhilfeinstrumentariums zur Verfügung stehen ("ultima ratio")

Welche Erfahrungen liegen der Landesregierung von Unterbringungen für häufig delinquente Jugendliche vor, die mit sozialpädagogisch betreuten Intensivgruppen arbeiten, wie z. B. dem "Haus Ausblick" der Kaiserswerther Diakonie in Bedburg-Hau?

Es zeigt sich einerseits, dass freiheitsbeschränkende Konzepte einen leichteren pädagogischen Zugang zu den Jugendlichen ermöglichen als freiheitsentziehende Maßnahmen. Allerdings verlangen Konzepte mit freiheitsbeschränkenden Maßnahmen ("Menschen statt Mauern") besondere Anforderungen im Hinblick auf die Entwicklung des zur Verfügung stehenden Personals. Darüber hinaus bedingt der äußere Zwangsrahmen die Notwendigkeit intensiver pädagogischer Anstrengungen auch und gerade in Grenzsituationen.