Konsequenzen aus dem ICE-Achsbruch in Köln ziehen

Bei der DB AG muss Sicherheit vor Gewinnmaximierung gehen!

Nach dem ICE-Radsatzbruch im Hauptbahnhof Köln wird zunehmend deutlicher, dass die Deutsche Bahn AG einerseits von den technischen Problemen Kenntnis hatte, aber hieraus nicht die notwendigen Konsequenzen gezogen hat. Während die DB AG von Jahr zu Jahr Rekordgewinne einfährt und gleichzeitig die Fahrpreise erhöht sowie die Wartungskapazität abbaut, hat die Sicherheit für die Fahrgäste bei der Bahn AG offensichtlich nicht mehr oberste Priorität. Der Bund und die Länder sind aufgefordert, das Eisenbahnbundesamt im Hinblick auf die technische Überwachung der Bahn mit deutlich mehr Kompetenzen und einem klaren Weisungsrecht auszustatten. Gerade vor dem Hintergrund des Börsengangs der Bahn muss die Sicherheit der Fahrgäste oberste Priorität haben und darf nicht durch maximale Gewinnmaximierung ersetzt werden. Die Bahn muss zumindest im Prospekt für den Börsengang das Thema berücksichtigen und die gesamten Risiken im Zusammenhang mit den Radsatzwellen und -achsen der ICE nennen.

Am 9. Juli 2008 brach bei der Ausfahrt aus dem Kölner Hauptbahnhof vor der Hohenzollernbrücke in Köln 158.000 km nach der letzten und 142.000 km vor der nächsten dafür angesetzten Inspektion die Radsatzwelle des ICE 518 und der Zug entgleiste. Der Bruch der Radsatzwelle erfolgte, als der ICE mit Schrittgeschwindigkeit aus dem Kölner Hauptbahnhof auslief. Das Eisenbahn-Bundesamt (EBA) stellte diesbezüglich am 11.7.2008 fest: „Ein unveränderter Weiterbetrieb der Triebzüge BR 403/406 ist mit erheblichen Gefahren für Leib und Leben verbunden. Der Bruch einer Radsatzwelle führt unweigerlich zum Entgleisen des Zuges. Das Leben einer Vielzahl von Menschen ist unmittelbar in äußerster Gefahr. Der vorliegende Unfall hat sich glücklicherweise bei annähernd Schrittgeschwindigkeit ereignet. Wäre dasselbe Ereignis bei Streckengeschwindigkeit von bis zu 300 km/h aufgetreten, hätte sich mit nicht unerheblicher Wahrscheinlichkeit eine Katastrophe wie z. B. in Eschede ereignen können." (Aus der Begründung des Bescheids des EBA vom 11.7.2008 an die DB AG.)

Nach der ICE-Entgleisung in Köln forderte das Eisenbahn-Bundesamt als sofortige Konsequenz die Ultraschallüberprüfung der ICE-3-Einheiten. Die Deutsche Bahn AG war zunächst offensichtlich nicht bereit, dieser Forderung nachzukommen. Darauf richtete das EBA am 11. Juli das oben genannte Schreiben an die DB Fernverkehrs AG, in dem es heißt: "In Ihrem Schreiben sind leider keine über den gestrigen Sachverhalt hinausgehende neuen Gesichtspunkte enthalten, die mich zu einer Änderung des mündlich erlassenen Verwaltungsaktes veranlassen würden." Das EBA kritisiert auch, dass der von der Fernverkehrs AG "dargelegte kürzestmögliche Zeitraum für die Rissfreiheitsprüfung deutlich zu hoch angesetzt" sei. Das EBA "bestätigt" sodann den "mündlichen Bescheid vom 10.7.2008" und verweist ausdrücklich darauf, dass "die sofortige Vollziehung dieses Bescheides (...) wegen Gefahr im Verzug als Notstandsmaßnahme im öffentlichen Interesse im Sinne des § 80 Abs. 3 Nr. 2 Verwaltungsgerichtsordnung angeordnet" werde. Das alles deutet darauf hin, dass sich die Deutsche Bahn AG zwischen dem Abend des 9.7.2008 und dem Bescheid zunächst gegen die mündlich angeordneten sofortigen Sicherheitsüberprüfungen gesperrt hat.

Vor dem Hintergrund der Ereignisse rund um den Unfall und die möglichen Folgen eines solchen Schadens im Betrieb auf freier Strecke stellt sich die Frage, ob es sich bei den dem Unfall zugrunde liegenden Problemkreisen um grundsätzliche Probleme oder um einen Einzelfall handelt. Genau entlang dieser Fragestellung wird für die Bahn eine Antwort von entscheidender Bedeutung sein. Würde es sich um ein grundsätzliches Problem der Dauerfestigkeit der Radsatzwellen und der Achsen handeln und müsste die Bahn auf Dauer mit kürzeren Wartungsintervallen fahren, würde der zur Zeit gefahrene Fahrplan mit der jetzigen Anzahl von Zügen und den jetzt gefahrenen Traktionen nicht aufrecht zu halten sein. Zum Aufwand der verkürzten Wartungsintervalle und der dann wahrscheinlich notwendigen Neubeschaffung von ICE käme möglicherweise ein erheblicher Aufwand für Austausch von Radsatzwellen und Achsen. All dies würde die Bilanz der Bahn in einem anderen Licht erscheinen lassen und den Börsengang in Gefahr bringen. Es ist also zu hinterfragen, ob nicht ein systembedingtes Risiko besteht, das im Einzelfall zu einem Unfall wie in Eschede führen kann. Deswegen verwundert es schon, dass es frühzeitig und weit vor Abschluss der Untersuchungen von der DB AG Hinweise gibt, dass es sich um ein Einzelereignis aufgrund äußerer Einwirkung handelt. Nach unwidersprochenen Berichten des SPIEGEL (30/2008) haben Vertreter der Deutschen Bahn AG geäußert, dass es sich bei diesem Radsatzwellenbruch um die Folge einer "äußeren Beschädigung der Radsatzwelle, etwa durch lose Metallteile des Bahn-Unterbodens oder Gegenstände auf dem Gleis" gehandelt habe. Dem stehen jedoch andere Expertenäußerungen entgegen. So hat beispielsweise Professor Edmund Mühlhans im ZDF-Magazin "Frontal 21" vom 22.7.2008 den Radsatzwellenbruch als "Dauerbruch in Folge Materialermüdung" in Folge der hohen Beanspruchung der Radsatzwelle eingeschätzt.

I. Seit langem bestehen ernst zu nehmende Hinweise auf die fehlende Dauerfestigkeit der Radsatzwellen des ICE 3

Zumindest mit der Möglichkeit eines Ermüdungsbruches an den Radsatzwellen musste gerechnet werden. Die Radsatzwellen bzw. Achsen der ICE-3 sind nach Expertenmeinung eine Schwachstelle für die Betriebssicherheit der Züge im Hochgeschwindigkeitsbereich der Bahn. Denn diese Radsatzwellen ähneln denen, wie sie früher im ICE-TD eingesetzt wurden.

Vor sechs Jahren wurde eine damals neue Generation von ICE-Zügen, die ICE-TD, auch wegen des Bruches einer Radsatzwelle TD, weitgehend aus dem Verkehr gezogen. Nachdem im Dezember 2002 bei einem Diesel-Triebzug vom Typ ICE-TD ein Drehgestell wegen des Dauerbruches einer Radsatzwelle bei Tempo 120 km/h entgleist war, stellte das EBA im April 2003 nach umfangreichen Untersuchungen fest, dass alle Achsen aller 20 ICE-TDGarnituren bei Belastungstests versagt hätten. Am 25. Juli 2003 erließ das EisenbahnBundesamt ein generelles Fahrverbot für alle Einheiten. Erst nach dem Austausch aller

Achswellen wurden die Züge wieder eingesetzt. In der "Eisenbahn-Revue International" wurde im Jahr 2003 (Ausgabe 1/2003) festgestellt, dass der Achsbruch am ICE-3 auf eine systemische Ursache zurückgeführt werden müsse. Danach waren bei den "von Siemens und DWA (heute Bombardier) gelieferten ICE-TD VT 605 die dynamischen Beanspruchungen und Spannungswerte der Radsatzwellen noch nach einer alten Bahnnorm ermittelt worden, die jedoch zwischenzeitlich durch die Euro-Normen EN 13103 und 13104 abgelöst wurde."

Nach dieser Berechnungsgrundlage für Radsätze wäre eine stärkere Dimensionierung nötig gewesen.

Auch für den ICE-3 war wegen einer Reihe von Warnhinweisen anerkannter Experten in wissenschaftlichen Artikel bekannt, dass es sich bei den Radsatzwellen und Achsen zumindest um eine ernst zunehmende Schwachstelle der ICE-3 handeln könnte. Spätestens seit dem Jahr 2006 gibt es in der Fachliteratur ernstzunehmende Hinweise auf die Tatsache, dass möglicherweise nicht nur die "alte" Radsatzwellen-Bahnnorm 421.022 (UIC 515-3 VE), sondern auch die neuen Euro-Normen EN 13103 und 13104 vor dem Hintergrund der hohen und komplexen Belastungen des Schienenhochgeschwindigkeitsverkehrs unzureichend sind.

Zunächst veröffentlichten die Wissenschaftler Dr. Ing. Gerhard Fischer und Professor Dr. Vatroslav Grubisic in Heft 3 / 2006 der Fachzeitschrift "ZEVrail ­ Glasers Annalen" einen Aufsatz zum Thema "Versagen von Radsatzwellen und dessen Ursachen". Sie beschrieben in diesem Beitrag eine Reihe unterschiedlicher Radsatzwellenbrüche, die es in jüngerer Zeit gab. Die Autoren unterstrichen, dass es sich dabei "leider nicht um Einzelfälle handeln würde", wie vielfach von den Verantwortlichen u.a. der Deutschen Bahn AG dargestellt, und dass "auch das Bemühen, für jeden Schaden irgend welche Sondereinflüsse" geltend zu machen, zu "einer Fehlbewertung der tatsächlichen Ursachen für die Schäden und abschließend zu falschen Konsequenzen" führen würde. Auf Grundlage einer Reihe von Untersuchungen stellten die Autoren fest, dass "die im realen Betrieb auftretenden Betriebsbelastungen und Beanspruchungen oft deutlich höher liegen, als die nach den Normen DIN EN 13103 und DIN EN 13104 ermittelten." Dr. Ing. Gerhard Fischer und Prof. Dr. Vatroslav Grubisic waren wegen der "großen Zahl der in der letzten Zeit häufig auftretenden Brüche an Radsatzwellen" überzeugt, "dass die bisher durchgeführte so genannte?dauerfeste Auslegung? entsprechend der Nomen DIN EN 13103 und DIN EN 13104 nicht zutrifft." (ZEVrail 139 (2006/3).

Auch die tabellarische vergleichende Zusammenstellung der Achsdurchmesser von Hochgeschwindigkeitszügen im erstgenannten Aufsatz aus 2006 hätte den Vorstand der DB AG an der dauerfesten Auslegung der Radsatzwellen bzw. Achsen zweifeln lassen müssen. Der Vergleich der Achsdurchmesser der japanischen Shinkansen mit 190/209 mm und der französischen TGV-Züge mit 184/212 mm einerseits sowie der ICE-1-Züge mit nur 160-190 mm andererseits legt zumindest Fragen nahe. Gerade wenn die Deutsche Bahn AG zur Erreichung geringerer Wellendurchmesser hochfestere Werkstoffe für die Achswellen verwendet als die genannten ausländischen Bahnen, ist zu berücksichtigen, dass solche hochfesteren Werkstoffe empfindlicher für Rissbildung sind als weniger feste Werkstoffe. Auch daraus hätte sich eine Notwendigkeit von intensiveren Kontrollen ergeben.

Nachdem es auf diesen Fachaufsatz hin Endes des Jahres 2007 unter dem Titel „Zur Dimensionierung von Radsätzen ­ Eine Stellungnahme" in der ZEVRail eine Replik gab, meldeten sich Fischer und Grubisic Anfang 2008 in derselben Fachzeitschrift (1-2, JanuarFebruar 2008) unter dem Titel "Hinweise zur Dimensionierung von Radsatzwellen" erneut zu Wort. Ausdrücklich wird auf die nach Auffassung der Autoren unzureichend ausgelegten Radsatzwellen der ICE-3 eingegangen und explizit für diese ICE-Generation festgestellt: "Die gemessenen Höchstwerte der Spannungen überschreiten die nach EN berechneten um ca. 19 % am Laufradansatz und um ca. 17 % am Treibradansatz."