Jugendgerichtsgesetz konsequent anwenden und speziell ausgerichtete Einrichtungen als vorrangige Alternativen zur U-Haft anbieten!

Untersuchungshaft gilt als das schärfste strafprozessuale Zwangsmittel, das nur als ultima ratio eingesetzt werden darf. Nach dem Jugendgerichtsgesetz (JGG) kommt Untersuchungshaft allein dann in Betracht, wenn ihr Zweck durch keine andere Maßnahme erreicht werden kann (§ 72 JGG). Zweck der U-Haft ist ausschließlich die Sicherung des Strafverfahrens und die Vermeidung der Wiederholungsgefahr; erzieherische Funktionen dürfen mit ihr nicht verfolgt werden.

Bei jeder Haftentscheidung ist die Jugendgerichtshilfe zu beteiligen. So verlangt das Jugendgerichtsgesetz nach § 72 a, dass, wenn ein Haftentscheidungstermin ansteht, die Jugendgerichtshilfe unverzüglich von der Polizei und Staatsanwaltschaft angerufen werden muss, um Informationen über den betreffenden Jugendlichen einzuholen. Auch im Zusammenhang mit der einstweiligen Unterbringung nach § 71 Abs. 2 JGG wird in den dazugehörenden bundeseinheitlichen Richtlinien betont:" Die Jugendgerichtshilfe ist heranzuziehen."(Nach einem Erlass in NRW ist die Unterrichtung in den Akten unter Angabe von Datum, Uhrzeit und Namen nebst Telefonnummer der mit den Aufgaben der Jugendgerichtshilfe betrauten Fachkraft der Jugendhilfe zu vermerken).

Beide gesetzlichen Vorgaben werden in der Realität allerdings nicht immer beachtet.

Die Beteiligung bei der Haftentscheidung durch die Jugendgerichtshilfe wird nicht in der notwendigen Art und Weise umgesetzt. Werden Jugendliche von der Polizei in Gewahrsam genommen, haben die Beteiligten (Haftrichter, Jugendgerichtshilfe, Anbieter von U-Haft

Vermeidung) maximal 24 Std. zur Verfügung, um eine Entscheidung herbeizuführen. Das gilt auch für die Wochenenden. Sehr selten ist die Kooperation bei der Haftentscheidung so, dass die Jugendgerichtshilfe rechtzeitig vorher informiert wird und die Erkenntnisse bezogen auf die Jugendlichen einbringen kann.

Folglich kann die Jugendgerichtshilfe auch dem Jugendrichter keine Alternativeinrichtung aufzeigen. Hinzu kommt, dass nur die wenigsten Richter und Richterinnen von diesen Einrichtungen Kenntnis haben. Somit fehlt es an zwei Informationssträngen.

Was die Untersuchungshaft anbelangt, so ist festzuhalten, dass sie verheerende Auswirkungen auf die spätere Entwicklung des Jugendlichen haben kann. Sie bedeutet immer eine besondere Belastung, wie es das Gesetz in § 72 JGG selbst formuliert und stellt eine echte Stigmatisierung dar.

Die Erfahrung von U-Haft bedeutet die größte Strafe; sie bedeutet auch die größte Gefahr, die kriminelle Karriere zu verfestigen, da kaum eine andere Perspektive diskutiert wird.

Die Praxis der verhängten U-Haft bei Jugendlichen und Heranwachsenden zeigt jedoch, dass die Intention der §§ 71, 72 JGG häufig ins Gegenteil verkehrt wird. So erscheinen unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit, die immer noch hohen Anteile von Vermögensdelikten im weiteren Sinn und kurzer Haftdauer bei Jugendlichen mit Untersuchungshaft problematisch.

Diese Gegebenheiten wurden im Expertengespräch im Rechtsausschuss am 14.6. durch kompetente Wissenschaftler bestätigt.

Um dem Grundgedanken des § 72 JGG Rechnung zu tragen, sind daher alle Alternativen zur U-Haft auszuschöpfen. Dazu gehören insbesondere die Unterbringungseinrichtungen der Jugendhilfe. Sie leisten stationäre (auch in geschlossenen Gruppen) und teilstationäre, sowie ambulante Hilfe für Jugendliche, die sich nachhaltig jedem erzieherischen Einfluss entziehen.

Während die Gruppe der schwer erziehbaren Kinder und Jugendlichen eine Orientierungshilfe für ein geregeltes Leben und die Rückkehr in die Familie benötigt, stellt der bereits kriminelle Jugendliche eine ganz andere Herausforderung an die Jugendhilfe dar. Um den besonderen Bedürfnissen der kriminell auffälligen Jugendlichen gerecht zu werden, reicht eine normale Regelgruppe nach dem KJHG nicht aus: Anders als die Regelgruppe muss eine solche Einrichtung flexibel auf die Besonderheiten des Alltags dieser Personengruppe reagieren können, der z. B. unterbrochen wird durch die Durchführung von spontanen Aufnahmen, kurzfristige Abholung und Aufnahme in der Gruppe. Damit verbunden ist ein erheblicher organisatorischer Aufwand innerhalb der Einrichtung.

Hinzu kommt ein spezieller Aufwand innerhalb des Betreuungszeitraums durch die notwendige Vernetzung der Beteiligten, wie Eltern, Schule und dergleichen auch die Bewährungshilfe, Anwälte und die Jugendgerichtshilfe.

Auch das besondere Fachwissen über das Jugendgerichtsgesetz und das spezielle Verfahren ist in diesen spezialisierten Einrichtungen vorhanden.

Aus unserer Sicht ist die Unterbringung in einer spezialisierten Einrichtung der Jugendhilfe auf Grund der besonderen Bedürfnisse zielführender als in einer integrativen Einrichtung.

Hervorragend geeignet sind Intensivwohngruppen wie z. B. die Projekte "Stop and Go" in Iserlohn, Herne und seit Mitte August auch in Solingen. Dort werden jeweils 6 Jugendliche 24 Stunden am Tag durch ein multiprofessionelles Mitarbeiterteam intensiv pädagogisch betreut. Die genannten Anforderungen an die Arbeit mit dieser besonderen Gruppe delinquen ter Jugendlicher werden berücksichtigt. Neben dem Aufbau der emotionalen Stabilität und der Erweiterung der seelischen, beruflichen bzw. schulischen Kompetenz werden die Jugendlichen durch ein großes Maß an Präsenz und auch spezifischer Kompetenz der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort gezwungen, über ihr Verhalten und über ihr Vorgehen zu reflektieren.

Der Landtag stellt fest:

Die Justiz wendet das Jugendgerichtsgesetz nicht konsequent an. Das JGG schreibt die UHaft als ultima ratio fest. Dies bedeutet, dass alle anderen Möglichkeiten der Unterbringung vorrangig auszuschöpfen sind. Um dem Rechnung zu tragen, sind die bundeseinheitlichen Richtlinien zur pflichtgemäßen Beteiligung der Jugendgerichtshilfe vor jeder Haftentscheidung einzuhalten. Dies sorgt für künftige Verfahrenssicherheit durch Informationen, Berichte, Kontakt untereinander und somit einem notwendigen Mehr an Transparenz.

Unter dieser Prämisse sind die bisher in NRW vorhandenen drei, besonders auf delinquente Jugendliche ausgerichteten Projekte (zwei in Westfalen und eins im Rheinland) zur Haftvermeidung zwar hervorragend, aber nicht ausreichend.

Zur Vermeidung von U-Haft bei jugendlichen Straftätern ist daher ein weiteres gesondertes Projekt (wie z. B. "Stop and Go" in Iserlohn) im Rheinland sinnvoll.

Der Landtag fordert die Landesregierung auf:

1. dafür für Sorge zu tragen, dass das Jugendgerichtsgesetz in Fragen der Haftentscheidung von delinquenten Jugendlichen konsequent angewendet wird. Damit ist verbunden, dass alle an der Entscheidung zur U-Haft Beteiligten über die Richtlinien informiert werden sollen.

2. bei jeder Haftentscheidung die Jugendgerichtshilfe zu beteiligen.

3. Richterinnen und Richter umfassend über die Alternativen zur U-Haft in NRW zu informieren.

4. ein weiteres spezialisiertes Modell-Projekt wie die Haftvermeidungsprojekte Halfeshof oder "Stop and Go" im Rheinland bereit zu stellen und hierfür die entsprechenden finanziellen Rahmenbedingungen zu schaffen.