Die Ideologie der Milli Görüs
Die Ziele der Milli-Görüs-Bewegung wurden von Erbakan in einer Art Manifest niedergelegt, das er 1991 unter dem Titel "Adil Düzen" ("Gerechte Ordnung") veröffentlichte. Nur der Teil, der sich mit der "gerechten Wirtschaftsordnung" befasst, ist schriftlich ausformuliert und auch auf Deutsch erschienen. Andere Teile, darunter die politische Ordnung werden in Skizzen und Tabellen dargestellt. Die politischen Thesen Erbakans, die auch mit antisemitischen Stereotypen durchsetzt sind, besagen im Kern, dass jede Epoche der Menschheitsgeschichte durch den Kampf zweier Zivilisationen bzw. Ordnungen bestimmt sei, sich in ihren Grundlagen feindlich entgegenstehen. Auf der einen Seite gäbe es Ordnungen, die von Menschen entworfen wurden. Sie beruhten auf der Macht des Stärkeren und führten zu Unrecht, Ausbeutung und vielen weiteren negativen Erscheinungen. Sie werden von Erbakan als "nichtige Ordnung" ("batil düzen") bezeichnet. Auf der anderen Seite stünden die auf göttlicher Offenbarung gegründeten Ordnungen, die die Wahrheit und das sich daraus ergebende Recht (hak) zum Wohle der Menschen walten ließen. Das aus dem Koran entlehnte Gegensatzpaar "Gott/ Wahrheit/ Recht" ("hak") und "Aberglaube" ("batil") wird so auf eine politische Ebene geführt, religiöse Begriffe werden zu politischen umgestaltet. Die "nichtigen" Ordnungen ("batil") wurden, so die Vorstellung, in der Menschheitsgeschichte immer wieder von "gerechten" Ordnungen ("hak") abgelöst. So sei der "guten" hebräischen Rechtsordnung die "schlechte", menschengemachte altgriechische Demokratie gefolgt, der "guten" islamischen Zivilisation die "schlechte" westliche Bürokratie.
Ziel der Bewegung ist es, dieses heute herrschende, als "westliche", "bürokratische Ordnung" bezeichnete demokratische System zu überwinden und durch die in "Adil Düzen" skizzierte "gerechte Ordnung des Friedens und der Verständigung" zu ersetzen, die auf dem Islam basieren soll. Dieses Ziel wird zunächst für die Türkei, dann aber auch für die gesamte Menschheit angestrebt.
Die Ablehnung "westlicher Demokratie" und damit auch der freiheitlichen demokratischen Grundordnung durch die Milli-Görüs-Ideologie ist evident. Dies zusammen mit den antisemitischen Einstellungen und Aussagen des Führers der Milli Görüs, wie auch anderer maßgeblicher Anhänger der Bewegung, macht eine Beobachtung von Milli Görüs durch den Verfassungsschutz auf der gesetzlichen Grundlage (§3 Absatz 1 Nr. 1 VSG) erforderlich.
Milli Görüs in Deutschland
Die als Milli Görüs bekannte Organisation gab sich in Deutschland erstmalig 1976 als Türkische Union Europa e.V. mit Sitz in Köln eine Vereinsstruktur. 1982 wurde dieser Verein in Islamische Union Europa e.V. umbenannt. Um das Jahr 1984 kam es innerhalb von Milli Görüs zu einem heftigen Richtungsstreit zwischen einem Erbakan treuen und auf politische Beteiligung innerhalb der herrschenden Ordnung setzenden Flügel und radikalen Anhängern der iranischen Revolution, die sich vor allem um Cemaleddin Kaplan sammelten, den späteren Gründer des Kalifatsstaates und ersten "Kalifen von Köln". Ein erheblicher Teil der damaligen Milli-Görüs-Anhänger wandte sich Kaplan zu.
Nach diesem für die Bewegung negativen Verlauf wurde der Wiederaufbau der Milli Görüs in Deutschland von Angehörigen der 1983 in der Türkei gegründeten Refah Partisi, die auf Weisung Necmettin Erbakans nach Deutschland entsandt wurden, in die Hand genommen. Dadurch entstand zwischen der politischen Bewegung in der Türkei und der in Deutschland 1985 gegründeten Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa e.V. (Avrupa Milli Görüs Teskilatlari/AMGT) eine äußerst enge Verbindung.[ ] Ende 1994 und Anfang 1995 wurde die Milli Görüs in Deutschland organisatorisch neu geordnet. Die AMGT wurde in Europäische Moscheebau und -unterstützungsgemeinschaft e.V. (EMUG), ein Bonner Milli-Görüs-Verein in Islamische Gemeinschaft Milli Görüs e.V. umbenannt. In den neuen Vorständen von EMUG und IGMG waren jedoch dieselben Personen vertreten, die zuvor den Vorstand der AMGT gebildet hatten. Tatsächlich spiegelt die Neuorganisation eine Aufgabentrennung wider: die EMUG verwaltet die Immobilien, die IGMG übernimmt Aufgaben im religiösen, kulturellen und sozialen Bereich.
Die IGMG selbst stellt diese Neuorganisation 1995 als einen entscheidenden Einschnitt dar. Eine neue Generation von Führungskräften sei aufgerückt, und Milli Görüs in Deutschland sei deshalb nicht mehr islamistisch. Richtig daran ist, dass nach 1995 teilweise ein Generationswechsel auch auf der Führungsebene stattgefunden hat. Auch auf dieser Ebene so kann man mit guten Gründen annehmen teilen mittlerweile etliche Milli-Görüs-Anhänger die ideologischen Vorgaben von Necmettin Erbakan nicht mehr.
Andererseits sind auch die islamistisch ausgerichteten Erbakan-Anhänger nach wie vor in der Organisation vertreten und bemühen sich, ihre ideologischen Ziele in und mit Hilfe der Organisation zu verwirklichen.
Struktur
In Deutschland ist die IGMG organisatorisch in 15 Regionalverbände untergliedert. Die Regionalverbände sind Zusammenschlüsse der Ortsvereine. In Nordrhein-Westfalen gibt es mit Ruhr-Nord, Ruhr A, Düsseldorf und Köln vier dieser Regionalverbände. Weitere 15 Regionalverbände bestehen in zehn anderen westeuropäischen Staaten, außerdem gibt es Zweigstellen in Australien und Kanada. Die Zentrale der IGMG befindet sich in Kerpen, Nordrhein-Westfalen. Neben dem Generalsekretariat sind die Tätigkeitsbereiche Organisation, Jugend, Frauen, Bildung, Darstellung und religiöse Weisung eigene Abteilungen.
Insgesamt gehören der IGMG nach eigenen Angaben 514 Gemeinden in Europa an, davon 323 in Deutschland. In Nordrhein-Westfalen befinden sich rund 100 Ortsvereine der IGMG. Die Angaben der IGMG zur Zahl ihrer Mitglieder (87.000) und "Freitagsgemeinde" (300.000) sind nicht belegt und erscheinen übertrieben.
Aktivitäten Abgesehen von der religiösen Betreuung in den Moscheen, zu den islamischen Festen und Feiern, der Pilgerfahrt oder der Bestattung, bietet die IGMG auch ein breitgefächertes Angebot auf kulturellem, sozialem und pädagogischem Gebiet an. So werden Vortragsveranstaltungen, Gesprächskreise, Kurse für Frauen, Koranlesewettbewerbe und geschlechtergetrennte Ferienlager für Kinder oder Computerkurse angeboten. Auch Sportvereine und Studentenvereinigungen gehören zur IGMG. Sie unterhält darüber hinaus eine Rechtsabteilung, die die Mitglieder in juristischen Fragen, wie der Abmeldung von Mädchen vom Schwimmunterricht in der Schule oder in Einbürgerungsverfahren unterstützt.
Publikationen und Medien
Die IGMG gibt eine eigene Monatszeitschrift heraus, die IGMG Perspektive, die in türkischer Sprache erscheint. Einige Artikel werden aber immer auch in deutscher Übersetzung abgedruckt. Darüber hinaus werden weitere regionale oder für bestimmte Zielgruppen, etwa Kinder, gedachte Publikationen herausgegeben. Auch Materialien und Bücher für einen islamischen Religionsunterricht oder allgemein zum Islam gibt es von der IGMG.
Ihre Homepage im Internet hat die IGMG im Jahr 2007 erneuert. Der Internetauftritt der IGMG ist vor allem vielseitiger und anspruchsvoller geworden. Jetzt wird auch hier über die Aktivitäten des Vereins bis hin zur Ortsvereinsebene berichtet. Sie bietet Presseerklärungen der Organisation und die Möglichkeit, Publikationen der IGMG herunter zu laden. Ferner kann hier das Internetradio der IGMG empfangen werden. Als ein Medium zur Verbreitung islamistischer Einstellungen kann das IGMG-Portal nicht bezeichnet werde.
IGMG und Milli-Görüs-Ideologie
Die ideologische Propaganda der Milli Görüs in Europa hat sich inzwischen zu einem erheblichen Teil von der IGMG als solcher abgekoppelt. Neben der Milli Gazete, dem inoffiziellen Sprachrohr der Milli Görüs, wird die Ideologie heute vor allem über Internetforen verbreitet. In einem der bekanntesten dieser Foren wird jedoch unter der Rubrik Milli Görüs (Unterforum) neben der Saadet Partisi (SP), der Jugendorganisation (AGD) und der Hilfsorganisation Cansuyu auch die IGMG als Teil der Bewegung aufgeführt. Zum Teil sind die im Internet geäußerten Meinungen sogar erheblich radikaler als die Milli Görüs gemeinhin ist.
Gerade junge Leute scheinen sich hier "auszutoben". Dabei kann es sich sowohl um verfestigte extremistische Ansichten und radikale Einstellungen handeln, als auch um jugendlichen "Überschwang". Die IGMG scheint jedenfalls das Problem zu haben, dass weit radikalere islamistische Kreise junge Muslime, die zur Milli Görüs gehören, beeinflussen und auf ihre Linie einschwören.
Seit langem wird von den Verfassungsschutzbehörden festgestellt, dass Äußerungen von Funktionären der IGMG den Eindruck hervorrufen, die IGMG halte an der islamistischen Ideologie von Necmettin Erbakan fest. Dies war auch 2007 so. Laut einem Bericht aus der Milli Gazete erklärte beispielsweise ein Funktionär aus der Generalzentrale in Kerpen auf einer IGMG-Bildungsveranstaltung in Österreich: "Seit den ersten Menschen gibt es einen Kampf; das ist der Kampf zwischen Hak [Gott/Wahrheit/Recht] und Batil [Aberglaube/Nichtigem]". (Milli Gazete, 11. Dezember 2007, S. 11)
Ein führender Funktionär aus der Generalzentrale sagte an anderer Stelle: "Unsere eigentliche Aufgabe ist es, daran zu arbeiten, dass auf der Welt das Recht/die Gerechtigkeit (hak) herrsche." (Milli Gazete, 13. März 2007, S. 2) Ein weiterer IGMG-Funktionär sprach auf einer Veranstaltung davon, dass Gott den Islam und den Koran auf der Welt (vor)herrschen lassen möge (Milli Gazete, 21. November 2007, S. 10). Solche Formulierungen, die so oder ähnlich vielfach zu entdecken sind, müssen nicht ideologisch und damit als extremistisch aufgefasst werden. Es ist zweifellos möglich, diese Äußerungen in einem religiösen Zusammenhang zu verstehen. Andererseits übernehmen sie aber auch Passagen der islamistischen Ideologie von "Adil Düzen", mit der dort verbreiteten Vorstellung des Kampfes von "Hak und "Batil" und der letztendlichen Überwindung des "Batil"-Systems durch die "islamische Zivilisation". Sie erinnern stark an Äußerungen von Necmettin Erbakan, von SP-Funktionären oder Kolumnisten, die in der Tageszeitung Milli Gazete zu lesen sind, die ebenfalls den Kampf zwischen "Hak" und "Batil" thematisieren und außerdem die westliche Demokratie zum Feind erklären, die von ihnen als "rassistischer Imperialismus" verunglimpft wird. Selbstverständlich können und sollen die Meinungen von Erbakan, den SP-Funktionären oder der Kolumnisten nicht uneingeschränkt der IGMG zugerechnet werden. Die Verbindungen, die zwischen der IGMG und der Milli Görüs in der Türkei bestehen, sind jedoch nicht zu übersehen, und führen dazu, dass möglicherweise nicht politisch gemeinte Formulierungen von Zuhörern und Lesern als politische verstanden werden.
Die Nähe der IGMG zur politischen Bewegung Milli Görüs drückt sich unter anderem in ihren Anzeigen in der Milli Gazete aus. Dort sind regelmäßig Kondolenzanzeigen, Genesungs- oder Glückwünsche und ähnliche Annoncen sowie Ankündigungen und Verlaufsberichte von regionalen und überregionalen Veranstaltungen der IGMG zu lesen. Dies deutet darauf hin, dass es sich hierbei um das Publikationsorgan handelt, mit dessen Hilfe die IGMG ihre Anhänger am besten zu erreichen glaubt. Daraus wiederum kann geschlussfolgert werden, dass die Leserschaft der Milli Gazete mit der Anhängerschaft der IGMG zumindest in weiten Teilen deckungsgleich ist. Da die Milli Gazete aber entschieden für politische Inhalte auf der ideologischen Linie von Necmettin Erbakan und der Saadet Partisi eintritt, muss man davon ausgehen, dass diese Inhalte von Teilen der IGMG mitgetragen werden.