Freien Personenverkehr und Datenschutz in Europa garantieren, Videoüberwachung an Grenzen verhindern EU-Kommission muss für konsequente Einhaltung des europäischen Sekundärrechts sorgen ­ Systematische Erfassung sämtlicher Grenzübertritte durch die Niederlande bedingt Konflikt mit dem Schengener Grenzkodex

I. Ausgangslage:

Ab dem 1. Januar 2012 sollen an den Landesgrenzen der Niederlande zu Belgien und der Bundesrepublik Deutschland ­ Nordrhein-Westfalen ­ Kamerasysteme eingeführt werden, welche alle passierenden Fahrzeuge automatisch erfassen und elektronisch dahingehend auswerten können, ob und inwiefern Daten über die Fahrzeugführer oder -halter in verschiedenen Datenbanken mit Fällen von Menschenhandel oder anderer Schwerkriminalität gespeichert sind. Das System, welches den Namen @migo-boras (automatisch mobiel informatie gestuurd optreden ­ better operational result and advanced security) trägt, wird in einer ähnlichen Form unter dem Namen ANPR bereits seit längerem auf Autobahnen im niederländischen Inland zur Bekämpfung von Schwerkriminalität eingesetzt.

Am niederländisch-belgischen Grenzübergang Hazeldonk wurde es seit 2005 zudem bereits für den Einsatz an den Grenzen getestet, bevor das neue System jetzt an allen 15 großen Grenzübergängen der Niederlande nach Belgien und Deutschland installiert werden soll. Für die restlichen Übergänge ist der Einsatz von sechs mobilen Einheiten von Grenzpolizisten auf Geländewagen geplant. Die automatische Überwachung ist in der Lage, von jedem passierenden Fahrzeug sowohl von der Front als auch von der Seite ein Lichtbild herzustellen und dieses anschließend auszuwerten und mit eventuellen Einträgen im IT-System der niederländischen Polizei zu vergleichen. Bestehen im Hinblick auf ein Fahrzeug Auffälligkeiten, dann löst eine Software eine Meldung aus; das Fahrzeug kann dann einer weiteren Kontrolle durch Beamte der Vollzugspolizei im Grenzhinterland zugeführt werden.

In welchem Umfang es zu einer Datenspeicherung und -verwendung durch das niederländische System kommen wird, vermag gegenwärtig aber noch nicht verlässlich abgeschätzt zu werden. In tatsächlicher Hinsicht erscheint es möglich, die gewonnenen videographischen Daten für eine Vielzahl von Zwecken einzusetzen. So ist neben der Kriminalitätsbekämpfung auch die Ahndung von Ordnungswidrigkeiten, namentlich die Vollstreckung von den Fahrzeugführern oder ­haltern zu früherer Zeit verwirkter Bußgelder, ohne weiteres möglich. Zudem ist nicht erkennbar, welcher Personenkreis in welchem Umfange Zugriff auf die Daten haben wird. Gerade in der sich an die Erhebung von Daten anschließenden Auswertungsphase liegt ein besonders sensibler und für Grundrechtseingriffe aller Art in höchstem Maße anfälliger Bereich. Auch wird nicht erkennbar, ob nicht auch technische Fehler oder Fehlfunktionen des Systems eine Kontrolle nicht betroffener und nicht tatverdächtiger Personen auszulösen vermögen.

Maßgebend erscheint indes, dass die systematische Kontrolle des gesamten unter Nutzung von Kraftfahrzeugen durchgeführten Grenzverkehrs dem Schengener Grenzkodex in der Gestalt, die er durch die Verordnung 562/2006/EG erfahren hat, zuwiderlaufen dürfte. Bei der geplanten videogestützten ausnahmslosen Datenerfassung an der niederländischen Landesgrenze dürfte es sich zunächst um eine Grenzkontrolle im Sinne des Schengener Grenzkodex (= VO 562/2006/EG) handeln. Nach Art. 2 Nr. 9 VO 562/2006/EG (in der Folge: SGK) werden Grenzkontrollen wie folgt legaldefiniert: [...] die an einer Grenze nach Maßgabe und für die Zwecke dieser Verordnung unabhängig von jedem anderen Anlass ausschließlich aufgrund des beabsichtigten oder bereits erfolgten Grenzübertritts durchgeführten Maßnahmen, die aus Grenzübertrittskontrollen und Grenzüberwachung bestehen [...].

Die flächendeckende videogestützte Erfassung sämtlicher kraftfahrtgestützten Übertritte wird danach als Grenzkontrolle zu bewerten sein, da sie anlassbezogen ausschließlich an den Umstand des Grenzübertritts durch Kraftfahrer anknüpft und eine Maßnahme der Grenzüberwachung darstellt. Einen diesbezüglichen Auslegungshinweis liefert auch der an sich für EU-Außengrenzen geltende Art. 12 SGK, der Grenzkontrollen als bestimmte Arten von Überwachungsmaßnahmen enumeriert, dabei eine vollständige videographische Überwachung und / oder Erfassung aber gerade nicht vorsieht.

Da im Übrigen eine schwerwiegende Bedrohung der öffentlichen Sicherheit im Sinne von Art. 23 SGK mit Blick auf die Niederlande ausscheiden dürfte, verbietet Art. 21 lit. a SGK die nunmehr geplante Vollkontrolle als Surrogat einer Grenzkontrolle, indem er statuiert, dass (sonstige) polizeiliche Maßnahmen im eigenen Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats nur [...] in einer Weise konzipiert sein und durchgeführt werden [dürfen], die sich eindeutig von systematischen Personenkontrollen an den Außengrenzen unterscheidet [und] auf der Grundlage von Stichproben durchgeführt werden. [...]

Da bei einer flächendeckenden videographischen Erfassung der Grenzübertritte mittels Kraftfahrzeugen beide Merkmale nicht erfüllt sind, jedenfalls aber keinesfalls von einer nur stichprobenartigen Kontrolle die Rede sein kann, dürfte der niederländische Plan gegen EURecht in Gestalt des SGK verstoßen.

Zur Überwachung der Einhaltung des EU-Rechts ist in erster Linie die EU-Kommission als Verwaltungsbehörde der EU berufen. Die Kommission verfügt etwa über die Möglichkeit, die Niederlande von einer möglichen Verletzung des Schengener Grenzkodex zu notifizieren und Gelegenheit zur Abhilfe einzuräumen; ggf. kann sie anschließend ein Vertragsverletzungsverfahren beim Europäischen Gerichtshof betreiben. Der Schengener Grenzkodex stellt als Verordnung in all seinen Teilen unmittelbar in jedem EU-Mitgliedstaat geltendes Recht dar; er ist daher auch von den Niederlanden zu beachten.

Es wird Sache der EU-Kommission sein, in eigener Verantwortung die rechtlichen Voraussetzungen des Grenzkodex zu prüfen und erforderlichenfalls die notwendigen Schritte einzuleiten.

II. Handlungsnotwendigkeiten:

Die Überprüfung der Einhaltung der Vorschriften des europäischen Sekundärrechts ist Angelegenheit der EU-Kommission. Die Kommission muss prüfen, ob die Niederlande insbesondere gegen die sie unmittelbar bindenden Vorschriften des Schengener Grenzkodex bzw. der Verordnung 562/2006/EG verstoßen haben. Der Landtag respektiert die als Ausfluss eigener staatlicher Souveränität getroffenen Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten, betont aber auch die Verpflichtung eines jeden Mitgliedstaats, das geltende Unionsrecht vorbehaltlos zu beachten und ihm zur Anwendung und Durchsetzung zu verhelfen.

III. Beschlussfassung:

Der Landtag fordert die Landesregierung auf: sich im Rahmen der ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeiten bei der EU-Kommission für eine umfassende Prüfung der Einhaltung der Verpflichtungen aus dem Schengener Grenzkodex durch die Niederlande einzusetzen und dabei auf den Standpunkt des Landtags Nordrhein-Westfalen hinzuweisen und sich für die Wahrung und Achtung des im Schengener Grenzkodex sowie im Schengener Durchführungsübereinkommen festgelegten freien europäischen Personenverkehrs einzusetzen.