GEBURTENRATE / KINDERWUNSCH

„Der Rückgang der Geburtenrate ist dort am stärksten ausgeprägt, wo Frauen weitgehend emanzipiert sind, wo der Rest der Gesellschaft aber noch auf einem vergleichsweise traditionellen Entwicklungstand verharrt. Gesellschaften, in denen die neue Rolle der Frau anerkannt und unterstützt wird, zeichnen sich hingegen durch relativ hohe Kinderzahlen aus." (Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung.

Basisdaten zu Geburtenrate und Kinderwunsch:

Entwicklung der Geburtenrate im Zeitablauf:

In diesem Abschnitt wird auf die allgemeine Entwicklung der Geburtenrate und des Wunsches nach Kindern in Deutschland eingegangen. Diese Aspekte wurden zwar im Zwischenbericht der Enquetekommission schon teilweise erwähnt, sie sollen aber noch einmal in Erinnerung gerufen und so weit wie möglich für die Situation in Hessen präzisiert werden.

Eine sinkende Geburtenrate ist kein Phänomen der letzten Jahre. Die Auswirkungen und Folgen der veränderten Geburtenraten sind allerdings erst seit kurzer Zeit zunehmend in das Bewusstsein der Gesellschaft gerückt.

Es gehört zu den bedeutenden Errungenschaften insbesondere des 20. Jahrhunderts in den Industrienationen, dass Frauen über ihren Körper, über die Anzahl der Kinder und darüber, ob sie überhaupt Kinder möchten, selbst entscheiden können. In vielen Ländern, die bis heute eine hohe Geburtenrate aufweisen, ist die Stellung der Frau noch der des Mannes untergeordnet. Wie der Weltbevölkerungsbericht 2006 feststellt, bewirken häufig Verletzungen des Rechts der Frauen auf eine selbstbestimmte Sexualität eine hohe Geburtenrate. Weiterhin bedeuten Kinder in diesen Gesellschaften nach wie vor eine Möglichkeit der Alterssicherung. Der Entscheidungsspielraum für Frauen, über das eigene Leben zu bestimmen, ist sehr klein. Selbstverwirklichung und individuelle Lebensformen haben für die große Mehrheit der Frauen keinen bedeutenden Stellenwert.

Deshalb sind sinkende Geburtenzahlen in Europa vor allem ein Ausdruck von gesellschaftlichem und rechtlichem Fortschritt. Kinder sind keine Notwendigkeit für die Alterssicherung mehr, und Mutterschaft ist für Frauen eine Möglichkeit unter anderen, ihr Leben zu gestalten. Auch in Deutschland hat die große Mehrheit der Frauen einen Kinderwunsch. Aus diesem Grund ist es eine Aufgabe zukunftsorientierter Familienpolitik, Möglichkeiten zu schaffen, um diesen Kinderwunsch mit den individuellen Lebensmustern vereinbaren zu können.

Mit dem Einsetzen der Industrialisierung, spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts, setzte auch der Rückgang der Geburtenrate ein. Dieser Prozess vollzieht sich jedoch nicht nur sukzessive, sondern war auch mit einem radikalen Einschnitt (1908 ­ 1933, getragen durch die Geburtsjahrgänge 1865 ­ 1905) verbunden.

Zunehmender wirtschaftlicher Wohlstand, das steigende Bildungsniveau vor allem der Frauen, die Einführung öffentlicher Hygiene sowie der staatlichen sozialen Sicherungssysteme und die abnehmende Säuglings-, Kinder- und Jugendsterblichkeit haben zu höherer Lebenserwartung und niedrigeren Geburtenraten geführt.

Eine abnehmende Sterblichkeit kompensierte die Auswirkungen der rasch sinkenden Fertilität teilweise, weil eine wachsende Zahl von Mädchen das Fortpflanzungsalter erreichte und die Müttersterblichkeit ebenfalls sank. Diese Sterblichkeitsentwicklungen unterscheiden den Rückgang der Fertilität zu Beginn des 20.

Jahrhunderts von dem zweiten massiven Geburtenrückgang ab den Sechzigerjahren. Aus der folgenden Grafik sind die Geburtenzahlen pro 1.000 Einwohner zu erkennen: Von etwa 37 Geburten pro 1.000 Einwohner im Jahr 1841 sanken die Geburtenraten auf 15 pro 1.000 Einwohner in den Fünfziger- und Sechzigerjahren des 19. Jahrhunderts und weiter auf etwa 8,25 Geburten pro 1.000 Einwohner im Jahr 2005 (s. CIA World Factbook Ländervergleich 2005).

Weitere Erklärungsansätze für die erste Phase des Geburtenrückgang sehen in dem veränderten Verhältnis der Generationen im Zusammenhang mit veränderten institutionellen Rahmenbedingungen eine Beziehung: So konnte in vormodernen Gesellschaften eine große Kinderzahl in mehrfacher Hinsicht vorteilhaft sein, wobei die hohe Sterblichkeit generell für eine möglichst große Nachkommenschaft sprach.

Mit der Veränderung von Rahmenbedingungen und institutionellen Voraussetzungen im Zuge der Modernisierung (Verallgemeinerung von Persönlichkeitsrechten, vom Vertragsgedanken getragenes Eherecht, Aufhebung des alleinigen Erbrechts eines Sohnes, Verbot der Kinderarbeit, allgemeine Schulpflicht, Ausgliederung der Erwerbstätigkeit aus dem Familienhaushalt, Aufbau sozialer Sicherungssysteme) boten Kinder ihren Eltern auf der Mikroebene kaum noch wirtschaftliche Vorteile. In diesem Zusammenhang spricht man von Umkehrung des „flow of wealth".

In der Mitte der Sechzigerjahre begann die Geburtenrate in Europa stark zu sinken. In Westdeutschland lag sie im Jahr 1965 noch bei 2,5 Geburten je Frau und ging bis auf 1,4 im Jahr 1975 zurück, wo sie sich seitdem mit Schwankungen eingependelt hat. Aus den folgenden Grafiken lässt sich ablesen, dass die Entwicklung der Geburtenrate in Hessen große Ähnlichkeit mit der westdeutschen Geburtenrate aufweist.

Das Statistische Landesamt stellte allein zwischen 1994 und 2003 für Hessen eine deutlich zurückgegangene Zahl von Lebendgeborenen pro 1.000 Einwohner fest: 1994 waren es noch 10,1 pro 1.000, 2003 nur noch 8,9

Kinder pro 1.000 Einwohner im Jahr. Ländliche Gebiete liegen zwar mit ihren Geburtenzahlen teilweise über dem Landesergebnis, diese fallen aber auch in diesen Regionen deutlich geringer aus als im Zeitraum zwischen 1970 und 1986.

Der Wandel von einer hohen Geburtenrate zu niedrigen Geburtenraten ist ein weltweites Phänomen. Selbst in vielen Entwicklungsländern, die in den Sechzigerjahren noch eine Geburtenrate von fünf bis acht Kindern pro Frau verzeichneten, liegt diese jetzt deutlich niedriger (im weltweiten Durchschnitt 2,6 Kinder pro Frau, s. CIA Worldfactbook 2005). Dies ist in diesen Ländern auch ein wichtiger Erfolg umfangreicher internationaler Maßnahmen zur Geburtenkontrolle als Instrument der Armutsbekämpfung und der Verhinderung globaler Überbevölkerung. Trotz aller Anstrengungen wird es einen weiteren Anstieg der Weltbevölkerung von heute rund 6,6 Milliarden Menschen auf rund 9,1 Milliarden bis zum Jahre 2050 geben (Quelle: Deutsche Stiftung Weltbevölkerung).

Geburtenrate in Europa und den USA:

Das Niveau, auf dem sich die jeweilige Geburtenrate eingependelt hat, unterscheidet sich allerdings in den entwickelten Ländern. Spitzenreiter sind die USA mit einer Geburtenrate von 2,1 Kindern pro Frau. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass vor allem Einwandererfamilien in der ersten Generation hohe Geburtenraten wie in ihren Herkunftsländern aufweisen und damit den Landesdurchschnitt erhöhen.

Irland folgt mit einer Geburtenrate von 1,9 Kindern pro Frau. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass vor kurzer Zeit die Geburtenrate sogar noch bei 3 Kindern pro Frau gelegen hat. Eine Begründung hierfür könnte in der enormen und schnellen Modernisierung und Entwicklung Irlands erst in den letzten Jahrzehnten liegen.

Frankreich weist eine Geburtenrate von 1,8 Kindern pro Frau auf, in den skandinavischen Ländern hat sie sich auf 1,7 bis 1,8 Kindern pro Frau eingependelt. Deutschland befindet sich gleichauf mit Österreich und Japan bei 1,4 Kindern pro Frau. Schlusslicht bilden die südeuropäischen (Spanien, Italien) und die osteuropäischen Länder. Obwohl der gesellschaftliche Wandel (mehr Singlehaushalte, weniger Ehen, höhere Scheidungsrate) in den westlichen Staaten fast gleichzeitig eingesetzt hat, ist die Auswirkung auf die Geburtenraten äußerst unterschiedlich.

Die zusammengefasste Geburtenziffer gibt an, wie viele Kinder eine Frau durchschnittlich im Laufe des Lebens hätte, wenn die zu einem einheitlichen Zeitpunkt ermittelten altersspezifischen Fruchtbarkeitsziffern für den gesamten Zeitraum ihrer fruchtbaren Lebensphase (hier das Alter zwischen 15 und 45) gelten würden. Gleichbedeutend werden für die zusammengefasste Geburtenziffer auch die Begriffe Geburten- oder Fertilitätsrate verwendet. ­ Während üblicherweise die Geburtenziffer pro Frau bezogen ist, ist sie in obiger Abbildung auf 1.000 Frauen bezogen.