Maßnahmen zur Verwaltungsmodernisierung und zum Bürokratieabbau ­ Wie intensiv nutzen die Kommunen ihre Möglichkeiten zum Bürokratieabbau durch das Standardbefreiungsgesetz?

Im Rahmen ihrer vielfältigen Maßnahmen zur Verwaltungsmodernisierung und zum Bürokratieabbau hat die frühere schwarz-gelbe Landesregierung im Jahr 2006 das sogenannte Standardbefreiungsgesetz NRW) auf den Weg gebracht, welches am 8. November 2006 in Kraft trat. Seither können sich die Gemeinden und Gemeindeverbände zur Wahrnehmung bestimmter Aufgaben von belastenden landesrechtlichen Vorgaben befreien lassen, wenn sie diese Aufgaben auf alternativem Wege erledigen wollen.

Zu den Befreiungstatbeständen des Standardbefreiungsgesetzes gehören sowohl Vorgaben für die Erstellung und Fortschreibung von Bilanzen, Plänen und Konzepten als auch organisationsrechtliche Vorgaben sowie Anforderungen an die berufliche Qualifikation oder das Erfordernis einer besonderen Ausbildung (§ 1 Abs. 2 NRW).

Um sich von einer bestimmten Vorgabe befreien zu lassen, muss die jeweilige Kommune lediglich eine Anzeige an das zuständige Fachministerium richten und den beabsichtigten Alternativweg erläutern. Das Verfahren ist also kommunalfreundlich unbürokratisch ausgestaltet. Steht dem jeweiligen Vorhaben nichts entgegen, hat die angezeigte Befreiung eine Gültigkeit von maximal 5 Jahren, wobei das zuständige Ministerium nach § 2 Abs. 3

NRW dazu gehalten ist, die allgemeine Übertragbarkeit der Befreiung auf alle Gemeinden und Gemeindeverbände zu prüfen. Im Idealfall lässt sich hierdurch eine sukzessive Bottom-up-Entbürokratisierung erreichen.

Zahlreiche Kommunen haben die Möglichkeiten des Standardbefreiungsgesetzes erkannt und genutzt ­ beispielsweise in Bezug auf das Vier-Augen-Prinzip vor einer Auftragsvergabe nach dem Korruptionsbekämpfungsgesetz oder bezüglich bestimmter Kataster- und Liegenschaftsangelegenheiten. Doch obwohl sich durch die Möglichkeit zur Standardbefreiung Prozesse vereinfachen und Kosten sparen lassen, scheint die Inanspruchnahme der Regelungen aus dem Standardbefreiungsgesetz nicht ausreichend verbreitet zu sein.

Zumindest bemängelte der nordrhein-westfälische Verfassungsgerichtshof in seinem Urteil vom 19. Juli 2011 32/08), dass die Kommunen in NRW von ihrer Möglichkeit zur Standardbefreiung nur wenig Gebrauch machen. Die Gründe hierfür können vielseitig sein und von fehlender Information bis hin zu geringem Konsolidierungsdruck reichen. Insbesondere mit Blick auf das anstehende Auslaufen des Gesetzes zum 31. Dezember 2011 und dessen eventuelle Verlängerung gilt es, dies zu erörtern.

1. Welche Anzeigen zur Standardbefreiung wurden von den Kommunen seit Inkrafttreten des NRW an die jeweils zuständigen Landesministerien gerichtet (bitte in tabellarischer Auflistung mit den Spalten: Name der anzeigenden Kommune, Monat/Jahr der Anzeige, Beschreibung des Befreiungstatbestandes und Zulässigkeit der Befreiung)?

Der Landtag hat im Oktober 2006 das Gesetz zur Befreiung von kommunalbelastenden Standards für das Land Nordrhein-Westfalen verabschiedet.

Das Gesetz tritt mit Ablauf des 31. Dezember 2011 außer Kraft. Kernstück des Gesetzes bildet eine Experimentierklausel, die den Kommunen die Möglichkeit eröffnet, auf Antrag zur Erprobung neuer Formen der Aufgabenerledigung von kommunalbelastenden landesrechtlichen Standards in Gesetzen und Verordnungen abzuweichen, wenn die grundsätzliche Erfüllung des Gesetzesauftrages sichergestellt bleibt.

Nach den im Ministerium für Inneres und Kommunales vorliegenden Stellungnahmen aller Ressorts ist das Ergebnis ernüchternd (Ressortabfrage Stand: 31.12.2009): Die Kommunen haben nur in einem geringen Umfang von den Möglichkeiten diese Gesetzes Gebrauch gemacht.

Es wurden 69 Anzeigen nach dem Standardbefreiungsgesetz bearbeitet: Zwei Anzeigen betrafen das Vermessungs- und Katastergesetz, die jedoch nicht zu einer erfolgreichen Standardbefreiung geführt haben. Eine Anzeige berührte die Mittelstandsverträglichkeitsprüfung nach § 5 Mittelstandsgesetz (ein Gesetz, das im Juli 2008 außer Kraft getreten ist). Eine weitere (abgelehnte) Anzeige betraf die Anforderungen an eine Brandschutzdienststelle im Sinne des Gesetzes über den Feuerschutz und die Hilfeleistung. Die übrigen 65 bezogen sich auf den Bereich des Korruptionsbekämpfungsgesetzes. Diese Kommunen machten unterhalb eines Auftragswertes von 500 von der Möglichkeit der Befreiung von der in § 20 Korruptionsbekämpfungsgesetz festgelegten Verpflichtung zur strikten Anwendung des Vier-Augen-Prinzips bei der Vergabe öffentlicher Aufträge Gebrauch.

Die Kommunen wurden gebeten, durch entsprechende Kontrollen sicherzustellen, dass der Zielsetzung des § 20 Korruptionsbekämpfungsgesetz auch bei diesen Aufträgen entsprochen wird (z.B. Stichprobenprüfungen).

Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass das mit dem Gesetz geschaffene Instrument keine wesentliche Praxisrelevanz für die Kommunen besitzt.

2. Welche Versuchsergebnisse wurden nach § 2 Abs. 3 NRW auf die anderen Gemeinden und Gemeindeverbände übertragen?

Im Rahmen der anstehenden Novellierung des Korruptionsbekämpfungsgesetzes wird geprüft, ob eine generelle Regelung entsprechend den (in der Regel noch bis Mitte 2012 wirksamen) erteilten Befreiungen im Bereich der Korruptionsbekämpfung eingearbeitet werden kann.

3. Welche Hindernisse und Problemstellungen existieren derzeit, die eine intensivere Nutzung der Möglichkeiten des Standardbefreiungsgesetzes verhindern?

4. Wie beabsichtigt die Landesregierung, aktuell bestehende Hindernisse und Problemstellungen zum Zwecke einer intensiveren Nutzung der Möglichkeiten des Standardbefreiungsgesetzes zukünftig zu beseitigen?

5. Welche Planungen bestehen seitens der Landesregierung bezüglich einer Verlängerung oder Novellierung des zum 31. Dezember 2011 auslaufenden Standardbefreiungsgesetzes?

Hindernisse und Problemstellungen, die eine intensivere Nutzung des Standardbefreiungsgesetzes verhindern, sind der Landesregierung nicht bekannt. Die mangelnde Inanspruchnahme des Standardbefreiungsgesetzes deutet darauf hin, dass für die kommunale Praxis relevante Standards nicht durch Landesrecht sondern vielmehr durch EU- und Bundesrecht vorgegeben werden. Als Indiz für diese These kann z. B. das Ergebnis eines länderübergreifenden Projekts der Bertelsmann-Stiftung zur Messung von Bürokratiekosten aus dem Jahr 2006 herangezogen werden. Danach tragen die Länder nur rund 1% der Informationskostenbelastung der Wirtschaft. 99 % (!) werden durch EU- und Bundesrecht erzeugt.

Am Beispiel der auf Bundesebene aktuellen Diskussion in der Gemeindefinanzkommission wird zudem deutlich, dass eine Standardbefreiung oder ein Standardabbau von bundesgesetzlichen oder europarechtlichen Regelungen nur mit größten Anstrengungen und mit in der Regel nur geringen haushalterischen Wirkungen für die kommunale Ebene erzielt werden kann. Eine wirksame Entlastung der kommunalen Haushalte wird nur dann gelingen, wenn der Bund steigende Soziallasten nicht weiter auf die Kommunen abwälzt.

Bereits die alte Landesregierung hat Ende 2009 in Kenntnis der mangelnden Praxisrelevanz insofern davon abgesehen, dem Landtag eine dauerhafte Verlängerung oder eine Novellierung des Standardbefreiungsgesetzes vorzuschlagen.

Auch in Baden-Württemberg war die Bilanz mit dem Instrument der Standardbefreiung ähnlich: Ein fast wortgleiches (bis zum 31.12.2009 befristetes) Gesetz zur Standardbefreiung wurde im Jahr 2004 verabschiedet. Mangels Inanspruchnahme (kein einziger Anwendungsfall!) wurde dieses Gesetz Ende 2009 nicht verlängert

Aufgrund der vorliegenden Ergebnisse bestehen auch aus Sicht der neuen Landesregierung keine Überlegungen, eine andere Bewertung vorzunehmen.