Wird der Zuzug von Juden aus den ehemaligen GUS-Staaten auch künftig ermöglicht?

Am 09.01.1991 beschlossen die Ministerpräsidenten der Länder die Aufnahme jüdischer Zuwanderinnen und Zuwanderer aus den GUS-Ländern auf der Grundlage des so genannten Kontingentflüchtlingsgesetzes. Auch der nordrhein-westfälische Landtag beschloss 2003 (Drucksache 13/3886) einstimmig, dass der Zuzug von Juden aus den GUS-Staaten auch künftig zu ermöglichen sei. Der Zuzug sei eine "erfreuliche Entwicklung" und ein Vertrauensbeweis für das demokratische Deutschland.

Bei der Ablösung des früheren Kontingentflüchtlingsgesetzes durch das Zuwanderungsgesetz wurde auch im Bundestag klargestellt, dass sich im Hinblick auf die Aufnahme jüdischer Emigrantinnen und Emigranten aus der ehemaligen Sowjetunion in Rechtslage und Aufnahmepraxis durch das Aufenthaltsgesetz nichts ändere (z.B. BT-Drucksache 14/8414). Dennoch kam es zu einem Beschluss der Innenministerkonferenz zu einer Änderung des Aufnahmeverfahrens, der von der Zusage begleitet wurde, auf jeden Fall eine einvernehmliche Lösung gemeinsam mit dem Zentralrat der Juden anzustreben.

In einem Umlaufbeschluss der Innenministerkonferenz vom 18. November 2005 wurden dennoch teils sehr strikte Aufnahmekriterien festgehalten. Diese sollen durch Länderverordnungen in Abstimmung zwischen Bund und Ländern noch einmal verschärft werden (z.B. Punktesystem zur Sozialprognose, faktischer Ausschluss alter Menschen, Nicht-Anwendung des ausländerrechtlichen Familienbegriffs, Notwendigkeit der Aufnahme durch eine jüdische Gemeinde) und zeitnah in Kraft treten.

Vor diesem Hintergrund frage ich die Landesregierung:

1. Ist der Zuzug von jüdischen Emigrantinnen und Emigranten im Sinne der Beschlüsse der Ministerpräsidenten der Länder und des Landtags Nordrhein-Westfalen aus Sicht der Landesregierung weiterhin erwünscht und im Interesse der Bundesrepublik Deutschland?

2. Warum wird der Zuzug durch die Beschlüsse der Innenministerkonferenz und den bislang unveröffentlichten Verordnungsentwurf, gerade auch für ältere jüdische Migrantinnen und Migranten derart erschwert?

3. Warum hat die nordrhein-westfälische Landesregierung den Härtefallerlass zur Aufnahme jüdischer Zuwanderinnen und Zuwanderer außerhalb des geregelten Verfahrens von 27. Juli 1993 aufgehoben?

4. Welche Position hat die Landesregierung bei den Verhandlungen über die Einschränkung des Zuzugs von jüdischen Migrantinnen und Migranten eingenommen?

Antwort des Innenministers vom 19. Juli 2006 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Generationen, Familie, Frauen und Integration:

Vorbemerkung:

Bis zum Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 01. Januar 2005 erfolgte die Aufnahme und Verteilung jüdischer Zuwanderer aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion auf der Grundlage eines Beschlusses der Regierungschefs des Bundes und der Länder vom 09. Januar 1991 in entsprechender Anwendung des Kontingentflüchtlingsgesetzes. Mit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes am 01. Januar 2005 trat das Kontingentflüchtlingsgesetz außer Kraft. Rechtsgrundlage für die Aufnahme Jüdischer Zuwanderer ist nunmehr § 23 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes. Voraussetzung für die danach mögliche Erteilung einer Niederlassungserlaubnis ist eine entsprechende Anordnung der obersten Landesbehörde, die ­ wegen der gebotenen bundeseinheitlichen Verfahrenspraxis ­ der Abstimmung zwischen den Ländern bedarf und die zudem an das Einvernehmen des Bundesministers des Innern geknüpft ist.

Am 18. November 2005 hat die Ständige Konferenz der Innenminister und ­senatoren der Länder (IMK) im schriftlichen Umlaufverfahren mit Wirkung vom 01. Oktober 2005 in Ergänzung ihres Umlaufbeschlusses vom 29. Dezember 2004 und auf der Grundlage ihres Beschlusses vom 24. Juni 2005 einen Beschluss zur Aufnahme und Verteilung jüdischer Zuwanderer und ihrer Familienangehörigen aus der ehemaligen Sowjetunion mit Ausnahme der baltischen Staaten gefasst.

Mit diesem Beschluss wurden die notwendigen Voraussetzungen für eine Anpassung des Aufnahmeverfahrens an die neue Rechtsgrundlage geschaffen.

Inhaltlich wird im Rahmen des Aufnahmeverfahrens zwischen folgenden Fallgruppen differenziert:

1. Altfälle (Aufnahmezusage eines Landes wurde bereits vor dem 01. Januar 2005 zugestellt);

2. Erteiltfälle (Aufnahmezusage eines Landes wurde vor dem 01. Januar 2005 bereits erteilt, aber noch nicht zugestellt);

3. Übergangsfälle I (vor dem 01. Juli 2001 gestellte Anträge auf Erteilung einer Aufnahmezusage, ohne dass eine solche vor dem 01. Januar 2005 erteilt worden ist);

4. Übergangsfälle II (nach dem 30. Juni 2001 und vor dem 01. Januar 2005 gestellte Anträge auf Erteilung einer Aufnahmezusage, ohne dass eine solche vor dem 01. Januar 2005 erteilt worden ist);

5. Neufälle (ab dem 01. Oktober 2005 neu gestellte Anträge auf Erteilung einer Aufnahmezusage).

Während die Zuständigkeit für die Erteilung der Aufnahmezusagen in den Fallgruppen 1. ­ 3. (Alt-, Erteilt- und Übergangsfälle I) weiterhin bei den Ländern liegt, soll die Zuständigkeit zur Erteilung der Aufnahmezusage in den Fallgruppen 4. und 5. (Übergangsfälle II und Neufälle) - vorbehaltlich einer Änderung des Aufenthaltsgesetzes ­ auf das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge übergehen.

Mit Erlass vom 27. März 2006 hat das Innenministerium des Landes NRW im Einvernehmen mit dem Bundesminister des Innern und nach Abstimmung mit dem Ministe rium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes NRW den Umlaufbeschluss vom 18. November 2005 umgesetzt und für die in die Zuständigkeit der Landes Nordrhein-Westfalen fallenden Alt-, Erteilt- und Übergangsfälle I eine Anordnung gem. § 23 Abs. 1 und 2 Aufenthaltsgesetz getroffen.

Dies vorausgeschickt, werden die Fragen wie folgt beantwortet:

Zur Frage 1:

Ja.

Zur Frage 2:

Die durch die IMK - nach Beteiligung des Zentralrats der Juden und der Union Progressiver Juden - am 18. November 2005 beschlossene Modifizierung der Aufnahmekriterien hat zum Ziel, die Zuwanderung mit Blick auf die begrenzten Aufnahmekapazitäten der Länder, der Kommunen und der Jüdischen Gemeinden besser zu steuern und Integrationserfordernissen verstärkt Rechnung zu tragen. Verbesserte Integrationschancen für die Zuwanderer und ihre Familienangehörigen sollen zu einer Stärkung des jüdischen Gemeindelebens in Deutschland beitragen.

Berechtigten Vertrauensschutzinteressen der Betroffenen wird durch die nach Fallgruppen differenzierte Regelung des Aufnahmeverfahrens Rechnung getragen: so finden wesentliche Veränderungen des Aufnahmeverfahrens (z.B. die künftig erforderliche Integrationsprognose, künftig erforderliche Grundkenntnisse der deutschen Sprache) auf die in den Vorbemerkungen erwähnten Alt-, Erteilt- und Übergangsfälle I noch keine Anwendung.

Darüber hinaus sieht der IMK-Umlaufbeschluss vom 18. November 2005 für die erwähnten Übergangsfälle II in Bezug auf verschiedene Aufnahmekriterien eine Härtefallregelung vor.

Im Hinblick auf die künftig geforderten Grundkenntnisse der deutschen Sprache besteht generell die Möglichkeit, Härtefälle geltend zu machen.

Bei Opfern nationalsozialistischer Verfolgung wird auf die Aufnahmevoraussetzungen der Erwartung einer eigenständigen Sicherung des Lebensunterhaltes und der Sprachkenntnisse ohne Einschränkung verzichtet.

Auf Bitten der IMK hat das Bundesministerium des Innern einen Beirat eingerichtet, dem Vertreter des Auswärtigen Amtes, des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, der Länder, des Bundesministeriums des Innern sowie des Zentralrats der Juden in Deutschland und der Union Progressiver Juden angehören. Nordrhein-Westfalen ist durch das Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration im Beirat vertreten. Aufgaben dieses unter Vorsitz des Bundesministeriums des Innern geführten Beirats sind die Vorbereitung, Begleitung und Überprüfung des künftigen Aufnahmeverfahrens unter Berücksichtigung der Aufnahme- und Integrationsmöglichkeiten der Länder und Kommunen sowie der jüdischen Gemeinden. Angelegenheit des Beirates ist dabei insbesondere die Entwicklung von Kriterien für die Prognosestellung hinsichtlich der erwarteten eigenständigen Sicherung des Lebensunterhaltes und für die zuvor beschriebenen Härtefallentscheidungen. Der Beirat hat seine

Tätigkeit inzwischen aufgenommen. Ein die Aufnahmekriterien verschärfender Verordnungsentwurf ist hier indes nicht bekannt.

Zur Frage 3:

Im IMK-Umlaufbeschluss vom 18. November 2005 ist festgelegt, dass die Länder außerhalb des durch Umlaufbeschluss der IMK vom 29. Dezember 2004 und des durch Umlaufbeschluss vom 18. November 2005 geregelten Verfahrens keine jüdischen Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion aufnehmen. Der Beschluss der IMK vom 14. Mai 1993 ­ Aufnahme außerhalb des geregelten Verfahrens eingereister jüdischer Zuwanderer und ihrer Familienangehörigen in besonderen Härtefällen ­ wurde mit Wirkung vom 01. Januar 2005 für gegenstandslos erklärt. Diese Vorgabe des IMK-Beschlusses vom 18. November 2005 hat das IM NRW durch die im Erlass vom 27. März 2006 verfügte Aufhebung des Erlasses vom 27. Juli 1993 umgesetzt.

Im Übrigen besteht infolge der beabsichtigten Verlagerung der Zuständigkeit für das Aufnahmeverfahren auf den Bund kein Raum mehr für ländereigene Härtefallregelungen.

Zur Frage 4:

Die Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen trägt die unter Beteiligung des Zentralrats der Juden und der Union Progressiver Juden ausgearbeiteten und im IMK-Beschluss vom 18. November 2005 niedergelegten Kriterien zur künftigen Ausgestaltung des Verfahrens zur Aufnahme und Verteilung jüdischer Zuwanderer und ihrer Familienangehörigen aus der ehemaligen Sowjetunion mit Ausnahme der baltischen Staaten mit. Sie begrüßt es, dass mit diesem Beschluss die Voraussetzungen geschaffen sind, die Aufnahme jüdischer Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion ­ mit Ausnahme der baltischen Staaten ­ nach Deutschland auf der Grundlage des Aufenthaltsgesetzes fortzuführen.