Beschulung von Kindern mit Gilles-de-la-Tourette Syndrom und in ihrer Symptomatologie ähnlichen Krankheitsbildern
Nach Mitteilung der Betroffenen mehren sich Berichte, dass es an hessischen Schulen nicht immer gelingt, Kinder, die an neurologischen Erkrankungen mit besonderen Verhaltensauffälligkeiten leiden, ihrer intellektuellen Begabung entsprechend in den Regelunterricht zu integrieren.
Diese Vorbemerkung der Fragesteller vorangestellt, beantworte ich die Kleine Anfrage im Einvernehmen mit der Sozialministerin wie folgt:
Frage 1. Welche Krankheitsbilder gibt es aus dem Bereich der neurologischen Erkrankungen, die bereits im Kindesalter auftreten, keine regelhaften intellektuellen Veränderungen umfassen und eine besondere Auffälligkeit auch im Rahmen des Schulbesuchs bedeuten können?
Neben dem direkt angesprochenen Gilles-de-la-Tourette-Syndrom (TS) gibt es noch weitere Tic-Erkrankungen unterschiedlicher Ausprägung. Das Gillesde-la-Tourette-Syndrom ist das auffälligste dieser Krankheitsgruppe. TicSyndrome sind generell gekennzeichnet durch das Auftreten multipler motorischer Tics und Vokaltics. Unter einem Tic versteht man eine unwillkürliche, plötzliche, schnelle, wiederholte, arhythmische stereotype Bewegung, Zuckungen von Muskelgruppen (Blinzeln, Schulterhochziehen etc.) oder Lautäußerungen (Schniefen, Grunzen, Tierlaute etc.), die sich bei dem TouretteSyndrom bis zur Koprolalie (Ausstoßen von Wörtern der Fäkalsprache) steigern können.
Tics können über einen längeren Zeitraum unterdrückt werden, müssen aber gelegentlich, wie unter Zwang, immer wieder begonnen werden. Ein offensichtlicher Zweck ist mit den unwillkürlichen Muskelbewegungen und Lautäußerungen nicht verbunden. Bei emotionaler Erregung (Freude oder Ärger), bei innerer Anspannung und Stress können sich die Symptome typischerweise verstärken.
Die Ursachen der Tic-Syndrome sind völlig unbekannt. In einzelnen Fällen wird eine Entzündung des Gehirns (postinfektiöse Enzephalitis) diskutiert.
Auch die Möglichkeit einer genetischen Veranlagung kann nicht ausgeschlossen werden. Falls in einer Familie bereits ein Tic-Syndrom vorliegt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Junge die Symptomatik entwickelt, drei- bis viermal höher (so genannte Knabenwendigkeit) als bei einem Mädchen.
Tic-Syndrome sind eine Erkrankung des Kindes- und Jugendalters. Sie treten meistens im Alter von 7 Jahren bis 18 Jahren auf und können vorübergehender Natur sein, aber auch chronisch werden. Bei einem Drittel der Patienten verschwindet die Symptomatik bis zum 20. bis 26. Lebensjahr; bei einem Drittel tritt eine deutliche Besserung ein. Die Tic-Erkrankung ist in vielen Fällen vergesellschaftet mit einer Zwangssymptomatik und/oder einem Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADHD).
Frage 2. Von welcher Häufigkeit des Auftretens solcher Erkrankungen bei hessischen Schulkindern muss unter Berücksichtigung auch geringfügiger, leicht in ihrem Krankheitswert zu übersehenden Ausprägungen nach heutigem Wissensstand ausgegangen werden?
Über die Häufigkeit des Auftretens solcher Erkrankungen bei hessischen Schulkindern wird keine Statistik geführt. Bisher sind lediglich einzelne Fälle bekannt geworden, genaue Zahlen für Hessen liegen nicht vor.
Frage 3. Trifft es zu, dass auch für Kinder mit Erkrankungen, die eine vorübergehende Störung des Unterrichts nach sich ziehen können, ein Anspruch auf angemessene Beschulung in der Regelschule besteht?
Ja, auch für Kinder mit Erkrankungen, die eine vorübergehende Störung des Unterrichts nach sich ziehen können, trifft dies gemäß dem Hessischen Schulgesetz zu.
Frage 4. Welche Regelungen finden für solche Fälle Anwendung, um sicherzustellen, dass eine angemessene Beschulung in der Regelschule erfolgt?
Die erforderlichen Entscheidungen werden auf der Grundlage des Hessischen Schulgesetzes vor Ort bei den Staatlichen Schulämtern, gegebenenfalls in Kooperation mit den Schulpsychologen, getroffen. Je nach individueller Ausgangslage kann z. B. entschieden werden, ob und in welchem Ausmaß sonderpädagogischer Förderbedarf nach §§ 49 ff. Hessisches Schulgesetz besteht.
TS ist nicht gleichbedeutend mit einer Minderung der intellektuellen oder körperlichen Leistungen. Generell gilt auch, dass Menschen mit diagnostiziertem Tourette-Syndrom keine Gefahr für die Umwelt bedeuten. Aggressionen scheinen eher im Zusammenhang mit Autoaggression zu stehen.
Frage 5. Gibt es Fälle und wenn ja, wie viele und mit welcher Begründung, in denen Kinder aufgrund einer solchen Erkrankung vom Unterricht ausgeschlossen wurden oder ein Schulwechsel oder der Besuch einer Sonderschule nahegelegt wurde?
Hierzu liegen keine Erkenntnisse vor. Auf die Antworten zu den Fragen 2 und 4 wird verwiesen.
Frage 6. Ist die Landesregierung der Auffassung, dass dies der angemessene Umgang mit erblichen oder erworbenen, nur bedingt therapeutisch beeinflussbaren Erkrankungen ist oder wäre, und wenn ja, wie begründet sich diese Auffassung, wenn nein, welche Maßnahmen wird sie ergreifen, um einem solchen Missstand abzuhelfen?
Da den Staatlichen Schulämtern in Hessen bis jetzt nur vereinzelte Fälle des Auftretens des Tourette-Syndroms bekannt sind, lässt sich keine allgemein gültige Beurteilung zu dessen Handhabung geben. In Übereinstimmung mit dem Hessischen Sozialministerium wird auf die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und- psychotherapie verwiesen. Dementsprechend wird nach ausführlicher Diagnostik folgendes multimodales, therapeutisches Vorgehen empfohlen, das je nach Schweregrad ambulant oder stationär durchgeführt werden kann:
1. Aufklärung und Beratung der Betroffenen und, falls erforderlich und erwünscht, von Lehrern, Arbeitgebern etc. Dies dient dazu, Verständnis für die Symptomatik und deren Verstärkung unter Stress zu vermitteln.
2. Bewältigungsstrategien für Symptomatik, Spannungssituationen, Begleitstörungen, Schuldgefühle (bei familiärer Belastung), Erziehungsfragen etc.
3. Pharmakotherapie: Indikationsstellung abhängig von Art und Genese der Tic-Störung, deren psychosoziale Auswirkung, Vorkommen komorbider Störungen und dem Nebenwirkungsprofil der infrage kommenden Medikamente.
4. Die Pharmakotherapie kann gegebenenfalls die Tic-Symptomatik deutlich lindern und damit einen Risikofaktor in der Familieninteraktion und in der Persönlichkeitsentwicklung des Kindes vermeiden.
5. Verhaltenstherapie: Symptomzentrierte Verhaltenstherapie (einschließlich Entspannungstraining) kann die Häufigkeit und Intensität der Tics verringern und zielt auf ein Selbstmanagement zur Kontrolle der motorischen und vokalen Tics.
6. Zur Behandlung der komorbiden Störungen können ergänzende Interventionen durchgeführt werden: Kombinierte Pharmakotherapie, andere verhaltenstherapeutische Techniken, soziales Kompetenztraining.
Eine alleinige diätetische Behandlung (siehe auch: Idee der phosphorfreien Ernährung) oder alleinige tiefenpsychologische Psychotherapieverfahren (z.B. Spieltherapie) haben sich als nicht ausreichend effektiv erwiesen.
Frage 7. Mit welchen Verfahren wird sichergestellt, dass in Fällen vermeintlicher oder tatsächlicher, begleitender (z.B. reaktiver) Verhaltensauffälligkeiten, die als erstes Zeichen wahrgenommen werden, eine korrekte Ursachenaufklärung erfolgt?
Die Diagnose wird gestellt, wenn entsprechende Symptome auffällig werden.
Es gibt jedoch bis jetzt keine psychologischen oder neurologischen Untersuchungsverfahren, die TS einwandfrei diagnostizieren. Verfügbar sind Fragebögen und Schätzskalen, um die Art und Weise sowie den Schweregrad einer Tic-Störung beurteilen zu können. In manchen Fällen könnten weitere medizinische Untersuchungen oder auch ein Elektroenzephalogramm nützlich sein.
Frage 8. Wie erfolgt die Aufklärung des Lehrpersonals über die Möglichkeit von neurologischen Krankheitsbildern, die mit Verhaltensstörungen einhergehen, und über differenzialdiagnostische Erfordernisse und hält die Landesregierung den Aufklärungsund Informationsstand für ausreichend?
Frage 9. Wie erfolgt die Aufklärung des Lehrpersonals betreffend die pädagogische Einbindung solcher Besonderheiten in den Unterricht mit dem Ziel, das Verhalten der anderen Kinder im Hinblick auf einen angemessenen, toleranten Umgang nicht nur zielgerichtet, sondern auch erfolgreich zu beeinflussen, und hält die Landesregierung diese für ausreichend?
Allgemeine Hinweise auf den Umgang mit Schülerinnen und Schülern mit besonderen Lernschwierigkeiten, Verhaltensauffälligkeiten oder körperlichen Beeinträchtigungen werden immer wieder im Amtsblatt veröffentlicht. Spezielle Hinweise auf den Umgang mit TS sind bisher nicht erfolgt. Im Einzelfall entscheiden die Staatlichen Schulämter vor Ort. Auf die Antworten zu den Fragen 4 und 6 wird hingewiesen.
Frage 10. Mit welchen weiteren Maßnahmen will die Landesregierung zu einem angemessenen, toleranten Umgang mit Kindern mit entsprechenden Erkrankungen oder Behinderungen in der Schule beitragen?
Die Landesregierung strebt eine angemessene schulische Ausbildung für alle Kinder und Jugendlichen an. Kinder und Jugendliche mit Erkrankungen und Behinderungen haben die Möglichkeit integrativer Förderung entsprechend ihrer Möglichkeiten (vgl. Verordnung über die sonderpädagogische Förderung vom 22. Dezember 1998 im Amtsblatt 1/99; §§ 49 ff. Hessisches Schulgesetz). So werden im gemeinsamen Unterricht, der zu tolerantem Umgang mit Kindern mit und ohne Behinderung beitragen kann, zurzeit ca. 2.700 Kinder und Jugendliche in Hessen unterrichtet. Sprachheilklassen und Kleinklassen für Erziehungshilfe bieten z. B. die Möglichkeit ambulanter Förderung. Sonderschulen, die als sonderpädagogische Beratungs- und Förderzentren eingerichtet sind, übernehmen Aufgaben der Beratung und der ambulanten sonderpädagogischen Förderung in den allgemeinen Schulen.