Kostenfolgeabschätzung

1. § 1a Abs. 1 AG-KJHG ist mit Art. 78 Abs. 3 Verf NRW insoweit unvereinbar, als neben der darin geregelten Aufgabenübertragung nicht gleichzeitig eine Bestimmung über die Deckung der Kosten getroffen worden ist.

2. Art. 78 Abs. 3 Verf NRW geht von dem sog. strikten Konnexitätsprinzip aus.

Hiernach muss der Gesetzgeber auf der Grundlage einer Kostenfolgeabschätzung einen entsprechenden und nicht bloß einen angemessenen Kostenausgleich schaffen.

3. Eine erstmals vom Landesgesetzgeber geregelte Zuständigkeitsbestimmung der Kommunen kann auch dann eine neue Aufgabenzuweisung i.S.v. Art. 78 Abs. 3 Verf NRW begründen, wenn diese Vorschrift an die Stelle einer bundesgesetzlichen Zuständigkeitsregelung tritt und deren Regelungsgehalt wiederholt.

4. Ein Aufgabenzuweisung LS.v. Art. 78 Abs. 3 Verf NRW ist auch dann gegeben, wenn bestehende Aufgaben auf Grund einer gesetzlichen Grundlage eine wesentliche Änderung erfahren.

11. Sachverhalt

In dem Kommunalverfassungsbeschwerdeverfahren wenden sich die Beschwerdeführer (17 kreisfreie und vier kreisangehörige Städte sowie zwei Kreise) gegen § 1a Abs. 1 des Ersten Gesetzes zur Ausführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes (AG-KJHG) vom 12. Dezember 1990 Ld.F. des Gesetzes zur Änderung des Ersten Gesetzes zur Ausführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes vom 28. Oktober 2008, mit dem bestimmt wird, dass örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Kreise und die kreisfreien Städte sind.

-2 Mit Art. 1 des Kinder- und Jugendhilfegesetzes vom 26. Juni 1990 wurde in § 24 des Achten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VIII) geregelt, dass alle Kinder, für deren Wohl eine Förderung in Tageseinrichtungen oder in Tagespflege erforderlich ist, eine entsprechende Hilfe erhalten sollten. Den Ländern wurde die Aufgabe übertragen, die Verwirklichung dieses Grundsatzes zu regeln und für einen bedarfsgerechten Ausbau Sorge zu tragen. § 69 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII 1991 bestimmte die Kreise und kreisfreien Städte als örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe.

Mit § 24 SGB VIII 1992 wurde für Kinder vom vollendeten dritten Lebensjahr an ein Anspruch auf den Besuch eines Kindergartens nach Maßgabe des Landesrechts geschaffen. Für Kinder im Alter unter drei Jahren und Kinder im schulpflichtigen Alter waren nach Bedarf Plätze in Tageseinrichtungen und, soweit für das Wohl des Kindes erforderlich, Tagespflegeplätze vorzuhalten Weiter hatten die Träger der öffentlichen Jugendhilfe darauf hinzuwirken, dass für jedes Kind vom vollendeten dritten Lebensjahr an bis zum Schuleintritt ein Kindergartenplatz zur Verfügung steht, das Betreuungsangebot bedarfsgerecht ausgebaut und ein bedarfsgerechtes Angebot an Ganztagsplätzen vorgehalten wird. Eine im Kern inhaltsgleiche Regelung enthielt § 24 SGB VIII 1996.

Durch das Gesetz zum qualitätsorientierten und bedarfsgerechten Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder vom 27. Dezember 2004 (Tagesbetreuungsausbaugesetz) wurden diese Pflichten dahingehend ergänzt, dass für Kinder unter drei Jahren unter bestimmten Voraussetzungen (z.B. im Fall von erwerbstätigen Erziehungsberechtigten) Plätze in Tageseinrichtungen und in der Kindertagespflege vorzuhalten waren.

Durch das Gesetz zur Förderung von Kindern unter drei Jahren in Tageseinrichtungen und Kindertagespflege vom 1O. Dezember 2008 (Kinderförderungsgesetz) wurde § 24 Abs. 3 SGB VIII erweitert. Zu den Fallgruppen von Kindern unter drei Jahren, die in einer Tageseinrichtung oder in Kindertagespflege zu fördern sind, gehören nunmehr auch Kinder, deren Erziehungsberechtigte Arbeit suchend sind.

Weiter wurden die Träger der öffentlichen Jugendhilfe zum stufenweisen Ausbau des Förderangebots für Kinder unter drei Jahren verpflichtet, soweit sie das zur Erfüllung der Verpflichtung nach § 24 Abs. 3 SGB VIII erforderliche Angebot noch nicht vorhalten können; ab Oktober 2010 sind die Träger verpflichtet, ein bestimmtes Mindestangebot vorzuhalten. Ferner wurde mit dem genannten Gesetz die Entlohnung der Tagespflegepersonen verbessert. Für Kinder, die das erste Lebensjahr vollendet haben, enthält das Kinderförderungsgesetz ab dem 1. August 2013 einen Rechtsanspruch auf frühkindliche Förderung in einer Tageseinrichtung oder Kindertagespflege. Schließlich wurde mit diesem Gesetz auch § 69 SGB VIII geändert. Die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sollten mit Wirkung vom 16. Dezember 2008 nicht mehr - wie bisher - durch bundesrechtliche Zuständigkeitsregelung bestimmt werden; die Zuständigkeitsbestimmung obliegt nunmehr dem Landesrecht.

Am 22. Oktober 2008 verabschiedete der Landtag Nordrhein-Westfalen das Gesetz zur Änderung des Gesetzes zur Ausführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes, das am 11. November 2008 in Kraft getreten ist. Nach § 1 dieses Gesetzes sind Träger der öffentlichen Jugendhilfe die örtlichen und überörtlichen Träger. In § 1a Abs. 1 AG-KJHG ist bestimmt, dass örtliche Träger der öffentlichen Jugendhilfe die Kreise und die kreisfreien Städte sind.

m. Argumentation der Beschwerdeführer

Die Beschwerdeführer machen geltend, § 1a AG-KJHG verletze das Konnexitätsgebot des Art. 78 Abs. 3 der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen (Verf NRW), weil mit der Übertragung der Trägerschaft der öffentlichen Jugendhilfe auf die Kreise und kreisfreien Städte nicht auch eine Regelung über den finanziellen Belastungsausgleich geschaffen worden sei. Bei der Einführung eines flächendeckenden Betreuungsanspruchs für Kinder zwischen einem und drei Jahren durch das Kinderförderungsgesetz handele es sich um eine neue Aufgabe. Die nach der Gesetzesbegründung beabsichtigte Schaffung eines hochwertigen Betreuungsangebots sei nur mit erheblichen finanziellen Anstrengungen zu realisieren. Bei der erheblichen Erweiterung der Bedarfskriterien in § 24 SGB VIII 2008 sowie bei der besseren Entlohnung der Tagespflegepersonen nach § 23 SGB VIII 2008 handle es sich zwar nicht um die Übertragung neuer, sondern vielmehr um die Änderung bereits bestehender Aufgaben. Jedoch könne auch derartigen Aufgabenänderungen eine Konnexitätsrelevanz nicht abgesprochen werden. Art. 78 Abs. 3 Verf NRW erstrecke die Pflicht zum Kostenausgleich nicht nur auf die Übertragung neuer, sondern auch auf die Veränderung bestehender und übertragbarer Aufgaben. Die Zuweisung der in Rede stehenden Aufgaben, die zu einer erheblichen finanziellen Mehrbelastung für die Kreise und kreisfreien Städte führe, beruhe mit § 1a Abs. 1 AG-KJHG auf einem landesrechtlichen Verursachungsakt. Der Landesgesetzgeber sei daher verpflichtet gewesen, einen finanziellen Belastungsausgleich zu treffen.

IV. Wesentliche Entscheidungsgründe:

Die Verfassungsbeschwerden der vier kreisangehörigen Städte sind mangels Beschwerdebefugnis unzulässig. Die beanstandete Zuständigkeitsregelung bezieht sich allein auf Kreise und kreisfreie Städte, sodass die kreisangehörigen Städte unter den Beschwerdeführern nicht betroffen sind.

Die Verfassungsbeschwerden der übrigen Beschwerdeführer sind zulässig und begründet.

§ 1a Abs. 1 AG-KJHG verstößt gegen das Recht auf kommunale Selbstverwaltung aus Art. 78 Abs. 1 Verf NRW in seiner Ausprägung durch das Konnexitätsprinzip in Art. 78 Abs. 3 Verf NRW. Die Regelung ist mit Art. 78 Abs. 3 Verf NRW insoweit nicht vereinbar, als dabei nicht gleichzeitig Bestimmungen über die Deckung der Kosten getroffen sind.

Art. 78 Abs. 1 Verf NRW gewährt den Gemeinden und Gemeindeverbänden ein Recht auf Selbstverwaltung. Dieses Recht setzt eine finanzielle Leistungsfähigkeit voraus, die durch einen gegen das Land gerichteten Anspruch auf angemessene Finanzausstattung gewährleistet wird. Hierzu gehört gemäß Art. 78 Abs. 3 Verf NRW ein Anspruch auf einen besonderen Anforderungen entsprechenden Kostenausgleich bei Übertragung neuer Aufgaben oder Erweiterung bestehender Aufgaben auf die Gemeinden oder Gemeindeverbände. Nach Art. 78 Abs. 3 Satz 1 Verf NRW kann das Land die Gemeinden oder Gemeindeverbände durch Gesetz oder Rechtsverordnung zur Durchführung oder Übernahme öffentlicher Aufgaben verpflichten, wenn dabei gleichzeitig Bestimmungen über die Deckung der Kosten getroffen werden.