39 Lohmarer Kinder im Krankenhaus: Wie konnte eine gesundheitlich unbedenkliche Flüssigkeit Gesundheitsprobleme verursachen?

Am 17. Mai traten um 07.15 Uhr in der Shell-Raffinerie bei Reinigungsarbeiten in KölnGodorf 80 Liter Wasser aus, die mit Mercaptan versetzt waren.

Das Berufsgenossenschaftliche Institut für Arbeitsschutz in St. Augustin teilte mit, dass es sich um eine Schwefelwasserstoffverbindung handelt, die in hoher Konzentration Gesundheitsgefahren auslöst, indem sie akute oder/und chronische Beschwerden hervorruft.

Ab 8.30 Uhr am 17. Mai gingen bei der Leitstelle des Rhein-Sieg-Kreises zunehmend Anrufe besorgter Bürgerinnen und Bürger aus Lohmar, Troisdorf, Neunkirchen-Seelscheid, Much und Ruppichteroth ein, die sich über übel riechenden Gestank beschwerten. Gegen 11.00 Uhr klagten Dutzende von Schülerinnen und Schüler der Realschule Lohmar über Übelkeit und Atembeschwerden.

Daraufhin ließ die Feuerwehr die Schule evakuieren. 30 Rettungswagen, 15 Krankenwagen, 15 Notärzte (z.T. mit Helikopter eingeflogen) und 120 Rettungssanitäter sorgten für einen beispielhaften Noteinsatz. 39 Kinder mussten in drei Krankenhäusern stationär versorgt werden.

Erst am Nachmittag gab die Shell-Raffinerie vor Ort bekannt, welcher Stoff die Problemkette in Gang gesetzt hatte. Noch am Abend sprach das Staatliche Umweltamt allerdings immer noch von einer gesundheitlich unbedenklichen Geruchsbelästigung.

Vor diesem Hintergrund frage ich die Landesregierung:

1. Welche Informationen hat die Landesregierung über den Einsatz des Stoffes Mercaptan in NRW-Unternehmen sowie über bisherige Störfälle, deren Folgen und die gebotene Notfallplanung?

2. Wann genau wurde die Landesregierung (bzw. das Staatliche Umweltamt) über den Störfall vom 17. Mai 2006 in Köln-Godorf von wem und in welcher Form informiert?

3. Welche Gesundheitsvorsorgemaßnahmen in Bezug auf den vorhersehbaren Weg der Chemiewolke in den Rhein-Sieg-Kreis wurden wann und gegenüber wem eingeleitet?

4. Wie erklärt sich die Landesregierung die Stellungnahme der Shell-Raffinerie Köln-Godorf im Generalanzeiger Rhein-Sieg am 18. Mai 2006, wonach sie erst um 13.10 Uhr - also erst nach rund zwei Stunden - von den Problemen in Lohmar erfahren habe?

5. Wie beurteilt die Landesregierung angesichts der 98 (davon 39 stationär) medizinisch behandlungsbedürftigen Kinder die Aussage des Staatlichen Umweltamtes, wonach Mercaptan gesundheitlich unbedenklich sei?

Antwort des Ministers für Umwelt und Naturschutz, Landwirtschaft und Verbraucherschutz vom 30. Juni 2006 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales, dem Innenminister und der Ministerin für Wirtschaft, Mittelstand und Energie:

Zur Frage 1:

Die Bezeichnung Mercaptane ist eine (eigentlich veraltete) Gruppenbezeichnung für die Thiole. Das sind organische Verbindungen, die eine SH-Gruppe als funktionelle Gruppe tragen. Im Vergleich zu den Alkoholen ist bei diesen Verbindungen der Sauerstoff durch Schwefel ersetzt. Sie können auch als „Abkömmlinge" von Schwefelwasserstoff aufgefasst werden. Mercaptane werden bei Fäulnisprozessen frei. Sie sind in Erdöl und im Steinkohlenteer zu finden. Daraus folgt, dass sie u.a. bei Unternehmen der chemischen Industrie vorhanden sind, die sich mit der Verarbeitung dieser Stoffe befassen (z.B. Raffinerien). Mercaptane besitzen eine sehr niedrige Geruchsschwelle und einen äußerst unangenehmen Geruch. Deshalb werden bestimmte Mercaptane in sehr geringen Mengen auch zur Gasodorierung verwendet, damit diese beim Ausströmen geruchlich wahrgenommen werden können.

Die Recherche zu bisherigen Störfällen ergab ein Ereignis im Jahr 1995 in einer Anlage zur chemischen Behandlung von Abfällen in Gütersloh. Infolge eines organisatorischen Fehlers (Umpumpvorgänge einer mercaptanhaltigen Lauge in einen offenen Reaktionsbehälter) ist es zu einer Freisetzung von Mercaptanen gekommen. Personen-, Sach- oder Umweltschäden gab es nicht, die starke Geruchsbeeinträchtigung führte allerdings zu Nachbarbeschwerden.

Zur Frage 2:

Das Staatliche Umweltamt Köln (StUA Köln) wurde auf das Ereignis am 17. Mai 2006 aufgrund von Anwohnerbeschwerden über Geruchsbelästigungen im Bereich Köln-Sürth aufmerksam, die das Amt ab 07.26 Uhr erreichten. Auf eine erste Nachfrage bei der Firma Shell Deutschland Oil GmbH (SDO) Rheinland Raffinerie in Köln-Godorf um 07.40 Uhr erhielt das StUA Köln die Information, dass dort eine Betriebsstörung nicht vorliegt. Daraufhin wurden Überprüfungen im Wohnumfeld der Beschwerdeführer durch den Streifendienst des StUA Köln eingeleitet, die um 08.40 Uhr auch zu Ermittlungen bei der Rheinland Raffinerie der SDO in Köln-Godorf führten, wo das Amt die Information über die Stofffreisetzung erhielt.

Das MUNLV wurde am 17. Mai 2006 um 10.30 Uhr vom StUA Köln telefonisch darüber informiert, dass es gegen 07.15 Uhr aus ungeklärter Ursache zur Freisetzung von ca. 100 l mit Mercaptanen verunreinigtem Wasser aus der Konversionsanlage bei der Firma Shell Deutschland Oil GmbH Rheinland Raffinerie in Köln-Godorf gekommen sei. Es wurde mitgeteilt, dass infolge der extremen Geruchsintensität der Mercaptane Geruchsbeeinträchtigungen bis in den Raum Troisdorf aufgetreten seien. Weil über die Stofffreisetzung zunächst keine Klarheit bestand, sei von der Feuerwehr die vorsorgliche Warnung an die Bevölkerung herausgegeben worden, Fenster und Türen geschlossen zu halten; Bedienstete des StUA waren vor Ort. Nach Mitteilung des StUA Köln hatte die Geruchseinwirkung sowohl auf dem Betriebsgelände als auch im näheren Umfeld zum Zeitpunkt der telefonischen Benachrichtigung des MUNLV um 10.30 Uhr bereits deutlich nachgelassen.

Wegen der zahlreichen Anwohnerbeschwerden über Geruchsbelästigungen folgte am 17. Mai 2005 um 11.16 Uhr ein schriftlicher Sofortbericht des StUA Köln per Telefax an das MUNLV. Zu diesem Zeitpunkt lagen dem Amt noch keine Informationen über die Ereignisse in der Realschule Lohmar vor. Daher war in diesem Bericht die Frage nach Personenschäden mit „nein" beantwortet worden und es wurde angegeben, dass außer Erkundungen durch die Berufsfeuerwehr Köln keine weiteren Maßnahmen außerhalb des Betriebsgeländes veranlasst worden waren. Die Bevölkerung sei über das Radio Köln und den WDR 2 informiert worden.

Von den Ereignissen an der Realschule in Lohmar erfuhr das StUA Köln erst bei der von der SDO anberaumten Pressekonferenz am 17. Mai 2006 ab 12.30 Uhr sowie fast zeitgleich über das „Grüne Telefon" der Bezirksregierung Köln um 13.15 Uhr.

Das MUNLV wurde telefonisch am 18. Mai 2006 vom StUA Köln über die Ereignisse in Lohmar unterrichtet. Zu diesem Zeitpunkt lag hier die Information aus der Presse bereits vor.

Zur Frage 3:

Die Gefahrenabwehrbehörden der Stadt Köln und des Rhein-Sieg-Kreises haben folgende Maßnahmen eingeleitet:

Bei der Feuer- und Rettungsleitstelle des Rhein-Sieg-Kreises gingen am 17. Mai 2006 um 08.15 Uhr erste Anrufe aus dem Raum Troisdorf über starke Geruchsbelästigungen ein. Eigene Aufklärungsarbeit sowie Kontakte zur Bezirksregierung Köln und zu den Nachbarleitstellen in Köln und im Rhein-Erftkreis führen zu ersten Erkenntnissen über die wahrscheinliche Herkunft und Ursache der Geruchsbelästigung, so dass um 08.50 Uhr von der Feuerund Rettungsleitstelle des Rhein-Sieg-Kreises Rundfunkdurchsagen (Radiosender Radio Bonn/Rhein-Sieg und WDR) veranlasst wurden. Die Bevölkerung in den betroffenen Bereichen wurde aufgerufen, wegen einer starken Geruchsbelästigung Fenster und Türen zu schließen und Lüftungs- und Klimaanlagen abzuschalten. Diese Warninformation wurde laufend wiederholt und aktualisiert. Außerdem wurden die Ordnungsämter im betroffenen Bereich in Kenntnis gesetzt, damit diese die ansässigen Schulen informieren und zu entsprechendem Verhalten auffordern. Schließlich wurde wegen der vorherrschenden Windrichtung vorsorglich die Feuer- und Rettungsleitstelle des Oberbergischen Kreises über die Geruchsbelästigung und die wahrscheinliche Bewegungsrichtung informiert.

Die Berufsfeuerwehr Köln teilt mit, dass um 08.21 Uhr ein erster Informationsaustausch zwischen der Leitstelle der Feuerwehr Köln und der Leitstelle des Rhein-Sieg-Kreises stattfand.

Zu diesem Zeitpunkt lagen noch keine Erkenntnisse zum Ursprung der Geruchsbelästigung vor.