Die Abschiebepraxis in NRW muss dringend geändert werden

I. Problem:

Am 28. Juni 2005 wurde eine fünfköpfige Familie aus Lotte (Kreis Steinfurt) von einem Sondereinsatzkommando der Polizei (siehe westfälische Nachrichten vom 30. Juni 2005) in ihrer Wohnung abgeholt. Die suizidgefährdete Mutter brach - wie bereits in einer umfangreichen fachärztlichen Stellungnahme prognostiziert - bei der Verhaftung zusammen und wurde in ein Krankenhaus eingeliefert. Diese Stellungnahme lag der Ausländerbehörde vor. Der Vater wurde mit den Kindern daraufhin zum Flughafen gebracht, obwohl dieser vormals drohte, den Kindern im Falle einer Abschiebung etwas anzutun. Die Mutter wurde am 06.07. aus dem Landeskrankenhaus entlassen und hat dann "freiwillig" am 15.07.2005 das Land verlassen.

Bei der gleichen Abschiebung wurde nach Auskunft des Flüchtlingsrates NRW die Familie B. aus Herne abgeschoben. Gegen 3.00 Uhr morgens drang die Ausländerbehörde mit Polizeibeamten in die Wohnung und brachte sie zum Flughafen. Obwohl der Ausländerbehörde fachärztliche Stellungnahmen vorlagen, die ausdrücklich auf eine Verschlechterung des psychischen Zustandes und auf eine Erhöhung des Risikos autoaggressiver Handlungen mit tödlichem Ausgang bei einer Abschiebung von Frau B. hingewiesen hätten, sei keine amtsärztliche Untersuchung durchgeführt worden. Vielmehr habe der Amtsleiter des Gesundheitsamtes nach Aktenlage entschieden und Frau B. in Begleitung für "flugreisetauglich" erklärt.

Laut Neue Rhein-Zeitung vom 29.08.2005 wurde in der Nacht des 24.08.2005 eine junge, seit 10 Jahren in Deutschland lebende Tamilin aus dem Hochsauerlandkreis samt ihrem schwerstbehinderten Kind und ihrem Kleinkind, während der Familienvater in Nachtschicht arbeitete, aus ihrer Wohnung geholt und nach Sri Lanka (in dem seit dem Mord am Außenminister der Ausnahmezustand ausgerufen wurde) abgeschoben. Der Familienvater fand nach seiner Rückkehr nur noch eine leere Wohnung vor. Der nächtliche "Zugriff" sei wegen der Abflugzeit notwendig gewesen, rechtfertigte ein Kreissprecher den Ablauf, außerdem "hätte die Familie zuvor freiwillig ausreisen können."

Der Superintendent des Kirchenkreises Arnsberg, Lothar Kuschnik, hatte die Abschiebepraxis des Hochsauerlandkreises bereits vor Monaten kritisiert, als ein Familienvater vor den Behörden vom Balkon gesprungen war (die WP berichtete).

Insgesamt wurden bei der oben genannten Sammelabschiebung über 120 Flüchtlinge aus Deutschland in die Türkei und nach Sri Lanka abgeschoben. Laut Pressemitteilung des Flüchtlingsrats NRW vom 26.08.2005 begann das Einchecken um 4.00 Uhr nachts, die Maschine startete kurz nach 8.00 Uhr morgens.

II. Rechtliche Vorgaben in NRW:

In den letzten Monaten sind mehrere Erlasse und Schreiben zum Problemfeld "Vollzug von Abschiebung bzw. Krankeit und Abschiebung" in NRW veröffentlicht worden.

Seit dem 30. September 2004 gibt es eine vom Innenministerium NRW veröffentlichte Checkliste "Vorbereitung, Durchführung und Dokumentation von Rückführungsmaßnahmen".

Mit ihr sollen mindestens während des Vollzugs einer Abschiebung landesweit einheitliche humanitäre Standards gewährleistet werden.

Am 16.12.2004 veröffentlichte das Innenministerium NRW den Informations- und Kriterienkatalog, der in Zusammenarbeit mit der Bundesärztekammer erarbeitet wurde.

Mit Erlass vom 28. Januar 2005 gab das Innenministerium NRW die jüngste Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts NRW (Beschlüsse des 13. und 18. Senats) zu den Verfahren "posttraumatische Belastungsstörungen als krankheitsbedingte Abschiebungs- bzw. Vollstreckungshindernisse" den Bezirksregierungen zur Kenntnis.

Nach Aussagen des Innenministeriums NRW dient der Kriterienkatalog als ein wichtiges Hilfsmittel, um Untersuchungen von Personen, die abgeschoben werden sollen, aber krankheitsbedingte Vollzugshindernisse geltend machen, zu verbessern, indem bestimmte Grundsätze für verbindlich erklärt werden:

· "Bevor der Arzt um ein Votum zur (Flug)Reisetauglichkeit gebeten wird, muss für die Ausländerbehörde feststehen, dass weder ein zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis noch ein inlandsbezogenes Vollstreckungshindernis vorliegt.

· Im Übrigen muss beachtlichen Vorträgen von gesundheitlichen Beeinträchtigungen in jedem Stadium des Vorgangs einer Abschiebung nachgegangen werden.

· Dies gilt auch für Vorträge einer konkreten (nicht nur theoretischen) Gefahr einer Retraumatisierung im Sinne einer erheblichen Gefahr der Verschlechterung des Gesundheitszustandes, auch wenn diese erheblichen Gesundheitsprobleme erst beim Vollzug der Abschiebung selbst auftreten."

III. Bewertung:

Die aufgezeigten Fälle widersprechen den Vorgaben des Informations- und Kriterienkatalogs. Sie belegen eindrücklich, dass beachtlichen Vorträgen hinsichtlich gesundheitlicher Beeinträchtigungen nicht sachgerecht nachgegangen wurde.

Es lagen ausführliche Stellungnahmen der behandelnden Fachärzte vor, die sich, aus gesundheitlichen Gründen, eindeutig gegen eine Aufenthaltsbeendigung aussprachen.

Weiterhin wurden die sog. "(Flug)Reisetauglichkeiten" nicht - wie vom Kriterienkatalog gefordert - von Fachärztinnen oder Fachärzten ausgestellt. Vielmehr wurden sie nach uns vorliegenden Informationen rein nach Aktenlage und nicht von qualifizierten Fachärztinnen und ärzten bescheinigt.

Entgegen den Vorgaben aus dem Grundgesetz und der Europäischen Menschenrechtskonvention wurden durch nordrhein-westfälische Ausländerbehörden Familien auseinander gerissen, Kinder von ihren Müttern getrennt, Kinder aus ihrem sozialen Gefüge herausgerissen.

Insbesondere das nächtliche Vorgehen besagter Behörden unter Zuhilfenahme von Sondereinatzkommandos ist unverhältnismäßig, rechtsstaatlich fragwürdig und zivilgesellschaftlich nicht hinnehmbar.

IV. Handlungsbedarf:

Der Landtag NRW fordert die Landesregierung auf:

· die Ausländerbehörden zu verpflichten, den Informations- und Kriterienkatalog vom Dezember 2004 umzusetzen und geltend gemachte Krankheiten gewissenhaft durch die jeweiligen Fachärztinnen und Fachärzte überprüfen zu lassen.

· sich dafür einzusetzen, dass ärztliche Untersuchungen nicht nur darauf abzielen dürfen, dass ein Flug überstanden wird, sondern auch, welche Auswirkungen die Abschiebung insgesamt auf den Gesundheitszustand der/des Betroffenen hat.

· Trennungen von Familien bei der Abschiebung unbedingt zu vermeiden und die Berücksichtigung des Kindeswohls bei allen behördlichen Entscheidungen einfließen zu lassen.

· die in den letzten Monaten verstärkt zu beobachtende Praxis nächtlicher Abschiebungen vor dem Hintergrund des Umgangs mit den betroffenen Menschen und der Menschenwürde zu ändern.