Die höchste Bedeutung kam der präventiv wirkenden Vermeidung von Wohnungslosigkeit zu
Referenzmodelle in den Handlungsfeldern der Obdachlosenhilfe 128 Dreizehnter Zusammenfassender Bericht des Hessischen Ausführungsgesetzes zum BSHG und eine veränderte Zuständigkeitsverteilung zwischen Kommunen und Landeswohlfahrtsverband erreichbar.
9.16 Referenzmodelle in den Handlungsfeldern der Obdachlosenhilfe
Neben den dargestellten Schwächen und Fehlfunktionen des Systems der Wohnungsund Obdachlosenhilfe ließen sich für alle Handlungsfelder Beispiele finden, die vorbildlich für die zukünftige Gestaltung des Hilfesystems und seiner Organisation sein können.
Die höchste Bedeutung kam der präventiv wirkenden Vermeidung von Wohnungslosigkeit zu. Vor allem die Zentrale Fachstelle Wohnen in Kassel und die zuständige Stelle im Sozialrathaus Bockenheim in Frankfurt am Main entwickelten effektive Verfahren zur Vermeidung von Wohnungsverlusten. Die Verfahrensweisen waren ähnlich.
Entscheidend für den Erfolg war ein abgestuftes System der Intervention, das die psychologische Situation der Personen bei drohendem Wohnungsverlust berücksichtigte, und eine Nachsorge, um durch Erhalt der Wohnung die Nachhaltigkeit der Maßnahmen abzusichern. Der folgende Arbeitsablauf beschreibt die Praxis in den genannten Organisationseinheiten:
· Nach Kenntnisnahme über Selbstmeldung, Meldung des Vermieters oder die Mitteilung einer Räumungsklage durch das Amtsgericht erhielt der Klient zunächst ein Anschreiben mit der Aufforderung zum Gespräch.
· Soweit es zu der Anordnung eines Zwangsräumungstermins durch das Amtsgericht kam, versuchten die Mitarbeiter im Wohnungs- oder Sozialamt den Sachverhalt genauer zu klären und Kontakt zum zuständigen Gerichtsvollzieher aufzunehmen. Der Klient wurde wieder angeschrieben und um Gespräche gebeten.
Wenn der Klient nicht reagierte, wurde eine Kontaktaufnahme über ein Telefonat oder einen Hausbesuch angestrebt.
· Kam es trotz der Bemühungen zum Zwangsräumungstermin, war ein Mitarbeiter vor Ort und versuchte, die Zwangsräumung durch Gespräche mit Vermieter und Klient noch abzuwenden. Im Extremfall wurde in Bockenheim über Mobiltelefon eine Sitzung im Sozialrathaus anberaumt, die innerhalb kürzester Zeit über eine Mietschuldenübernahme nach § 15a BSHG entscheiden konnte. Da sowohl für den Klienten als auch für den Vermieter die Zwangsräumung nicht vorteilhaft war (für den Klienten wegen des Wohnungsverlusts und für den Vermieter, weil er die Räumungskosten zu tragen hatte und gegebenenfalls die Mietschulden nicht wieder eintreiben konnte), waren noch Spielräume gegeben, die genutzt werden konnten.
· Misslang die Wohnungssicherung, wurde in anderen Wohnraum vermittelt oder eine Unterbringung veranlasst. In Frankfurt am Main verblieb die Zuständigkeit für drei Monate bei dem jeweiligen Sozialrathaus. Erst dann wurde an den Besonderen Dienst verwiesen, der für längerfristige Unterbringungsmaßnahmen und Hilfen verantwortlich war.
· Soweit eine Zwangsräumung erfolgreich verhindert werden konnte, wurde über einen Zeitraum von drei Monaten geprüft, inwieweit die Fortsetzung des Mietverhältnisses stabil war (Vorlage einer Mietquittung).
· Die Übernahme von Mietschulden wurde in der Regel als Darlehen gewährt. Kam es zu einem wiederholten Auflaufen von Mietschulden, wurde eine weitere Übernahme der Mietschuld geprüft.
· War die Ursache für die Mietschulden eine zu hohe Mietbelastung im Vergleich zum erzielbaren Einkommen, wurde versucht, dem Klienten eine andere Wohnung zu vermitteln.
Mit dieser Verfahrensweise konnte in Kassel der Wohnungsverlust in mehr als 98 Prozent aller Fälle verhindert werden. Im Sozialrathaus Bockenheim lag dieser Wert im 2. Halbjahr 2002 bei 84 Prozent, in den ersten acht Monaten des Jahres 2003 bei Positive Beispiele für Prävention in Frankfurt am Main und Kassel Zweiundneunzigste Vergleichende Prüfung „Obdachlosenhilfe" Dreizehnter Zusammenfassender Bericht 129
91 Prozent. Die Ergebnisunterschiede sind nicht durch unterschiedliche Verfahrensweisen, sondern vor allem durch die unterschiedlich strukturierten Wohnungsmärkte erklärbar (Wohnungsleerstand in Kassel, angespannter Wohnungsmarkt in Frankfurt am Main). Die günstigere Verhandlungsposition des Kasseler Wohnungsamts gegenüber den Vermietern war ein wichtiger Faktor für die hohe Erfolgsquote der Zentralen Fachstelle Wohnen in Kassel.
Für die Unterbringung Wohnungs- und Obdachloser zeigte die Vergleichende Prüfung, dass die Landeshauptstadt Wiesbaden mit jährlichen Bruttoausgaben von 6.500 je Wohnungslosen das niedrigste Ausgabenniveau in der Wohnungsnotfallhilfe hatte. Die Stadt Darmstadt gab 14.400 je Person aus. Die Kennzahl „Ausgaben je Wohnungsund Obdachlosen" berücksichtigte die jeweils vorhandene Zahl der Wohnungs- und Obdachlosen in den Städten. Sie war deshalb ein vergleichbarer Maßstab für den monetären Aufwand unabhängig von der jeweiligen Wohnungs- und Obdachlosendichte.
Die Gründe für die niedrigeren Ausgaben waren nicht auf eine geringere Qualität oder Quantität des Betreuungsangebots in Wiesbaden zurückzuführen. Vielmehr war die Zusammensetzung des Angebots entscheidend:
· Im Gegensatz zu den Vergleichsstädten hatte Wiesbaden einen geringeren Anteil an vom Landeswohlfahrtsverband finanzierten AngebotenT 135T. Die vorhandenen Angebote waren ausgelastet. Die knappe Ressource trug dazu bei, dass die Verweildauern in der Unterbringung nach § 72 BSHG und im Betreuten Wohnen sich in einem vertretbaren Umfang bewegten.
· Für die städtischen Wohnungsnotfälle finanzierte Wiesbaden zwei unterschiedliche Einrichtungen: Eine Kurzzeiteinrichtung in der Schiersteiner Straße und zwei Einrichtungen der Heilsarmee für längere Aufenthaltsdauern. In der Kurzzeiteinrichtung wurden Personen untergebracht, die relativ schnell wieder in Wohnraum vermittelt werden konnten und nicht den Hilfebedarf des § 72 BSHG aufwiesen.
Solche gut ausgestatteten Einrichtungen trugen dazu bei, dass länger andauernde Wohnungslosigkeit und die damit verbundenen negativen Auswirkungen vermieden wurden.
In den Einrichtungen der Heilsarmee fanden sich wiederum Personen, die teilweise über Jahre und Jahrzehnte dort wohntenT 136T. Diese Einrichtungen waren vor allem versorgend tätig. Bewohner erhielten Unterstützung, soweit sie in der Lage waren, eine eigene Wohnung zu bewohnen. Aktivierende Hilfen standen nicht im Vordergrund.
Die Betreuungsstruktur Wiesbadens war günstig, weil den unterschiedlichen Bedürfnissen der Klientel jeweils ein geeignetes und in seiner Ausgestaltung spezialisiertes und daher kostengünstiges Angebot zur Verfügung stand. Zwar fanden sich in allen Kommunen für Angebotsbereiche qualitativ vergleichbare Angebote. Jede andere Kommune des Vergleichs hatte aber in Angebotsbereichen Überkapazitäten oder Abläufe, die zu höheren Kosten führten: 135 Eine neue vom Landeswohlfahrtsverband Hessen finanzierte Tageseinrichtung konnte im Vergleich noch nicht berücksichtigt werden. Die Ergebnisse für die Unterbringung bleiben unberührt.
In einem Umfang von 10 Prozent ist dies im Übrigen in allen Vergleichskommunen festzustellen. In Darmstadt waren sowohl die vom Landeswohlfahrtsverband finanzierten als auch die städtisch finanzierten Plätze und Tageseinrichtungen überdurchschnittlich teuer. In Frankfurt am Main hatten insbesondere die vom Landeswohlfahrtsverband finanzierten Einrichtungen mit 4.600 verhältnismäßig hohe Kosten.
· Im Jahr 2002 waren in Frankfurt am Main 50 Prozent des Angebots im Betreuten Wohnen nicht ausgelastet. Der Überhang teurer Hilfeformen führte zu höheren Ausgaben.
· Kassel hatte im Vergleich die teuersten Angebote im Bereich der Tagesaufenthalts- und Beratungsstellen. Außerdem befanden sich dort die einzigen der vom Landeswohlfahrtsverband finanzierten Einrichtungen zur Unterbringung von Haftentlassenen. Keine andere Stadt unterhielt solche Einrichtungen.
· Offenbach am Main hatte zum einen vergleichsweise hohe Durchschnittskosten bei der vom Landeswohlfahrtsverband finanzierten Einrichtung. Zum anderen wurde bei der Vermeidung von Wohnungsverlusten nur das Notwendigste getan, was zum Anstieg der Wohnungslosen von 62 Prozent innerhalb von drei Jahren beigetragen hat. Der hohe Anstieg der Wohnungslosen trieb die Kosten der Unterbringung nach oben.
Die dargestellten Ursachen für die Kostenunterschiede bei durchaus vergleichbarer Betreuungsqualität zeigen, dass vor allem ein differenziertes Interventionssystem und ein bedarfsorientiertes Angebot für die Wirksamkeit und Kosten der Wohnungsnotfallhilfe wichtig sind.
Eine Strategie der wirksamen Prävention wie in Kassel und im Sozialrathaus Bockenheim sowie eine ausgewogene Hilfeinfrastruktur in der Unterbringung wie in Wiesbaden sollte angestrebt werden.
Auf eine Vielfalt der Einrichtungsangebote mit unterschiedlichen Formen und unterschiedlichem Umfang der Betreuung der dort untergebrachten Personen sollte nicht verzichtet werden:
· Betrachtet man Fälle mit jahrelanger Hilfebiografie, kann es durchaus sinnvoll sein, nicht den zehnten Sozialarbeiter mit der Betreuung zu beauftragen, sondern den Menschen Ruhe in einem Zimmer einer Einrichtung zu verschaffen.
· In anderen Einrichtungen kann der Selbsthilfeaspekt bei der Reinigung und Instandhaltung im Vordergrund stehen und auf diese Weise eine Tagesstruktur geschaffen werden.
· Ebenso könnten zur Vorbereitung auf eine eigene Wohnung in Einrichtungen Wohngemeinschaften gebildet werden, die sich weitgehend selbst versorgen.
Bei der Wiedererlangung von Wohnraum sind aufgrund der unterschiedlichen Wohnungsmärkte allgemeingültige Lösungen nicht möglich. Daher waren die Strategien der Kommunen vielfältig. Die Klientel war schwierig vermittelbar. Selbst bei Belegungsrechten der Kommune waren mehrere Vorschläge für potenzielle Mieter üblich.
Zwei Verfahrensweisen könnten unterstützend wirken:
· In Frankfurt am Main kümmerten sich zwei Mitarbeiter des Sozialamts, die direkt beim Wohnungsamt angesiedelt waren, um diese Personen. Sie sorgten dafür, dass die Wohnungslosen mit besonderer Dringlichkeit bei der Wohnungsvergabe berücksichtigt wurden. Zudem wurde der Wohnungslose in vielen Fällen auf das Vorstellungsgespräch vorbereitet (Kleidung, Auftreten).
· In Wiesbaden wurde den Vermietern in geeigneten Fällen ein Probewohnen angeboten. In den ersten Monaten wurde der Vermieter von Risiken wie ausstehenden Mietzahlungen oder Schäden am Wohneigentum freigestellt. Die Stadt garantierte ihm die Übernahme der Kosten für die ersten Monate, was die Bereitschaft zu einem Mietverhältnis erhöht.