Daten

106 LDI NRW Persönlichkeit im Netz 2008 die Integrität des Kontextes und der darin organisierten Sozialbeziehungen gewährleistet.

Norm 1 Norm 2... Kontext 1

Kontext ... Abbildung 7: Das "Kontext"-Modell von Privatheit Helen Nissenbaum hat versucht, dies in einer allgemeinen Theorie von Privatheit als kontextueller Integrität zusammenzufassen.

Dieser Ansatz wird momentan an der Theorie-Front breit diskutiert, und hier scheint sich durchaus ein neues Verständnis von Privacy durchzusetzen.

7. Zeit, Zukunft und Vergessen

Beim Thema "Zukunft" spielt die zeitliche Dimension eine entscheidende Rolle. Und genau diese Dimension ist in der Debatte um Privatheit als kontextuelle Integrität bislang unterbelichtet.

Sowohl in der normativen Theorie von Nissenbaum, als auch in den verschiedenen technischen Ansätzen zum nutzer-kontrollierten Identitätsmanagement wird nur in der Sozialdimension differenziert. Man unterscheidet also, dass man in verschiedenen Kontexten unterschiedliche Rollen annehmen kann. Was bislang nicht breit diskutiert wurde, ist die zeitliche Dimension. Was genau auf den Partys von Samuel Warren und Louis Brandeis in Boston vor mehr als 100 Jahren passiert ist, weiß heute niemand mehr. Und

Helen Nissenbaum: Privacy as Contextual Integrity, in: Washington Law Review, 79:1 (2004), 119-157, .http://papers.ssrn.com/sol3/papers.cfm?abstract_id=534622

LDI NRW Persönlichkeit im Netz 2008 107 auch die damals Beteiligten konnten sich wahrscheinlich schon wenige Monate später nur noch an die Highlights erinnern oder im Familienkreis Fotos herumzeigen.

Bei heutigen gesellschaftlichen Events gibt es in der Regel sofort Flickr-Fotos, Blog-Posts und Twitter-Mitteilungen von Gästen und Angehörigen. Was passiert nun, wenn es etwa eine Hochzeitsfeier war, aber die Ehe nach ein paar Jahren scheitert? Die Betroffenen haben dann unter Umständen kein Interesse mehr daran, dass diese Informationen überhaupt verfügbar sind, und sei es auch nur für einen ausgewählten Kreis von Personen, also in einem definierten Kontext. Viktor Mayer-Schönberger hat daher kürzlich vorgeschlagen, dass man personenbezogene Daten mit einem Verfallsdatum versehen sollte.

Eine ähnliche Idee gab es auch bei dem anfangs erwähnten Workshop der Identity Futures Working Group: "2010 werden Usenet-Nachrichten von vor 20 Jahren beim Betrachten Altersflecken und Risse haben. Myspace-Einträge von vor zwei Jahren sind vergilbt."

Computer sollten also das Vergessen wenn schon nicht lernen, so doch zumindest symbolisch darstellen können. An dieser zeitlichen Dimension wird sich meines Erachtens die nächste große Debatte um Datenschutz, Privatheit und informationelle Selbstbestimmung entzünden.

Ein deutliches Zeichen dafür ist übrigens auch, dass sich ausgerechnet um das sperrige Thema "Vorratsdatenspeicherung" der politische Protest gegen die zunehmende Überwachung kristallisiert und organisiert hat. Die Vorratsdatenspeicherung hebt nämlich nicht nur die kontextuelle Integrität auf, indem sie pauschal alles

Viktor Mayer-Schönberger: Useful Void: The Art of Forgetting in the Age of Ubiquitous Computing, Research Working Paper 07-022, Cambridge/Mass.: John F. Kennedy School of Government, 2007, .http://ksgnotes.harvard.edu/Research/wpaper.nsf/rwp/RWP07-022

Identity Futures Working Group: Identity Futures, 2007, .http://wiki.idcommons.net/index.php/Identity_Futures

Die Ideen des Vergessens und des Verfallsdatums gehen über die zeitliche Beschränkung der Datenspeicherung durch die rechtlich bereits vorgesehene Zweckbindung hinaus. Im Gegensatz zu Daten, die zur Erfüllung eines Geschäftes oder anderer Transaktionen bei Dritten anfallen, werden nämlich auf den Plattformen des "Social Web" die Daten von den Betroffenen selber veröffentlicht, ohne dass ein bestimmter Zweck ihrer Nutzung festgelegt wäre.

LDI NRW Persönlichkeit im Netz 2008

Kommunikationsverhalten von allen speichern lässt, sondern sie hebt auch das Vergessen auf und zwingt die Betreiber von Internet- und Telefondiensten zum Erinnern - gegen ihr eigenes Geschäftsmodell und gegen die gesellschaftlichen Normen der Kommunikation.

Privacy bleibt also weiterhin ein spannendes Feld, in dem es gerade konzeptionell noch viele Innovationen, aber auch viele Kämpfe geben wird. Das lässt sich mit Gewissheit sagen, auch wenn ansonsten die Zukunft naturgemäß unbestimmt ist.