Diversion im Jugendstrafverfahren konsequent anwenden Viele Verhandlungen finden ohnehin erst längere Zeit nach der Tat statt

Entschließungsantrag der Fraktion der SPD zum Antrag der Fraktion der CDU und der Fraktion der FDP: „Abbau des Überhangs von Vollstreckungen im Jugendarrestvollzug" (Drucksache 14/470) Prävention ist die beste Kriminalpolitik I. Ursachen für den Überhang von Vollstreckungsersuchen im Jugendarrest sorgfältig untersuchen

Dem Anspruch des Staates, eine zeitnahe Arrestvollstreckung zwecks erzieherischer Gestaltung durchzuführen, stehen nicht selten konkrete Hinderungsgründe entgegen, die verschiedene Ursachen haben können: Beispielsweise sollten Jugendliche, die sich in einer Ausbildung oder noch in der Schule befinden, einen Arrest nur in den Ferien oder im Urlaub antreten. Ansonsten können sie schnell ihre Lehrstellen oder den schulischen Anschluss verlieren und für andere als Kriminelle gelten, die keine weitere Hilfe erwarten sollten. Ein Arrest in den Ferien oder im Urlaub kann gleichwohl für den Jugendlichen als besondere erzieherische Einflussnahme für die zurückliegende Tat gelten.

Diversion im Jugendstrafverfahren konsequent anwenden

Viele Verhandlungen finden ohnehin erst längere Zeit nach der Tat statt. Eine Verurteilung zu einem kurzen Arrest hat dann für die länger zurückliegende Tat wegen des Zeitverzuges lediglich eine relative erzieherische Wirkung.

Ein solcher Arrest wäre auch („erzieherisch") kaum angebracht, wenn der Täter vielleicht schon seit einem Jahr oder länger nach der Tat ein „geordnetes" und „rechtschaffenes" Leben führt und sich keinerlei Straffälligkeit mehr zukommen lassen hat.

Der Landtag von Nordrhein-Westfalen hat auf Antrag der SPD-Landtagsfraktion vom 21.03.2002 (Drucksache 13/2453) - "Möglichkeiten der Diversion im Jugendstrafverfahren optimal nutzen! - Durch Prävention und frühzeitiges Gegensteuern Kinderdelinquenz und Jugendkriminalität wirksam eingrenzen!" - bereits Wege zur erfolgreichen Bekämpfung der Jugendkriminalität aufgezeigt. Dabei geht es in erster Linie um eine Ausweitung der vorrangiLANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN - 14. Wahlperiode Drucksache 14/534 gen (beschleunigten) Verfahren im Zusammenwirken von Staatsanwaltschaft, Polizei, Jugendamt und Jugendgericht. Diversionsprojekte beispielsweise in Krefeld, Mönchengladbach, Wuppertal und Remscheid zeigen die Richtigkeit dieses Ansatzes. Er ist deshalb konsequent auf Landesebene auszubauen und anzuwenden.

II. Bei der Jugendkriminalität ist eine differenzierte Betrachtung erforderlich

Die Verurteilung zu einem Arrest steht am Ende einer kriminellen Tat eines Jugendlichen. Es wäre jedoch falsch anzunehmen, alle Jugendlichen begingen zahlreiche und zudem schwere Straftaten. Kriminologische Erkenntnisse zeigen, dass dieser Eindruck nicht zutreffend ist.

Lediglich 5 % der männlichen Jugendlichen stellen die Gruppe der Mehrfach- und Intensivtäter, auf die bis zu 75 % aller registrierten Straftaten zurückgehen. Schon deshalb ist im Bereich der Jugendkriminalität eine differenzierte Betrachtungsweise angezeigt.

Für die Landesregierung hat Justizministerin Müller-Piepenkötter kürzlich eine gemeinsame Initiative gegen Jugendkriminalität angekündigt. Wo Prävention nicht ausreiche, könne mit der beabsichtigten Einführung des so genannten Warnschussarrestes, der neben einer Bewährungsstrafe verhängt werden könne, gerade bei Jugendlichen ein Umdenken herbeigeführt werden. Dementsprechend prognostizieren CDU und FDP in ihren Antrag eine steigende Nachfrage nach Arrestplätzen.

II. 1

Kurze Gefängnisstrafen gegen Jugendliche in England nicht erfolgreich

In England werden seit geraumer Zeit ähnliche Konzepte wie der in Deutschland beabsichtigte Warnschussarrest umgesetzt. Es werden kurze Gefängnisstrafen, manchmal nur wenige Tage, ausgesprochen. Die Straftäter sollen so vor weiteren kriminellen Taten abgeschreckt werden. Die Erfahrungen zeigen jedoch, dass die dort sogar in einem „regulären" Gefängnis, also nicht wie in Deutschland in einem speziellen Jugendarrest, untergebrachten Straftäter im gleichen Maße rückfällig wurden. Ein Teil der Jugendlichen verliert die Angst vor dem Gefängnis, weil sie nun den Gefängnisalltag kennen und sich darauf eingerichtet haben. Viele Jugendliche haben im Nachhinein oftmals weniger Angst vor dem Gefängnis, wenn sie bereits einmal „Gefängnisluft geschnuppert" haben. Für die Mehrzahl der jugendlichen Straftäter ­ zumal bei einem Automatismus - wäre eine Verurteilung zum sog. „Warnschussarrest" neben der Bewährung kaum von Nutzen und vermittelbar. Deshalb hat der 26.

Deutsche Jugendgerichtstag DJGT (vom 25. bis 28. September in Leipzig) in Übereinstimmung mit der ganz überwiegenden Mehrheit der Fachleute dem Warnschussarrest eine deutliche Absage erteilt. Ähnlich hat auch die Neue Richtervereinigung (Landesverband NRW) im Dezember 2004 den Warnschussarrest mit Jugendstrafe zur Bewährung als ein systemwidriges, untaugliches und nur sehr schwer vermittelbares Sanktionsinstrument bezeichnet.

II. 2

Kriminalitätsentwicklung bei Jugendlichen kein Beweis für Werteverfall und ansteigende Verrohung

Auch aus kriminalpräventiven Gesichtspunkten ergibt sich keine Notwendigkeit zu einer Verschärfung des Jugendstrafrechts. So hat das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen e.V. im Rahmen einer Repräsentativbefragung im Jahre 2005 festgestellt, dass es nur scheinbar einen Anstieg der Kriminalität junger Menschen zu verzeichnen gibt. Zwar habe sich die Zahl der 14- bis 21-jährigen Tatverdächtigen pro 100.000 der Altersgruppe seit 1993 um fast ein Fünftel erhöht. Aber das sei angesichts der deutlichen Zunahme der Aufklärungsquote zu erwarten gewesen. Da die Polizei es heute schaffe, pro 100 der ihr bekannt gewordenen Straftaten um ca. ein Fünftel mehr Tatverdächtige zu ermitteln als noch vor 11

Jahren, sei eine in dieser Größenordnung eingetretene Zunahme der Kriminalitätsbelastung einer Altersgruppe noch kein Beweis für Werteverfall und ansteigende Verrohung. Sie belege nur die steigende Erfolgsrate polizeilicher Ermittlungsarbeit. Im Übrigen signalisierten die Forschungsdaten im Vergleich zu entsprechend vorgenommenen Datenerhebungen des Jahres 1998 ein Sinken der Jugendgewalt. Angesichts der Tatsache, dass auch die innerfamiliäre Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in dieser Zeit abgenommen habe, könne dies nicht überraschen.

Prävention ist die beste Kriminalpolitik

Das Kriminologische Forschungsinstitut kommt zu dem Ergebnis, dass eine Politik verfehlt ist, die die Zukunft des Landes im Ausbau von Gefängnissen sieht. Prioritäten müssten in der Frühförderung von Kindern liegen, im Ausbau von Schulen zu Ganztagsschulen, damit der wachsenden Medienverwahrlosung von Kindern und Jugendlichen entgegengewirkt werden könne und in der Stärkung der Universitäten. Es gebe keinen Grund, das Strafrecht laufend zu verschärfen.

Dieses Ergebnis bestätigt die Annahme, dass wichtiger als die Verschärfung von Sanktionen es ist, die Ursachen für die Entstehung von Jugendkriminalität zu bekämpfen. Nach wie vor ist die Sozialpolitik die beste Kriminalpolitik. Die SPD-Landtagsfraktion hat bislang mit ihrer Jugend- und Familienpolitik, insbesondere mit dem Ausbau der offenen Ganztagsschulen, dazu wesentliche Schwerpunkte gesetzt.

II. 3

Warnschussarrest mit Grundsätzen der Bewährungsstrafe rechtssystematisch bedenklich

Auch rechtssystematisch begegnet das Warnschussvorhaben von CDU und FDP erheblichen Bedenken. Im Jugendstrafrecht entspricht es einhelliger Auffassung, dass Jugendliche nur dann eine Bewährung erhalten, wenn für sie eine positive Sozialprognose gestellt werden kann. Eine solche positive Sozialprognose erhalten sie jedoch nur, wenn die familiäre Umgebung, die Ausbildungs- und Beschäftigungssituation und das übrige soziale Umfeld, als auch das Persönlichkeitsbild der jugendlichen Straftäter eine positive Entwicklung für die Jugendlichen erwarten lassen. Jugendstrafverfahren sind grundsätzlich auf Erziehung ausgerichtet. Dem widerspricht der Warnschussarrest als primär strafende (freiheitsentziehende) Maßnahme.

III. Modellprojekt in Schleswig-Holstein bei jugendlichen Mehrfach- und Intensivtätern richtiger Ansatz

Um die staatliche Reaktion auf Mehrfach- und Intensivtäter weiter zu verbessern wurde in Schleswig-Holstein unter anderem unter Beteiligung des Ministeriums für Justiz, Frauen, Jugend und Familie und des schleswig-holsteinischen Landkreistages das Konzept für das Modellprojekt "Kooperation im Fall von jugendlichen Mehrfach- und Intensivtätern" auf den Weg gebracht. Zentraler Ansatzpunkt des Modellprojektes ist die Verbesserung der Zusammenarbeit von Polizei, Justiz, Kinder- und Jugendhilfe, Elternhaus und Schule sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Das 2001 begonnene und inzwischen abgeschlossene Modellprojekt machte deutlich, dass den Jugendämtern eine zentrale Bedeutung zukommt. Sie werden von Polizei und Justiz (systematisch) sowie der Schule (bei Bedarf) informiert, sie berufen institutionsübergreifende Helferkonferenzen ein und sie entscheiden - gemeinsam mit den Betroffenen - über den weiteren Hilfeverlauf. Das Jugendamt ist für die anderen Institutionen die Anlaufstelle für Auskünfte über den Jugendlichen und die Einrichtungen der Jugendhilfe.

Daneben kommen Elternhaus und Schule eine Schlüsselstellung zu. Spätere Mehrfach- und Intensivtäter wurden in der Schule bereits sehr früh auffällig. Gleichwohl zeigte sich im Rahmen des Modellprojektes, dass Schulen erst relativ spät nach Hilfe durch Kooperation mit anderen Institutionen suchten, und zwar erst dann, wenn der Problemdruck in der Schule sehr hoch wurde.

Das Modellprojekt sieht im Wesentlichen einen sinnvollen Weg zur Bekämpfung der Jugendkriminalität in der Realisierung folgender Faktoren:

a) Prävention und

b) Intervention

Im Rahmen der Prävention wird die Einführung eines Frühwarnsystems der mit der Thematik befassten Institutionen, insbesondere Polizei sowie Kinder- und Jugendhilfe, unter Beachtung datenschutzrechtlicher Vorgaben empfohlen. Dabei ist die Erziehungskompetenz der Eltern ein entscheidender Faktor für die Verhinderung krimineller Karrieren. Insofern soll das Frühwarnsystem genutzt werden, um Eltern die erforderliche Hilfe bei der Erziehung anbieten zu können.

Sollte es trotz Prävention zu einer gehäuften Begehung von Straftaten oder der Verwirklichung schwerer oder schwerster Delikttatbestände kommen, muss im Zuge der Intervention

- parallel zur Anwendung des Jugendstrafrechts - eine Heimerziehung oder eine intensive sozialpädagogische Einzelbetreuung als eine in Betracht kommende Maßnahme geprüft und gegebenenfalls durchgeführt werden. Dabei kann es in besonderen Fällen erforderlich sein, dass eine stationäre Unterbringung in einer Jugendhilfeeinrichtung angezeigt ist.

In Nordrhein-Westfalen bestehen bereits solche Einrichtungen wie das Martini-Stift in Nottuln. Damit das vorhandene Angebot intensiver - anstelle der Errichtung weiterer kostenintensiver Haftanstalten zur Vollstreckung des Warnschussarrestes - genutzt werden kann, sind neben einer breiteren Information innerhalb der Jugendgerichtsbarkeit über solche Möglichkeiten die finanziellen Voraussetzungen für das Vorhalten entsprechender Plätze zu schaffen. Dazu wird die SPD-Landtagsfraktion entsprechende Vorschläge unterbreiten.

Der Landtag fordert die Landesregierung auf,

1. die Ursachen für den Überhang von Vollstreckungsersuchen im Jugendarrest sorgfältig zu untersuchen und die daraus notwendigen Schlussfolgerungen dem Landtag darzulegen,

2. anstelle des beabsichtigten Warnschussarrestes bei Bewährungsstrafen die Diversion im Jugendstrafverfahren konsequent anzuwenden sowie

3. auf der Grundlage des Modellprojekts von Schleswig-Holstein für jugendliche Mehrfach- und Intensivtäter vergleichbare Möglichkeiten mit dem Ziel der baldigen Umsetzung zu konzipieren und dem Landtag darüber zu berichten.