Migration

Urenkelinnen und Urenkel mit berücksichtigen? Hat jemand eine Zuwanderungsgeschichte, dessen Eltern und Großeltern bereits in Deutschland geboren wurden? Je weiter biographisch zurückgegangen wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen eine Zuwanderungsidentität unterstellt wird, die für sie subjektiv ohne Belang ist. So kann die in guter Absicht in einem Gespräch oder einer Beratungssituation angenommene Bedeutung der Zuwanderungsgeschichte von manchen Menschen durchaus als diskriminierend verstanden werden. Dies ist dann der Fall, wenn sie als "ganz normale" deutsche Mitbürgerinnen und Mitbürger behandelt werden wollen und nicht als Angehörige der Minderheit "Menschen mit Migrationshintergrund."

An diesem Problem wird sogar ein Vorteil des heute zumindest im nichtjuristischen Kontext selten benutzen Ausländerbegriffs deutlich. Die Tatsache, Ausländer oder Ausländerin zu sein, endet mit der Einbürgerung, also durch eigenes Handeln. Einen Migrationshintergrund behält man - wenn der Begriff überdehnt wird - hingegen zeitlebens, ohne dass daran durch eigenes Handeln etwas verändert werden könnte.

Gleichwohl ist der richtig verstandene Begriff "Mensch mit Zuwanderungsgeschichte" ein großer Fortschritt gegenüber anderen Bezeichnungen, weil er die vielschichtige Realität von Zuwanderung und Integration besser in den Blick nimmt. Diese stellt sich wie folgt dar:

- Auch viele Deutsche haben eine Zuwanderungsgeschichte: Sie sind im Ausland geboren und z. B. als Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler im Laufe ihres Lebens zugewandert: Wenn die Bestimmungen des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) erfüllt sind, gehen sie und ihre Kinder in die Statistik als Deutsche ein.

- Viele Deutsche sind ehemalige Ausländerinnen und Ausländer: Sie sind nach Deutschland zugewandert oder kamen hier zur Welt und wurden später eingebürgert. Sie und ihre Kinder gehen in die Statistik als Deutsche ein.

- Viele Ausländerinnen und Ausländer sind zum Teil in zweiter und dritter Generation in Deutschland geboren und verfügen über keine eigene Wanderungserfahrung: Sie gehen in die Statistik als Ausländerinnen bzw. Ausländer ein.

Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (BVFG) vom 19. Mai 1953, zuletzt geändert am 16. Mai 2007 (BGBl. I S. 748).

So lange nur wenige Ausländerinnen und Ausländer die Einbürgerung anstrebten, fiel die Schwäche des Begriffs kaum ins Gewicht. Spätestens mit der Liberalisierung der Einbürgerungspraxis und der Einführung von Elementen des ius soli (Territorialrechts) durch das seit dem 1. Januar 2000 gültige Staatsangehörigkeitsgesetz hat sich das geändert.

Das zeigt sich in aller Deutlichkeit bei der Geburtenentwicklung.

Laut Statistik sind 1997 in Nordrhein-Westfalen 32.646 ausländische Kinder zur Welt gekommen, das waren 17,1 % aller Geburten. Im Jahr 2006 wurden nur mehr 7. ausländische Kinder in Nordrhein-Westfalen geborenen, das waren 5,2 % aller Geburten. Anders formuliert: Jedes sechste Kind, das in Nordrhein-Westfalen vor 10 Jahren das Licht der Welt erblickte, war ausländischer Staatsangehörigkeit.

Heute ist es nur mehr knapp jedes 20te. Das neue Staatsangehörigkeitsrecht hat bewirkt, dass die Zahl der in Deutschland geborenen ausländischen Kinder drastisch zurückgegangen ist. Die Zahl der Kinder, die familiär durch Zuwanderung geprägt sind, nimmt hingegen weiter zu. Schon um diesen veränderten Realitäten Rechnung zu tragen, bedarf es des Begriffes "Menschen mit Zuwanderungsgeschichte".

Verbesserung der Integrationsberichterstattung durch den Mikrozensus/ Definition "Menschen mit Zuwanderungsgeschichte"

Mit dem Mikrozensusgesetz 2005 (BGBl. I S. 1350) vom 24. Juni 2004 bieten sich nun neue Möglichkeiten der Erfassung der Gruppe der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte an, die den bisherigen Standard der Integrationsberichterstattung deutlich verbessern. Dadurch wird es erstmals auf breiter Datengrundlage möglich, über den Kreis der Ausländerinnen und Ausländer hinaus umfangreiche Informationen zur viel größeren Gruppe der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte vorzulegen. Nordrhein-Westfalen ist das erste Bundesland gewesen, das Mikrozensusdaten zur Gruppe der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte vorgelegt und für seine Integrationspolitik verwendet hat. Der Bund und mehrere andere Bundesländer haben diese Initiative aufgegriffen und arbeiten heute auch mit diesem Konzept.

Vgl. Renner, Günter 2004: Das Staatsangehörigkeitsrecht - nach der Reform reformbedürftig?, in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik, Nr. 5/6, S. 176-185.

Vgl. etwa das 2007 von der Behörde für Soziales, Familie, Gesundheit und Verbraucherschutz der Freien und Hansestadt Hamburg vorgelegte "Hamburger Handlungskonzept zur Integration von Zuwanderern".

Der Mikrozensus ist eine seit 1957 jährlich durchgeführte repräsentative Mehrzweckstichprobe von 1% der Bevölkerung. Bundesweit werden ca. 800.000, in Nordrhein Westfalen knapp 180.000 Personen befragt. Zum Vergleich: Umfragen zur Wahlabsicht (Sonntagsfrage) arbeiten zumeist mit knapp 1.000 Befragten. Der Zweck des Mikrozensus ist es, "statistische Angaben in tiefer fachlicher Gliederung über die Bevölkerungsstruktur, die wirtschaftliche und soziale Lage der Bevölkerung, der Familien und der Haushalte, den Arbeitsmarkt, die berufliche Gliederung und die Ausbildung der Erwerbsbevölkerung sowie die Wohnverhältnisse bereitzustellen." Die Teilnahme am Mikrozensus ist verpflichtend. Aufgrund der Auskunftspflicht ist der Anteil der bekannten Ausfälle an den zu befragenden Haushalten mit rund 5% (Mikrozensus 2006) gering. Durchgeführt wird er in Nordrhein-Westfalen von geschulten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Landesamts für Datenverarbeitung und Statistik (LDS), die die per Zufallsstichprobe ermittelten Bürgerinnen und Bürger am Wohnsitz aufsuchen und überwiegend gemeinsam mit ihnen den Mikrozensus-Fragebogen ausfüllen.

Aus naheliegenden, in der Schwierigkeit der Materie liegenden Gründen und aufgrund der Vielzahl von Wanderungsprozessen wird den Betroffenen nicht die Frage gestellt: "Haben Sie eine Zuwanderungsgeschichte, und wenn ja, welche Ausprägungsform?" Ob eine Zuwanderungsgeschichte vorliegt, ergibt sich aus der Kombination mehrerer Fragen wie denen nach dem eigenen Geburtsort, dem der Eltern, der Staatsangehörigkeit etc. Laut Definition liegt eine Zuwanderungsgeschichte vor bei

a) Personen, die eine ausländische Staatsangehörigkeit haben oder

b) Personen, die seit 1950 in das Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland zugewandert sind (z.B. Aussiedlerinnen und Aussiedler, Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedler, jüdische Zuwanderinnen und Zuwanderer, Eingebürgerte etc.)

c) Personen mit mindestens einem seit 1960 zugewanderten bzw. ausländischen Elternteil (z.B. die Kinder von Spätaussiedlerinnen und Spätaussiedlern).

Diese Definition ist im Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik in enger Abstimmung mit dem Ministerium für Generationen, Familie.