Es betont auch die staatliche Pflicht zum Schutz der Allgemeinheit

Das Bundesverfassungsgericht hat den Resozialisierungsauftrag als Verfassungsgrundsatz festgeschrieben. Soll dieser Auftrag erfolgreich durchgeführt werden, hat er sich an den individuellen Voraussetzungen jedes einzelnen jungen Gefangenen zu orientieren.

Aber das Bundesverfassungsgericht geht noch weiter. Es betont auch die staatliche Pflicht zum Schutz der Allgemeinheit. Das Thema „Schutz der Allgemeinheit" war bereits Gegenstand der Beratungen hier im Plenum. Das Bundesverfassungsgericht sieht den Schutz der Allgemeinheit nicht im Konflikt mit dem Resozialisierungsgebot. Im Gegenteil: Das Gericht leitet gerade aus diesem Gebot auch die Pflicht zum Schutz der Allgemeinheit ab. Ich darf aus dem Urteil zitieren: „Zugleich folgt die Notwendigkeit, den Strafvollzug am Ziel der Resozialisierung auszurichten, auch aus der staatlichen Schutzpflicht für die Sicherheit aller Bürger." (Frank Sichau [SPD]: Ja, wunderbar!)

Damit interpretiert das höchste Gericht auch den Inhalt des staatlichen Schutzauftrages. Der Staat hat seiner Schutzpflicht gerade dadurch nachzukommen, dass er Resozialisierung fördert und Rückfälligkeit reduziert.

Der Gesetzentwurf der Landesregierung trägt dem Rechnung, indem er den Schutz der Allgemeinheit als Aufgabe definiert. Der Gesetzentwurf der Landesregierung stellt die Stärkung des Erziehungsgedankens in den Vordergrund. Das ist ein ganz wichtiger Aspekt in diesem Gesetzesvorhaben; denn jugendliche Gefangene bringen zumeist erhebliche Defizite aus dem Vorleben mit.

Deshalb muss der Erziehungsgedanke Leitprinzip für die Gestaltung des Jugendvollzuges sein.

Aber auch hierbei stehen nicht nur rein therapeutisch ausgerichtete Erziehungsmaßnahmen im Mittelpunkt. Hierin unterscheidet sich der Gesetzentwurf der Landesregierung deutlich von dem Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen; denn es gilt, auch den jungen Gefangenen klar Pflichten zuzuweisen und sie zur Mitwirkung aufzufordern.

Deshalb halten wir es auch für völlig richtig, dass die Möglichkeit des offenen Vollzugs nicht von vornherein als Regelfall in den Entwurf aufgenommen wurde, sondern den jungen Gefangenen zusteht, die dafür ausdrücklich geeignet sind. Wir sagen: Der offene Vollzug ist eine wichtige Möglichkeit; er ist eine Entlassungsvorbereitung für geeignete Jugendliche. Wer nicht geeignet ist, gehört nicht in den offenen Vollzug. Jede andersgeartete Regelung in einem Gesetz über den Jugendstrafvollzug würde auf eine Gefährdung der Bevölkerung hinauslaufen.

Der Gesetzentwurf der Landesregierung erfüllt nicht nur die Vorgaben aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, sondern ist tatsächlich wegweisend für einen modernen und effektiven Jugendstrafvollzug in Deutschland. ­ Vielen Dank. Präsidentin Regina van Dinther: Danke schön, Herr Giebels. ­ Frau Düker hat nun für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen das Wort.

Monika Düker (GRÜNE): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im Gegensatz zu meinem Vorredner, Herrn Giebels, glauben wir, dass mit dem Gesetzentwurf die Landesregierung die Chancen für einen wirklichen Neubeginn und für einen Perspektivwechsel beim Jugendstrafvollzug, den das Bundesverfassungsgericht den Ländern als Hausaufgabe aufgegeben hat, nicht genutzt hat.

Wenn wir das Ziel der Resozialisierung bzw. in vielen Fällen der Sozialisierung ­ das können wir ruhig offen und ehrlich sagen ­ der Jugendlichen in den Jugendstrafvollzugsanstalten oder die Wiedereingliederung in die Gesellschaft oder, wie es im Vollzugsziel so schön heißt, die Befähigung, ein Leben ohne Straftaten zu führen, erreichen, brauchen wir die zweite Zielformulierung, nämlich den Schutz der Allgemeinheit, nicht mehr.

Wenn wir das erreichen, ist der Schutz der Allgemeinheit das Ergebnis eines guten und funktionierenden Strafvollzugs. Damit sind wir gleich bei der ersten Differenz, die wir Grüne mit dem Gesetzentwurf der Landesregierung haben, nämlich im Vollzugsziel den Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten bei der Gestaltung des Vollzugs festzuschreiben.

(Vorsitz: Vizepräsident Edgar Moron)

Aus unserer Sicht relativiert dies den Resozialisierungsgedanken und schwächt den Vorrang des offenen Vollzugs. Daher gehört das aus unserer Sicht in den Gesetzentwurf nicht hinein.

(Beifall von den GRÜNEN)

Dass bei unserem Jugendstrafvollzug ­ Herr Giebels, darüber sind wir einig ­ eine dringende Reformbedürftigkeit besteht, ist klar, weil wir meilenwert vom Vollzugsziel der Straffreiheit entfernt sind, wenn man sich die Rückfallquoten ansieht.

Je nach Untersuchung schwanken sie zwischen 70 und 90 %. Ich finde, eine Gesellschaft kann es sich im Grunde nicht leisten, einen Vollzug durchzuführen, der nicht annähernd das Ziel erreicht, dass die Jugendlichen nach dem Vollzug in der Lage sind, straffrei zu leben.

Deswegen müssen wir viel konsequenter das Ziel der Resozialisierung verfolgen. Genau das tut der Gesetzentwurf nicht. Eine erste Differenz habe ich damit genannt.

Ich will noch zwei weitere anführen. Die zweite große Differenz sind die fehlenden konkreten Standards. Nimmt man den Resozialisierungsgedanken ernst und will man sich wirklich konsequent daran orientieren, brauchen wir mehr verbindliche Rahmenvorgaben.

Ich nenne ein Beispiel: Dann brauchen wir einen Rahmen für die Wohngruppen. Es ist schön, dass die Ministerin ausführt, dass der Vollzug in der Regel in Wohngruppen erfolgen soll. Aber ich frage mich, ob eine Wohngruppengröße von 25 Personen wirklich funktionieren kann. Wir wissen, dass uns die Fachleute sagen, dass nur eine Anzahl von bis zu zwölf Personen eine Wohngruppe überhaupt noch funktionsfähig macht.

(Zuruf von Frank Sichau [SPD])

Was sollen sie in den Wohngruppen lernen? Dort sollen soziales Leben, Auseinandersetzung, Kommunikation gelernt werden. Dass das einer bestimmten Qualität bedarf und dabei eine Gruppengröße von zwölf Personen nicht überschritten werden soll, sagen alle, die auf diesem Gebiet arbeiten. Deswegen brauchen wir so etwas im Gesetz. Und das fehlt.

Was die Qualität und die Quantität des Personals angeht, bleibt das Gesetz für uns viel zu ungenau.

Wir haben in unserem Gesetzentwurf, der bereits eingebracht worden ist, einen Rechtsverordnungsvorbehalt für eine Zumessung an Personal festgeschrieben. Darüber hinaus haben wir auch die Ausbildung und damit die Qualität des Personals als Qualitätsstandard im Gesetzentwurf festgeschrieben; denn es bedarf zusätzlicher Ausbildung dieses Personals. Auch hier fehlt es an hinreichender Konkretisierung. Da steht lapidar: Die sollen besonders geeignet sein. ­ Das ist richtig.

Sie sollen aber zusätzlich und verbindlich qualifiziert werden.

(Beifall von den GRÜNEN)

Auch hier fehlen aus unserer Sicht Standards. Da ich konsequent am Resozialisierungsgedanken festhalte, würde ich auch empfehlen, statt Vollzugsplan Förderplan zu sagen. In unserem Gesetz heißt es Förderplan. Wir wollen diese Menschen fördern und an ihnen nichts vollziehen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall von den GRÜNEN und SPD)

Diese Terminologie macht deutlich, wo die Unterschiede sind.

Der letzte Punkt, der mir persönlich auch sehr wichtig ist, ist die Zusammenarbeit Jugendhilfe und Justiz. Uns sagen viele Fachleute immer wieder: Gerade diese Schnittstelle funktioniert suboptimal, um es vorsichtig zu sagen. Deswegen schlagen wir im Gesetzentwurf vor ­ neben den warmen Worten ­, im ersten Ausführungsgesetz zum Kinder- und Jugendhilfegesetz die Rolle der Jugendhilfe rechtlich zu normieren. Das bedeutet: in der Förderplanung, in der Entlassungsvorbereitung eine konsequente Einbeziehung der Jugendhilfe. Jugendhilfe darf nicht da aufhören, wo der Vollzug anfängt. Hier muss ein IneinanderÜbergehen, ein Hand-in-Hand-Arbeiten gegeben sein. Ich bin sicher, dass das auch von Ihnen gewünscht und gewollt ist. Wir meinen aber, man kann das konkreter gesetzlich normieren, damit es verbindlicher ist.

(Beifall von den GRÜNEN ­ Das Ende der Redezeit wird angezeigt.)

Ich will es bei den drei großen Kritikpunkten belassen, meine Damen und Herren. Wir glauben, unser Gesetzentwurf ist besser, und freuen uns auf die Anhörung.

(Beifall von den GRÜNEN) Vizepräsident Edgar Moron: Vielen Dank, Frau Düker. ­ Für die FDP-Fraktion spricht Herr Dr. Orth.

Dr. Robert Orth (FDP): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dass Kollegin Düker ihren Gesetzentwurf für besser hält, wollen wir ihr nicht übelnehmen, auch wenn wir ihr mehrheitlich nicht folgen.

Eines ist schon verwunderlich, wenn ich einmal an die alte stolze SPD denke: Angesichts der Tatsache, dass wir hier von 2000 bis 2005 Gesetzentwürfe noch und nöcher präsentiert bekommen haben, halte ich es schon für ein Armutszeugnis, sich bei so einem wichtigen Thema auf einzelne Themenbereiche zu stürzen, zu sagen, die Landesregierung hätte schneller sein können, und als einzige Fraktion hier im Hause keinen Entwurf vorzulegen, meine Damen und Herren.

(Beifall von der CDU)

Machen Sie sich bitte auch einmal die Arbeit und stellen sich nicht nur hierhin und reden über die Jugendhilfe und das Beschwerderecht, (Zuruf von Frank Sichau [SPD]) sondern erkennen Sie zum Beispiel einmal an, was alles in diesem Gesetzentwurf geregelt wird: Ausbildung, Schule, Sport, Einzelzellen, Drogenberatung, Gesundheit. Ich könnte diese Aufzählung fortführen. Der Gesetzentwurf ist ziemlich umfangreich. Aber zu den Kernpunkten hören wir nichts. Das ist klar, weil das gut ist. Und Sie trauen sich nicht, dazu etwas zu sagen. Insofern bitte ich Sie, sich auch selber einmal zu fragen, was Sie hier vonseiten der SPD heute für einen Beitrag geleistet haben, meine Damen und Herren.

Vizepräsident Edgar Moron: Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Kollegen Link, Herr Dr. Orth?

Dr. Robert Orth (FDP): Ja, gerne.

Vizepräsident Edgar Moron: Bitte schön.

Sören Link (SPD): Sehr geehrter Herr Dr. Orth.

Sind Sie mit mir der Meinung, dass der vorliegende Gesetzentwurf, der die Bezeichnung „Gesetzentwurf der Landesregierung" trägt, eben nicht ein Gesetzentwurf von CDU und FDP, sondern ein Gesetzentwurf der Landesregierung ist und damit auch von Ihrer Fraktion und von der CDU-Fraktion kein Entwurf vorliegt?

Dr. Robert Orth (FDP): Das ist wirklich Rhetorik der untersten Schublade.

(Beifall von der FDP ­ Zurufe von der SPD)

Dass die Landesregierung von der FDP und von der CDU getragen wird und dass man, wie es auch bei Ihnen früher der Fall war, vorher miteinander redet, was in einem Gesetzentwurf der Landesregierung drinsteht, ist doch klar. Insofern sage ich: Ja, ich finde, das ist auch mein Gesetzentwurf. Das muss ich nicht noch einmal draufschreiben, sondern stehe auch so voll und ganz dahinter. Ich bleibe dabei: Aus Ihrer Fraktion ist definitiv nichts gekommen, es sei denn, Sie fühlen sich jetzt auch als regierungstragende Fraktion.

Das wäre mir jedenfalls neu.

(Zuruf von Frank Sichau [SPD])

Wenn die Kollegin Düker kritisiert, dass wir auch auf den Schutz der Allgemeinheit abstellen, so muss ich sagen: Das ist leider nun einmal Realität im Vollzug. Wir haben dort Jungen und Mädels, die nicht diejenigen sind, die draußen frei herumlaufen dürfen. Sonst wären sie im Moment nicht in einer geschlossenen Einrichtung. Es geht nicht nur darum, dass die jungen Menschen gefördert werden, um straffrei leben zu können, sondern es besteht auf der anderen Seite leider auch die Notwendigkeit, die Allgemeinheit vor dem einen oder der anderen zu schützen.

(Monika Düker [GRÜNE]: Mit Resozialisierung!) Man verschließt die Augen, wenn man dies nicht erkennt und in einem Gesetz entsprechend gewichtet. Sonst schürt man falsche Erwartungen an eine Kuschelpädagogik, die wir jedenfalls nicht so mittragen wollen, meine Damen und Herren.

Wenn Sie dann noch darauf abstellen, dass fehlende Standards in diesem Gesetzentwurfs sind, so kann ich nur sagen: Die ganze Standarddebatte haben wir früher beim Kindergarten gehabt. Da wurde definiert, wie breit die Kleiderbügel für Kinder sein müssen, wie hoch die Toiletten hängen dürfen und Ähnliches. Ich bin froh, dass wir die Leitlinien festgelegt haben, in denen es um Ausbildung, um Schule, um Sport, um das Einbeziehen der Eltern und Ähnliches geht, und wir uns weniger in Klein-Klein verheddert haben. Wer damit einverstanden ist, den bitte ich um das Handzeichen. ­

Ist jemand dagegen? ­ Enthaltungen? ­ Das ist einstimmig vom Parlament so beschlossen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, angesichts der Tatsache, dass wir noch weitere zehn Tagesordnungspunkte zu behandeln haben, haben sich die Fraktionen darauf verständigt, zwei weitere Punkte ohne Debatte zu erledigen.