Mangelhafte Ausbildung und Schulabbrecher in NRW - Wie setzt die Landesregierung den Anspruch auf individuelle Förderung um und schließt Ausbildungslücken?

Mitte der 60er Jahre verließ jeder Fünfte die allgemein bildende Schule ohne Abschluss. Eine ordentliche Karriere war damit nicht ausgeschlossen. Sogar der Weg ins höchste Staatsamt war für Schulabbrecher nicht versperrt: "Ich bin auch ein Schulabbrecher", machte der verstorbene Bundespräsident Johannes Rau noch im Jahr 2004 den Besuchern einer Berliner Lehrstellenmesse Mut.

Wer heute ohne Zeugnis die Schule verlässt, kann in der Regel die Hoffnung auf einen Ausbildungsplatz ganz und auf einen anschließenden Job praktisch abschreiben. "Ohne abgeschlossene Erstausbildung haben Jugendliche in der globalisierten Arbeitswelt kaum noch Chancen", sagt Andreas Schleicher, Koordinator der internationalen Bildungsstudie PISA. Jeder vierte Schulabbrecher ist als Erwachsener von Armut betroffen. Die Kosten der mangelnden Effizienz im Bildungssystem beziffern die Kölner IW-Experten auf jährlich 3,7 Milliarden Euro.

Rund zehn Prozent eines Jahrgangs gehen laut einer Studie des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) in Deutschland ohne Zeugnis von der Schule ab. Zu den über 82.

Schulabbrechern gesellen sich noch 130.000 bis 140.000 "Risikoschüler" - junge Menschen mit Abschluss, aber "ohne die notwendigen Kompetenzen im Sinne einer Ausbildungsreife", wie es in der IW-Studie heißt. In Nordrhein-Westfalen sind es danach jährlich rund 50.

Risikoschüler und Schülerinnen, die ohne die erforderlichen Qualifikationen die Schulen verlassen.

Die Probleme entstehen zu einem großen Teil an den Hauptschulen und Förderschulen im Land. Auch diese Schüler und Schülerinnen müssen in einer globalen Wissensgesellschaft eine Perspektive für ihr Leben erhalten. Diese Schüler und Schülerinnen werden sonst anschließend zu einem großen Teil zur „Bugwelle" der Jugendlichen, die ohne Chance auf einen Ausbildungsplatz bleiben. Dieses Schicksal ist nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Gesellschaft untragbar.

Verschärft wird die Problematik durch die permanent steigenden Anforderungen: Die Schere zwischen Jugendlichen, die ohne Hilfe keinen Einstieg mehr ins Berufsleben schaffen, und Unternehmen, die immer höhere Anforderungen an ihre Mitarbeiter stellen, öffnet sich zusehend, sagte kürzlich der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertages (DIHK), Georg Ludwig Braun, in einem Interview.

Andreas Schleicher von der OECD hält eine entscheidende Änderung bei der Schulpflicht für unverzichtbar. "Die Schulpflicht sollte nicht mehr zeitlich sondern am erreichten Bildungsziel gemessen werden", fordert er.

Ich frage daher die Landesregierung:

1. Wie will die Landesregierung ihrer Verpflichtung der „individuellen Förderung" aus dem Schulgesetz zukünftig in Hinblick darauf nachkommen, dass alle Schüler und Schülerinnen die Schule mit ausreichenden Kenntnissen und Fähigkeiten verlassen?

2. Wie will die Landesregierung die Schere zwischen den wachsenden Ansprüchen der Unternehmen an die jungen Menschen und dem tatsächlichen Ausbildungsstand schließen?

3. Wie bewertet die Landesregierung den Vorschlag von Andreas Schleicher, die Schulpflicht sollte sich nicht an der im System verbrachten Zeit, sondern an den erreichten Bildungszielen definieren?

4. Wie viele Schüler und Schülerinnen in NRW haben im Sommer 2006 die allgemeinbildenden Schulen ohne Abschluss bzw. mit unzureichenden Kenntnissen verlassen (absolut und in % der Abgänger aufgeschlüsselt nach Schulformen)?

5. Wie viele Schüler und Schülerinnen an berufsbildenden Schulen bleiben in NRW jährlich ohne Abschluss?

Antwort der Ministerin für Schule und Weiterbildung vom 2. März 2007 namens der Landesregierung im Einvernehmen mit dem Minister für Arbeit, Gesundheit und Soziales:

Zur Frage 1:

Die individuelle Förderung dient dem Ziel, alle Kinder und Jugendlichen nach ihren jeweiligen Fähigkeiten, Neigungen und Leistungen bestmöglich zu fördern. Hierzu tragen insbesondere folgende Maßnahmen bei: Bereitstellung von Integrationsstellen, Sprachstandstests (im Vorschulalter und in der Schuleingangsphase), Ergänzungsstunden für individuelle Förderung in der Sekundarstufe I, landesweite Lernstandserhebung, die Initiative Gütesiegel individuelle Förderung und die Qualitätsanalyse. Außerdem trägt der erhebliche Abbau des Unter

richtsausfalls, eine Leistung der neuen Landesregierung, ebenfalls zur Sicherung des Rahmens für die Individuelle Förderung bei.

Zur Frage 2:

Im Ausbildungskonsens NRW werden seitens der Landesregierung und der Sozialpartner laufend geeignete Maßnahmen beraten und vereinbart, damit junge Menschen anspruchsgerecht und erfolgreich in Ausbildung und Beruf einmünden.

Zur Frage 3:

Das Schulgesetz bestimmt den zeitlichen Rahmen der Schulpflicht und den staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag. Die Qualität der Schulabschlüsse orientiert sich an Standards, insbesondere der KMK. Zentrale Abschlussprüfungen objektivieren die erreichten Bildungsziele. Damit wird sowohl der Schulpflicht als auch den zu erreichenden Bildungszielen Rechnung getragen. Außerdem hat der Landesgesetzgeber im novellierten Schulgesetz in § 37, Abs. 2 eine flexible Regelung für die Sekundarstufe I geschaffen, der zufolge Jugendliche bereits nach neun Schulbesuchsjahren in ein Berufsausbildungsverhältnis eintreten können.

Zur Frage 4:

Zu Beginn des Schuljahres 2006/07 hatten 14.383 Jugendliche, das sind 6,6 %, keinen allgemeinbildenden Schulabschluss. Darunter sind jedoch 6.694 Abgänger/innen, die ein Abschluss- bzw. Abgangszeugnis der Förderschule „Geistige Entwicklung" bzw. „Lernen" oder ein Abschlusszeugnis der Waldorfschule erhalten haben (s. Tabelle):

Die Zahl der Schülerinnen und Schüler, die einen Bildungsgang ohne Abschluss verlassen, ist nicht aussagefähig, weil dabei der zuvor erreichte schulische Abschluss nicht erfasst bzw. nicht berücksichtigt wird, dass viele Schülerinnen und Schüler Bildungsgänge des Berufskollegs vorzeitig, d. h. ohne Abschluss verlassen, weil sie eine duale Berufsausbildung beginnen.