Rechtslage zur Förderung von Kindern mit Lese- / Rechtschreibschwäche in NRW

Aus zahlreichen Berichten sind mir Fälle von Schülerinnen und Schülern mit Schwierigkeiten im Erlernen des Lesens und Rechtschreibens und deren Schwierigkeiten im Schulalltag bekannt. Insgesamt sind in Deutschland von jedem Jahrgang 100.000 Kinder von einer LeseRechtschreibschwäche betroffen. Es ist davon auszugehen, dass alleine 25.000 Kinder in NRW jedes Jahr zusätzlich Hilfe benötigen würden. Statistisch befindet sich in jeder Schulklasse ein Kind mit diesem Handikap. Nach Ansicht vieler Experten bleibt Legasthenie eine "lebenslange Behinderung".

Allerdings weisen neueste Studien (z. B. die Tewes-Studie) nach, dass durch gezielte Fördermaßnahmen massive Leistungsverbesserungen erzielt werden können. Nordrhein Westfalen weist im Gegensatz zu Bayern erhebliche Defizite auf in Bezug auf konkrete Fördermaßnahmen. Auch, wenn die Landesregierung sagt, dass besondere Rechtschreibschwierigkeiten allein kein Grund seien, dass Schüler den angestrebten Abschluss nicht erreichen, so klafft in Theorie und Wirklichkeit eine nicht unerhebliche Lücke.

Die Praxis zeigt, dass viele Pädagogen im Umgang mit Legasthenie-Schülern und Schülerinnen überfordert bzw. allein gelassen sind. Eine bessere Einbindung der Belange von Legasthenikern in Lehrpläne und in Lehrerausbildung sind unverzichtbar, wenn wir es mit der individuellen Förderung von Kindern wirklich ernst meinen. Schüler und Schülerinnen mit Legasthenie sind in besonderer Weise auch in den Fremdsprachen gehandikapt: Während das Erlernen von Grammatik im Vergleich zu anderen Schülern vergleichbar gut funktioniert, fällt ihnen das Vokabel lernen extrem schwer und auch Übersetzungen, die mehrere sprachliche Fähigkeiten gleichzeitig erfordern, stellen eine außergewöhnlich hohe Belastung dar.

Daher ist es ratsam, klare und eindeutige Vorgaben für Pädagogen fächerübergreifend im Umgang mit Legastheniekindern zu machen. Wertvolle Zeit für eine gezielte Förderung solcher Kinder geht sonst verloren. Je höher der Intelligenzquotient der Kinder ist, umso länger können sie zudem kompensatorische Strategien entwickeln oder aufrechterhalten. Daher fallen die Defizite bei intelligenten Kindern oft lange nicht auf.

Die Vorgaben des neuen Schulgesetzes gehen im Leitgedanken von einer individuellen Förderung aller Kinder aus. Dies müsste in der Konsequenz bedeuten, dass auch Kinder mit einer Legasthenie in der Schule - nicht von schulfremden Instituten -, die für sie erforderliche Förderung erhalten.

Die neueren Forschungen gehen davon aus, dass zwischen einer vorübergehenden Leseund Rechtschreibschwäche (LRS) und einer Lese- und Rechtschreibstörung (Legasthenie) mit teilweise hirnorganisch bedingten, gravierenden Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitsstörungen unterschieden werden muss. Insofern ist der gültige Erlass von NRW nicht auf dem neuesten Stand der Forschung. So sind die Regelungen zur Legasthenie in den Bundesländern deutlich verschieden. Die Gleichheit der Lebensverhältnisse ist damit nicht gewahrt. So steht Schüler und Schülerinnen mit einer schweren Legasthenie in Bayern bei Klassenarbeiten 50% mehr Zeit zum Schreiben der Klassenarbeiten zur Verfügung. Auch die sonstigen Regelungen sind deutlich abweichend von den Regelungen in NRW. Daher frage ich die Landesregierung:

1. Der Runderlass "Förderung von Schülerinnen und Schülern bei besonderen Schwierigkeiten im Erlernen des Lesens und Rechtschreibens (LRS)" vom 19. Juli 1991 stellt die verbindliche Vorgabe für die Schulen der Primarstufe und der Sekundarstufe I dar. Die Schülerinnen der Sekundarstufe II finden keine Berücksichtigung. Sieht die Landesregierung aufgrund der neueren Forschung im Bereich Legasthenie die Notwendigkeit, den entsprechenden Erlass zu überarbeiten?

2. Trifft es zu, dass eine Berücksichtigung einer schweren Legasthenie bei den Schulformen der Sekundarstufe II in Bayern gewährleistet wird, in NRW allerdings nicht?

3. Welche schulinternen Angebote zur Förderdiagnostik sowie zur Förderung von Kindern mit LRS kommen in NRW zur Anwendung?

4. Welche Überlegungen bestehen in der Landesregierung, auf die neuen Ergebnisse durch eine Veränderung der Rechtslage zu reagieren?

5. Welche Bedeutung spielt die Förderung von Kindern mit Lese-Rechtschreibeschwäche in der Lehreraus-/Lehrerfort- und Lehrerweiterbildung?

Antwort der Ministerin für Schule und Weiterbildung vom 2. November 2006 namens der Landesregierung:

Zu den Fragen 1, 2 und 4:

In Bayern wird in Abschlusszeugnissen einer Schulart bei Schülern mit einer gutachterlich festgestellten Legasthenie bei der Notenbildung für das Fach Deutsch von einer Bewertung der Rechtschreibleistung abgesehen. Bei Schülern mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche, deren Teilleistungsstörung bis zum Abschluss der Schule nicht vollends behoben werden konnte, können bei der Notenbildung im Fach Deutsch die Leistungen im Lesen und Rechtschreiben zurückhaltend gewichtet werden.

In Nordrhein-Westfalen sind bei der Bewertung schriftlicher Arbeiten in der gymnasialen Oberstufe Verstöße gegen die sprachliche Richtigkeit in der deutschen Sprache und gegen die äußere Form angemessen zu berücksichtigen. Gehäufte Verstöße führen zur Absenkung der Leistungsbewertung um eine Notenstufe.

Im Bereich der Sekundarstufe II ist bisher in besonders schweren Fällen von LRS in Einzelfallentscheidungen durch die Obere Schulaufsicht eine Verlängerung des Bearbeitungszeitraums genehmigt worden. In vereinzelten Fällen ist auch die sprachliche Richtigkeit der Klausuren einer betroffenen Schülerin oder eines betroffenen Schülers nur begrenzt in die Beurteilung einbezogen worden. Dies wurde grundsätzlich jeweils mit dem Hinweis verbunden, dass die Defizite kontinuierlich während des Besuchs der gymnasialen Oberstufe abzubauen sind und dass o.g. Maßnahmen im Rahmen der Abschlussprüfungen nicht zur Anwendung kommen können.

Besondere Schwierigkeiten im Rechtschreiben allein stellen keinen Grund dar, dass eine Schülerin oder ein Schüler einen angestrebten Abschluss nicht erreicht.

Zur Frage 3:

Eine stichprobenartige Abfrage bei der Schulaufsicht zeigt, dass zur Diagnostik der Einsatz der Hamburger Schreibprobe weit verbreitet ist. Sie liegt in verschiedenen Versionen für die Zeit von Mitte Klasse 1 bis Ende Klasse 9 mit bundesweiten Vergleichswerten vor.

Die Entwicklung eines aus der Diagnose abgeleiteten Förderkonzepts ist Aufgabe der einzelnen Schule. Schulbezogene Daten über Umfang und Inhalt der Maßnahmen sowie über die dabei zur Anwendung kommenden Materialien liegen der Landesregierung nicht vor und können mit einem vertretbaren Verwaltungsaufwand auch nicht erhoben werden.

Zur Frage 5:

Der Ausgestaltung des Erst-Lese- und Schreibunterrichts kommt in der Lehrerausbildung eine wichtige Bedeutung zu. So müssen alle Studierenden im Lehramtsstudiengang für das Lehramt an Grund-, Haupt- und Realschulen und den entsprechenden Jahrgangsstufen der Gesamtschule mit dem Schwerpunkt Grundschule das Fach Deutsch entweder als Unterrichtsfach oder konzentriert auf die didaktischen Grundlagen studieren. Für Studierende des Schwerpunkts Haupt- und Real schulen und den entsprechenden Jahrgangsstufen der Gesamtschule ist das Studium der didaktischen Grundlagen der Fächer Deutsch oder Mathematik obligatorisch. Verbunden mit dem Erwerb diagnostischer Kompetenzen, der ein wesentliches Ziel des erziehungswissenschaftlichen Studiums ist, werden die Grundlagen gelegt für das Erkennen von Lese-Rechtschreibschwierigkeiten und der Konzeption sich daraus ergebender Fördermaßnahmen. Diese Thematik wird auch im Rahmen der zweiten Phase der Lehrerausbildung aufgegriffen und vertieft.

In der Lehrerfort- und -weiterbildung wird die Förderung von Schülerinnen und Schülern bei besonderen Schwierigkeiten im Erlernen des Lesens und Rechtschreibens in unterschiedlichen Maßnahmen thematisiert. Dazu zählen auch Angebote zur Erweiterung diagnostischer Kompetenzen von Lehrkräften. Schulen haben zudem seit 2004 die Möglichkeit, mit den ihnen zur Verfügung gestellten Fortbildungsbudgets themenspezifische Fortbildungsangebote zu organisieren.