Versicherung

Zu § 9 (Beendigung der Untersuchungshaft) Absatz 1 regelt die Fälle, in denen die Untersuchungshaft durch eine Entlassung in die Freiheit auf Anordnung des den Haftbefehl aufhebenden Gerichts oder der Staatsanwaltschaft (vgl. § 120 Absatz 3 Satz 2 der Strafprozessordnung) endet. Der Entwurf stellt klar, dass der schriftlichen Mitteilung eine elektronisch übermittelte Anordnung, die mit einer qualifizierten elektronischen Signatur nach dem Signaturgesetz versehen ist, gleichgestellt ist. Die elektronische Übermittlung nimmt immer breiteren Raum ein und ein elektronisches Dokument ersetzt, bei entsprechender Signatur, die Schriftform (zu vgl. beispielsweise § 41a der Strafprozessordnung). Da die Ausstattung der Gerichte mit dem Elektronischen Gerichts- und Verwaltungspostfach (EGVP) weiter fortschreitet, ist bei einer entsprechender Ausstattung der Justizvollzugsanstalten eine schnelle und sichere Übermittlung der Entlassungsanordnung auch auf diesem Weg möglich.

Satz 3 begründet in Fällen, in denen eine schriftliche Entlassungsanordnung nicht vorliegt, die Verpflichtung der Anstalt, die Echtheit einer durch Telefon, Telefax oder auf elektronischem Wege übersandten Entlassungsanordnung zu überprüfen. Um Missbrauchsmöglichkeiten vorzubeugen kann dies durch geeignete Maßnahmen, beispielsweise unverzügliche Rückrufe erfolgen. So kann sichergestellt werden, dass die vorzunehmende Entlassung der ergangenen Entlassungsanordnung entspricht. Der Entwurf lehnt sich an die bisherige Regelung in Nummer 17 der Untersuchungshaftvollzugsordnung an, die sich in der Praxis bewährt hat.

Im Übrigen sieht der Entwurf bewusst davon ab, ein bestimmtes Überprüfungsverfahren vorzuschreiben und überlässt die nähere Ausgestaltung der Praxis. Mit individuellen und flexiblen Regelungen kann einem Missbrauch am besten vorgebeugt werden. Bei der nach Absatz 1 notwendigen unverzüglichen Umsetzung der Entlassungsanordnung sind Untersuchungsgefangene mitunter zu einem Zeitpunkt, beispielsweise am Wochenende, zu entlassen, zu dem ihnen die Erledigung wichtiger Angelegenheiten, insbesondere Behördengänge, wie etwa zum Sozialamt, trotz zunehmend flexibel gestalteter Öffnungszeiten erschwert wird oder in Einzelfällen nicht möglich ist. In derartigen Fällen erhalten die zu Entlassenden, soweit ihre eigenen Mittel nicht ausreichen, nach § 29 Absatz 4 neben einer Beihilfe zu den Reisekosten auch eine finanzielle Unterstützung in Form einer Überbrückungsbeihilfe, um den Lebensunterhalt bis zur Wahrnehmung des nächstmöglichen Behördentermins sicherzustellen.

Die Bemessungsgröße zur Berechnung dieser Beihilfe richtet sich nach den Regelsätzen des § 28 des Zwölften Buchs Sozialgesetzbuch. Unabhängig davon hält der Sozialdienst einer Anstalt regelmäßig Anschriften von Einrichtungen vor, die auch kurzfristig Unterkunftsmöglichkeiten zur Verfügung stellen können, so dass Entlassungen ohne eine zumindest vorübergehende Unterkunft und ohne Sicherstellung des Lebensunterhaltes bis zum Erhalt anderer Unterstützung aus öffentlichen Mitteln praktisch nur vorkommen, wenn die Untersuchungsgefangenen die Annahme derartiger Hilfsangebote der Anstalt ablehnen. Für derartige Fälle soll Absatz 2 quasi als letzte Möglichkeit einen kurzfristigen weiteren Verbleib in der Anstalt ermöglichen. Die gewählte Formulierung des Entwurfs entspricht dem Charakter dieser Möglichkeit als „ultima ratio".

Soweit durch § 125 Absatz 1 des Strafvollzugsgesetzes und in § 24 des Jugendstrafvollzugsgesetzes Nordrhein-Westfalen dem dort näher beschriebenen Kreis Inhaftierter die Möglichkeit eines freiwilligen Verbleibs in der Anstalt eröffnet wird, regeln diese Möglichkeiten andere Sachverhalte. Zum einen werden dadurch (§ 125 Absatz 1 des Strafvollzugsgesetzes) ehemalige Inhaftierte erfasst, deren Ziel vorangegangener sozialtherapeutischer Behandlung ansonsten gefährdet wäre; zum anderen können ehemalige junge Strafgefangene zur Beendigung einer begonnenen Ausbildungs- oder Behandlungsmaßnahme (§ 24 Absatz 1 des Jugendstrafvollzugsgesetzes Nordrhein-Westfalen) oder zur Bewältigung einer Krisensituation (§ 24 Absatz 2 des Jugendstrafvollzugsgesetzes Nordrhein-Westfalen) in der Anstalt verbleiben. Diese Fälle lassen sich nicht mit einer überraschenden Entlassung von ­ meist kurzfristig inhaftierten ­ Untersuchungsgefangenen vergleichen, für die es in aller Re gel auf die Überbrückung eines Wochenendes ankommt. Der Entwurf stellt daher durch die auch in den Regelungsbereich der Untersuchungshaft aufgenommene Möglichkeit und den ausdrücklichen Verweis auf § 29 Absatz 4 sicher, dass die Entlassung von Untersuchungsgefangenen aus der Haft keine Entlassung in die Obdachlosigkeit und Mittellosigkeit ist. Wird von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht, so sind die freiwillig in der Anstalt Verbliebenen auf ihren Antrag unverzüglich zu entlassen. Das gilt auch für ein solches Begehren zur Unzeit. Die Entlassung kann insbesondere nicht aus Gründen der Praktikabilität, wie zum Beispiel geringere Personalstärke zur Nachtzeit, versagt werden. Während der Dauer ihres freiwilligen Verbleibs dürfen Maßnahmen des Vollzuges nicht mit unmittelbarem Zwang durchgesetzt werden.

Die Kosten des freiwilligen Verbleibs in der Anstalt können den ehemaligen Untersuchungsgefangenen - entsprechend den Regelungen in § 50 Absatz 2 des Strafvollzugsgesetzes und § 47 Absatz 4 des Jugendstrafvollzugsgesetzes Nordrhein-Westfalen zum Haftkostenbeitrag

- auferlegt werden. Die Entscheidung darüber trifft die Anstalt, weil sie die näheren Lebensumstände und insbesondere die finanziellen Verhältnisse der ehemaligen Untersuchungsgefangenen am besten kennt.

Die Absätze 3 und 4 betreffen die Beendigung der Untersuchungshaft durch eine rechtskräftige Verurteilung zu einer freiheitsentziehenden Maßnahme, weil mit Rechtskraft des Urteils die Untersuchungshaft „unmittelbar" in Strafhaft übergeht (Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 28.08.1991 ­ 2 ARs 366/01 -, abgedruckt in BGHSt 38, 63 ff.; Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 27.05.1992 ­ 2 ARs 228/92-, abgedruckt in NStZ 1993, 31) und der Haftbefehl als verfahrenssichernde Maßnahme erledigt ist. Wie bisher Nummer 91 der Untersuchungshaftvollzugsordnung bestimmt der Entwurf daher, dass ab diesem Zeitpunkt die Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes oder des Jugendstrafvollzugsgesetzes Nordrhein Westfalen zur Anwendung kommen und auf eine unverzügliche Verlegung in die zuständige Anstalt hinzuwirken ist, wenn nicht von der Strafvollstreckung zunächst abgesehen und im Hinblick auf einen anderen Haftbefehl weiterhin Untersuchungshaft vollzogen wird.

Abschnitt 3:

Gestaltung des Lebens in der Anstalt

Der dritte Abschnitt fasst Einzelvorschriften zusammen, die unter Berücksichtigung der Unschuldsvermutung und des Angleichungsgrundsatzes einen Rahmen für die Lebensführung in der Anstalt vorgeben.

Zu § 10 (Unterbringung) Absatz 1 orientiert sich an der Regelung des § 119 Absatz 1 der Strafprozessordnung und legt das aus dem Grundsatz der Unschuldsvermutung hergeleitete Prinzip der Einzelunterbringung als Regelfall fest. Der Entwurf trägt damit der Forderung der Nummer 96 der Europäischen Strafvollzugsgrundsätze Rechnung, wonach Untersuchungsgefangenen soweit möglich die Wahl der Einzelunterbringung gegeben werden soll. Unterbringung in diesem Sinne ist der Wohnraum der Untersuchungsgefangenen, also der ihnen zugewiesene Haftraum.

Hinsichtlich einer gemeinschaftlichen Unterbringung verzichtet der Entwurf in Absatz 2 auf das mitunter unpraktikable Erfordernis eines ausdrücklichen schriftlichen Antrags der Untersuchungsgefangenen (bisher § 119 Absatz 2 Satz 1 der Strafprozessordnung).

Er erfasst auch die Fälle, in denen beispielsweise selbstmordgefährdete Untersuchungsgefangene zu ihrem Schutz gemeinsam mit anderen nicht gefährdeten Gefangenen in einem Haftraum untergebracht werden sollen.

Eine gemeinsame Unterbringung Untersuchungsgefangener in geeigneten Räumlichkeiten ist schließlich zulässig, wenn hierdurch die Möglichkeit geschaffen wird, schädlichen Folgen der Inhaftierung entgegen zu wirken. Dadurch wird die Anstalt angehalten, sich bereits zu Beginn der Inhaftierung verstärkt mit der Situation der Untersuchungsgefangenen und ihren individuellen Anliegen auseinander zu setzen.

Der Entwurf lässt zudem die gemeinsame Unterbringung in Krankenabteilungen und Vollzugskrankenhäusern zu, weil dort eine andere Art der Unterbringung in aller Regel nicht möglich ist.

Absatz 2 Satz 3 greift die Erkenntnis auf, dass auch beim Vollzug der Untersuchungshaft subkulturelle Tendenzen nicht gänzlich verhindert werden können. Dabei werden solche Tendenzen in der Regel vorwiegend durch hafterfahrene Gefangene gefördert und verbreiten sich im Vollzugsverlauf, etwa aufgrund gemeinsamer Unterbringung, besonders schnell auch unter solchen Untersuchungsgefangenen, die sich erstmalig in Haft befinden. Dem will Satz 3 entgegenwirken.

Absatz 3 gibt den Untersuchungsgefangenen die Möglichkeit, sich tagsüber in Gemeinschaft aufzuhalten. Da eine völlige Öffnung nach innen in vielen Anstalten aber nur bei erheblichen baulichen Veränderungen und einer Aufstockung des Vollzugspersonals zu verwirklichen wäre, nimmt der Entwurf aus Praktikabilitäts- und Kostengründen eine auf die gegebenen Anstaltsverhältnisse bezogene Einschränkung vor. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Aufschluss keine subkulturellen Entwicklungen fördern soll.

Zu § 11 (Beschäftigung, Bildungsmaßnahmen)

Die Vorschrift lehnt sich an die Nummern 26.2, 26.3, 26.6, 26.10, 28.1 ff., 100.1 f. der Europäischen Strafvollzugsgrundsätze an.

Untersuchungsgefangene dürfen wegen der Unschuldsvermutung im Gegensatz zu Strafgefangenen zur Arbeit nicht verpflichtet werden (Absatz 1). Die gewählte Formulierung in Absatz 2 stellt zudem klar, dass sie keinen Anspruch auf Zuteilung einer Arbeit oder Beschäftigung haben. Ein solcher Anspruch wäre im Übrigen in der Praxis trotz Auflockerung der Trennungsgrundsätze (§ 3 Absatz 2) nicht erfüllbar. Es wird gleichwohl nicht übersehen, dass Arbeit und Beschäftigung zu einer sinnvollen Haftgestaltung beitragen können. Dem trägt die gewählte Formulierung des Absatzes 2 Rechnung. Die Anstalt wird danach im Rahmen der ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, insbesondere unter Berücksichtigung ihrer räumlichen, organisatorischen und personellen Verhältnisse, den Untersuchungsgefangenen vor allem dann eine wirtschaftlich ergiebige Arbeit oder eine sinnvolle Beschäftigung anbieten, wenn sie dies wünschen.

Absatz 3 stellt die schon bisher geltende Regelung des § 177 Satz 1 des Strafvollzugsgesetzes, nach der arbeitende Untersuchungsgefangene ein nach § 43 Absatz 2 bis 5 des Strafvollzugsgesetzes zu bemessendes Arbeitsentgelt erhalten, in den Entwurf ein und bestätigt hinsichtlich der Höhe der finanziellen Entlohnung die bisher geltenden Regelungen in Nummer 43 Absatz 4 der Untersuchungshaftvollzugsordnung und § 177 Satz 2 des Strafvollzugsgesetzes. Bezugsgröße der in § 177 Satz 2 des Strafvollzugsgesetzes näher bezeichneten Eckvergütung ist nach § 18 Absatz 1 des Vierten Buchs Sozialgesetzbuch das Durchschnittsentgelt der gesetzlichen Rentenversicherung im vorvergangenen Kalenderjahr, aufgerundet auf den nächst höheren, durch 420 teilbaren Betrag. Eine Erweiterung der finanziellen Entlohnung der Untersuchungsgefangenen in die durch das Fünfte Gesetz zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes erfolgte Erhöhung der Entlohnung der Strafgefangenen ist auf Grund der unterschiedlichen Charaktere von Untersuchungshaft und Strafhaft nicht geboten (so beispielsweise Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 15.03.2004 ­ 2 BvR 406/03 ­ [Nichtannahmebeschluss]).