Zunehmende Professionalisierung. Die jihadistische Internetszene ist diffus unübersichtlich und unkontrollierbar

102 Islamismus gruppe soll auf diese Weise glaubhaft gemacht werden. Längst sind es jedoch nicht mehr die Terrorgruppen selbst, die über „Erfolge" ihrer Kämpfer berichten, sondern fanatisierte Einzelpersonen mit vermeintlichem Insiderwissen, die auf Foren oder eigenen Kanälen regelmäßig über erfolgte Angriffe sowie die Zahl der verwundeten und getöteten „Feinde" berichten. Auch Vorbereitungshandlungen für Terroranschläge werden teils akribisch dokumentiert, um sie anschließend ins Netz zu stellen. Entsprechende Videos und Verlautbarungen sollen außerdem den Eindruck erwecken, eine ungemein große Zahl von Terrorgruppen sei vor Ort aktiv. Wenn neue Terrorgruppen im Internet auftauchen, sich zu Attentaten bekennen oder neue ankündigen, muss damit gerechnet werden, dass einige von ihnen reine Erfindungen sind.

Zunehmende Professionalisierung

Die jihadistische Internetszene ist diffus, unübersichtlich und unkontrollierbar. Dies liegt vor allem daran, dass Akteure und Sympathisanten des internationalen Terrorismus regen Gebrauch von den technischen Möglichkeiten des Internets machen. Beim Ideologietransfer via Netz arbeiten Akteure und Sympathisanten des internationalen Terrorismus Hand in Hand. Terroristische Gruppen propagieren und rekrutieren entweder auf ihren eigenen Websites oder nutzen dazu fremde jihadistische Seiten. Dort stellen sie zum Beispiel Propagandamaterial von al-Qaida ein oder richten Links zu ihren Seiten ein. Der Informationsfluss wird aber zu einem erheblichen Teil von Internet-Nutzern in Gang gehalten, die selbst keiner bestimmten Gruppe angehören. Sie verweisen auf ihren Webseiten, Blogs oder Videokanälen auf entsprechendes Propagandamaterial, verlinken zu al-Qaida-nahen Seiten oder senden aus jihadistischen Webseiten kopierte Informationen an andere Adressen.

2009 war auch eine rege Übersetzertätigkeit fremdsprachlichen Propagandamaterials ins Deutsche feststellbar. So wurden Videos und Audios entweder synchronisiert oder mit deutschen Untertiteln versehen. Auch die grafische Aufbereitung von Videomaterial hat vielfach ein hohes Maß an Professionalität erreicht.

Ebenso machte sich bei den Sicherheitsvorkehrungen, die islamistische Extremisten im Internet treffen, eine zunehmende Professionalisierung bemerkbar. Im jihadistischen Bereich sind Internetseiten in der Regel nur für einen begrenzten Zeitraum unter ein und derselben Adresse abrufbar. Der häufige Wechsel von WebsiteAdressen dient vor allem dazu, Spuren im Netz zu verwischen. Bestimmte Webseiten sollen einem Kreis von Insidern vorbehalten bleiben. Solche versteckten Webseiten (Blackboards) können nur durch Kenntnis des konkreten Namens, nicht aber von Suchmaschinen gefunden werden. Eine andere Möglichkeit ist es, den Zugriff auf bestimmte Seiten einzuschränken, beispielsweise durch Kennungen und Passwörter. Darüber hinaus werden alle Möglichkeiten der Verschlüsselung und Kryptografie angewendet, um einschlägige Inhalte unerkannt ins Internet zu stellen. Mittels spezieller Programme können Informationen zum Beispiel in Bild- und Musikdateien versteckt werden. Die entsprechende Software kann aus dem Internet heruntergeladen werden.

Internetforen, Chatrooms und Videokanäle

Nachdem in der zweiten Hälfte des Jahres 2008 die wichtigsten jihadistischen Foren abgeschaltet worden waren und kurzzeitig weniger bekannte Foren in den Vordergrund rückten, ist im Frühjahr 2009 erstmals wieder Bewegung in die Struktur der verbliebenen Foren gekommen. Zu den wichtigsten Neuerungen zählt der Zusammenschluss eines englischsprachigen, eines arabischsprachigen und eines deutschsprachigen islamistischen Forums zum Netzwerk der Unterstützer des Jihads. Daneben hat 2009 eine Verlagerung der Aktivitäten in andere jihadistische Internetforen stattgefunden, von denen sich einige von unbedeutenden Präsenzen hin zu zentralen Verbreitungsorganen der Propaganda sowie zu Diskussionsplattformen jihadistischer Internetuser entwickelt haben. Im deutschsprachigen Bereich haben sich 2009 zwei bedeutende jihadistische Foren herauskristallisiert, daneben gibt es eine Reihe deutschsprachiger Chatrooms, in denen jihadistischer Gedankengut ausgetauscht wird.

Die teils passwortgeschützten mehrsprachigen jihadistischen Foren bieten nicht nur die Möglichkeit der Kommunikation in offenen oder geschlossenen Bereichen, sie versorgen ihre Nutzer auch mit aktuellen Informationen und Nachrichten aus der terroristischen Szene und stellen Video- und Audiomaterial zum Download bereit. Eine Belebung haben 2009 auch sogenannte jihadistische Online-Magazine erfahren, die auf einschlägigen Foren veröffentlicht wurden. So ist seit dem Frühjahr 2009 das erste englischsprachige JihadMagazin auf Internetforen abrufbar. Das Magazin behandelt ideologische und militärische Fragen und legt einen Schwerpunkt auf politische Themen mit Bezug zu den USA. Ein weiteres jihadistisches Online-Magazin, das ein arabischsprachiges Sprachrohr der afghanischen Taliban ist und in unregelmäßigen Abständen auf jihadistischen Internetforen veröffentlicht wird, behandelte 2009 auch Themen mit Deutschlandbezug, darunter die Tötung einer Ägypterin in Dresden aus fremdenfeindlichen Motiven.

Jihadistische Internet-Foren waren im Kontext des achten Jahrestages der Terrorangriffe vom 11. September 2001 massiven externen Online-Angriffen ausgesetzt. So wurden beispielsweise Foren penetriert und deren Nutzerkonten übernommen, um falsche Inhalte in der Szene zu verbreiten. Diese Angriffe haben jedoch nicht zu einer Schwächung der Online-Jihadisten geführt, da diese rechtzeitig reagierten und auf andere Foren auswichen.

Im jihadistischen Bereich spielen neben den arabischsprachigen Foren auch türkischsprachige Foren eine immer wichtigere Rolle. Dabei ist nicht nur der Trend einer Vernetzung der Medienarbeit von arabischen und türkischen Jihadisten zu erkennen, sondern auch eine deutliche Aufwertung türkischer Foren als Multiplikatoren jihadistischer Propaganda. In dieser Entwicklung spiegelt sich die generell wachsende Bedeutung des türkisch geprägten Jihadismus wider.

Gefahr der Selbst-Radikalisierung

Eine besondere Gefahr der beschriebenen Propaganda-Aktivitäten ist, dass sie auch auf Einzelpersonen ohne jihadistische Anbindung fanatisierend wirken können. Die Bereitschaft, Anschläge durchzuführen, setzt nicht immer eine gezielte Rekrutierung voraus. Sie kann auch die Folge einer intensiven und einseitigen Beschäftigung mit radikal-islamistischer Propaganda sein, die allein das Internet massenhaft bietet. Die Zahl jihadistischer Propagandaseiten geht in die Tausende und nimmt ständig zu. Gleichzeitig wächst die Gemeinde von Internetnutzern weltweit kontinuierlich, so dass sich künftig nicht nur die jihadistische Propaganda im Netz vervielfachen, sondern auch der Empfängerkreis wachsen wird. Die Verinnerlichung von Internet-Propaganda kann zu einer Selbst-Radikalisierung insbesondere junger Menschen führen. Der „selfmade-Terrorist", der sich durch das Lesen von Jihad-Propaganda selbst radikalisiert, sich aus dem Internet mit technischem Wissen zur Durchführung von Anschlägen versorgt und schließlich selbstständig einen Anschlag plant und durchführt, ist bereits zur realen Bedrohung geworden. So sollen die beiden jungen Männer, die für die fehlgeschlagenen Kofferbomben-Attentate in Nordrhein-Westfalen im Juli 2006 verantwortlich sind, gezielt Informationen zum kämpferischen Jihad im Netz gesucht und schließlich auch die Bomben nach einer Anleitung aus dem Internet zusammengebaut haben. An diesem und anderen Beispielen wird deutlich, dass sich durch die Nutzung des Internets Radikalisierungsprozesse beschleunigen und kaum vorhersehbar entwickeln können.

Die Rolle von Frauen und Kindern Lange galt die jihadistische Internet-Community als eine ausschließlich Männern vorbehaltene Szene. Der vor wenigen Jahren einsetzende Trend zu mehr weiblichem Engagement in der jihadistischen Internet-Szene hat sich fortgesetzt. Im Jahr 2009 waren weibliche Jihadis wie ihre männlichen Kollegen in einschlägigen Foren und Chats aktiv, verbreiteten gewaltverherrlichendes Propagandamaterial, warben für das Übersiedeln in Kampfgebiete oder riefen zum Jihad gegen „Ungläubige" auf. In einem Fall äußerte sich die deutsche Ehefrau eines Selbstmordattentäters auf einem Propagandavideo zustimmend zur Tat ihres Mannes. Im Interesse einer vermeintlich islamischen Geschlechtertrennung auch im virtuellen Raum bieten einige jihadistische Internet-Foren sogenannte Schwestern-Räume an, in denen sich gleichgesinnte Frauen über den Jihad und andere Themen austauschen können.

Wie im Vorjahr benutzten 2009 verschiedene jihadistische Gruppierungen Kinder für ihre Jihad-Propaganda.

So sollten beispielsweise ins Internet gestellte Fotos von verwundeten oder getöteten Kindern die angeblichen Gräueltaten der Ungläubigen an den Muslimen dokumentieren. Zu diesem Zweck wurden grausame Fotos verletzter oder missgebildeter Kinder in großer Zahl in Umlauf gebracht. Von solchen Darstellungen versprechen sich Jihadisten eine stark emotionalisierende Wirkung. Einige Terrororganisationen warben für

104 Islamismus ihre Ziele mit Videos und Fotos von bewaffneten Kindern beim Kampftraining. Paradoxerweise versuchten sich jihadistische Gruppierungen in mehreren Internet-Veröffentlichungen einen betont kinderfreundlichen Anstrich zu geben. In einem Propaganda-Video der IBU, das Anfang des Jahres im Netz auftauchte, warb ein von Kindern umringter Jihadi dafür, mit Frauen und Kindern zu ihm ins Kampfgebiet zu ziehen, da sein Aufenthaltsort sehr „familienfreundlich" sei.

Bedrohung durch „home-grown"-Netzwerke

Seit 2001 haben sich die Profile islamistischer Terroristen deutlich verändert. Längst stellen nicht mehr nur aus dem Ausland eingereiste Attentäter eine Bedrohung der Sicherheit europäischer Staaten dar. Mit den Anschlägen von Madrid im März 2004 und London im Juli 2005 ist deutlich geworden, dass sich der islamistische Terrorismus verselbstständigt hat. Waren die Attentäter von Madrid Nordafrikaner, die lange Zeit in Spanien gelebt und zum Teil einen kriminellen Hintergrund hatten, handelte es sich bei den Attentätern von London um Briten pakistanischer und jamaikanischer Herkunft, die in zweiter und dritter Generation

­ scheinbar integriert ­ in England lebten. Auch der Islamist, der 2004 den niederländischen Filmemacher Theo van Gogh ermordete, war in den Niederlanden aufgewachsen. Diese Beispiele stehen stellvertretend für eine neue Generation islamistisch motivierter Attentäter, sogenannte home-grown-Terroristen. Der Begriff bezeichnet Zuwanderer der zweiten oder dritten Generation oder auch Konvertiten zum Islam, die in westlichen Gesellschaften aufgewachsen, mit dem westlichen Wertesystem vertraut sind und ohne Weisung aus dem Ausland Terroranschläge durchführen.

Auch in Teilen von Nordrhein-Westfalen sind vermehrt Personengruppen auffällig geworden, die im Wesentlichen durch junge Männer der zweiten oder dritten Einwandergeneration aus islamischen Ländern gebildet werden. Diese Jugendlichen und jungen Heranwachsenden führen bis zu einem bestimmten Punkt ein eher unauffälliges westlich orientiertes Leben. Ohne einen zunächst erkennbaren Grund verändern sie ihren Lebensstil. In ihrem familiären Umfeld machen sie ihren weiblichen Geschwistern Vorhaltungen, zum Beispiel über deren Art sich zu kleiden. Auch der „westlich" orientierte Lebensstil der Elterngeneration wird bemängelt. Dies führt in vielen Familien zu Streitigkeiten. Einige dieser Personen bilden fest gefügte Gruppen, die sich durch Moscheebesuche, gelegentlichen Koranunterricht oder sportliche Aktivitäten ergeben haben, während bei anderen von einer eher losen Verbindung ausgegangen werden muss.

Da viele der jungen Leute in Deutschland geboren worden sind und möglicherweise die arabische Sprache gar nicht oder nur unzureichend beherrschen, wird bei ihnen gezielt für den Besuch von Sprachschulen im Ausland geworben. Der Koran soll bei einem Aufenthalt in einem arabischen Land intensiv studiert werden.

Für eine Auslandsreise zum Sprach- und Koranstudium wird Unterstützung bei den Formalitäten der Reise angeboten. Sportliche Betätigung ­ der Besuch von Fitnessstudios und das Erlernen von Kampfsportarten

­ wird als sehr wichtig angesehen.

Ein Interesse, sich dem gewaltsamen Jihad anzuschließen und eine entsprechende Ausbildung zu erhalten, ist in einigen Fällen nachweislich vorhanden. Hier ergibt sich ­ in bislang wenigen Einzelfällen ­ ein Personenpotenzial für jihadistische Propagandaaktivitäten oder sogar Vorbereitungshandlungen für Anschläge auch in Deutschland.

Entwicklung in Deutschland Jihadisten haben in Deutschland eine Infrastruktur aufgebaut, die unter anderem zur Versorgung mit gefälschten Papieren, zur Ausstattung mit Mobiltelefonen und zum Sammeln von Spenden genutzt wird. Daneben versuchen einige Jihadisten, junge Muslime für eine Kampfausbildung im Ausland zu motivieren. Sympathisanten und Unterstützer islamistischer Organisationen oder bestimmte Personengruppen, etwa Studenten, werden zum Teil gezielt angesprochen. Dies kann zum Beispiel im Bekannten- oder Freundeskreis geschehen. Auch politische oder religiöse Veranstaltungen bieten unter Umständen die Möglichkeit, Personen für die eigenen Ideen zu gewinnen. So kann etwa das Freitagsgebet in der Moschee zur Verbreitung islamistischer Propaganda missbraucht werden.