Thomas Stotko SPD Frau Präsidentin Liebe Kolleginnen und Kollegen Ein Teil der Vorredner hat bereits darauf hingewiesen

Landtag 11.11.

Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Moritz. ­ Für die SPD-Fraktion spricht jetzt Kollege Stotko.

Thomas Stotko (SPD): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein Teil der Vorredner hat bereits darauf hingewiesen. Wir alle kennen das Problem. Der Großteil war auch in der letzten Wahlperiode hier und hat den Verlauf des Untersuchungsausschusses zum Thema Siegburg mitbekommen. Die Konsequenz des Untersuchungsausschusses war die Gründung der Enquetekommission, die im März 2010 im Hohen Hause einstimmig ihren Bericht verabschiedet hat.

Herr Engel, deshalb erstaunt es mich ein bisschen, dass Ihre Fraktion ­ auch durch Sie vertreten ­ mit dem heutigen Antrag, obwohl die Enquetekommission so vielfältige Anregungen und Empfehlungen gegeben hat, ausgerechnet diesen Bereich herausgreift, nämlich den Wunsch, Kinder in stadtferne Erziehungscamps abzuschieben. Das habe ich nicht so richtig verstanden. Der Bericht der Enquetekommission gibt so viel her, doch Sie greifen diesen einen Punkt heraus.

Ich erinnere mich recht gut an Ihren Koalitionsvertrag 2005, den Sie damals als nun abgewählte Regierung verfasst haben, in dem ich auf gelesen habe: In besonders schweren Fällen muss jedoch auch die erzieherische Behandlung von Strafunmündigen... mit der Möglichkeit der Unterbringung geschaffen werden.

Das war 2005, also zu Beginn Ihrer Legislatur. Im Februar 2009 sagte Horst Engel:

Die Landesregierung will in Kürze mehr Vermeidungsplätze ohne Gitter finanzieren im Wege unseres hier übrigens auch einvernehmlich verabschiedeten Gesetzes zur Änderung des Jungendstrafvollzugsgesetzes.

Sie haben eben zu Recht gesagt, man ist irgendwann frustriert. Aber wir müssen das hier noch einmal laut sagen: Das waren fünf vertane Jahre, in denen die alte Landesregierung keine ausreichenden Finanzmittel zur Verfügung gestellt, keine Einrichtung geschaffen und nichts von dem umgesetzt hat, was sie angekündigt hat. Das müssen wir hier so deutlich sagen. Das geben wir Ihnen auch mit in die weiteren Beratungen.

Ich möchte Ihnen ein Weiteres sagen. Vonseiten der Justizministerin hat es geheißen: Das sind hier keine Schauanträge ­ das war mal ihr Begriff ­ und keine Alibianträge. Und jetzt kommen Sie mit Ihrem Antrag und fordern, dass die neue Landesregierung das machen soll, was Sie, wie Sie zu Recht sagen, in fünf Jahren nicht geschafft haben, weil Sie an den Widerständen vor Ort gescheitert sind. Vielleicht liegt es daran: Wenn man keine Kommunalpartei ist, dann sollte man sich solche ambitionierte Projekte nicht vornehmen. Sie aber, die Sie innerhalb von fünf Jahren keinen Platz mehr geschaffen haben, fordern uns in Ihrem Forderungskatalog auf, im Jahr 2011, also innerhalb eines Jahres, 250 Plätze zu schaffen. 50 Plätze je Bezirksregierung ­ das steht in Ihrem Antrag. Ich habe ihn nicht falsch gelesen. ­ Sie schütteln gerade den Kopf, Herr Engel.

Ich lese ihn vor: 3. zeitnah weitere stadtferne konkrete Standorte und Träger für derartige Erziehungseinrichtungen zu finden, die solche Konzepte umsetzen, und

­ jetzt kommt es ­ bis 2012 in jedem Regierungsbezirk eine solche Einrichtung mit insgesamt mindestens 50 Plätzen vorzuhalten;... Fünf Einrichtungen à 50 Plätze, so steht es da! Tut mir leid, dass ich Ihnen Ihren Antrag erklären muss.

Ich will Ihnen nur sagen: Das schaffen Sie nicht.

Das wissen Sie, und deshalb ist der Antrag auch unlauter. Das muss ich Ihnen ganz deutlich sagen.

Im Übrigen sind Sie Wiederholungstäter. Regelmäßig kommen aus den ehemaligen Regierungsfraktionen Anträge zu Dingen, die Sie selbst nicht geschafft haben. Deshalb gebe ich Ihnen etwas Nettes mit. Matthias Claudius hat nämlich bereits im 18.

Jahrhundert diesen Antrag der FDP-Fraktion gekannt; denn er sagte ­ ich zitiere ­: Beurteile einen Menschen lieber nach seinen Handlungen als nach seinen Worten; denn viele handeln schlecht und sprechen vortrefflich.

So war es auch in Ihren fünf Jahren. Wir können das nicht reparieren, freuen uns aber trotzdem auf die Diskussion im Ausschuss. ­ Danke.

(Beifall von der SPD und von den GRÜNEN) Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Stotko. ­ Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen spricht Frau Kollegin Hanses.

Dagmar Hanses (GRÜNE): Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Herr Engel, lieber mal etwas Positives vorweg: Ihr Antrag beginnt gut. Sie haben recht: Kinder und Jugendliche brauchen Halt und Orientierung, einen strukturierten Tagesablauf mit klaren und verbindlichen Regeln. Ich spreche aus Erfahrung, denn ich habe lange Zeit in verschiedenen Bereichen der Jugendhilfe, insbesondere in der Hilfe zur Erziehung, gearbeitet.

(Zuruf von der FDP) Aber, Herr Engel, Sie möchten gar nicht mit uns diskutieren.

Landtag 11.11.

Sie haben auch weiterhin recht, Kinder und Jugendliche können Respekt vor dem Nächsten, Selbstachtung und die Zusammenarbeit mit anderen in einem Leben ohne Gewalt erlernen. Sie schreiben, der erzieherische und integrative Gedanke, das soziale Miteinander und sinnvolle Freizeitbeschäftigungen sind maßgeblich für den Erfolg notwendig.

Auch diesbezüglich stimme ich Ihnen uneingeschränkt zu.

Aber dann wird es schwierig. Ich frage mich, was die FDP-Fraktion mit diesem Antrag erreichen möchte. Und was möchte die FDP-Fraktion mit einem Antrag zur Jugendhilfeeinrichtung im Innenausschuss? Leider ist es falsch angelegt, weil die Problematik in erster Linie in den Ausschuss für Familie, Kinder und Jugend gehört und nicht federführend in den Innenausschuss.

(Beifall von der SPD) Kinder und Jugendliche, auch auffällige Kinder und Jugendliche, sind keine Gefahr für die innere Sicherheit. Sie und die Familien, in denen sie leben, brauchen Unterstützung und Hilfestellung.

Ich habe schon in der vergangenen Wahlperiode mit großer Sorge beobachtet, wie in diesem Hause über Jugendhilfeeinrichtungen gesprochen wurde.

Das war nicht selten unsachlich, populistisch und schlichtweg falsch. Lassen Sie uns gemeinsam in den weiteren Beratungen Sorge dafür tragen, dass sich das ändert, dass wir endlich die erforderliche Fachlichkeit bekommen. Wenn wir uns nämlich gemeinsam das Hilfeplanverfahren laut KJHG, Kinder- und Jugendhilfegesetz, anschauen, dann stellen wir fest, dass die Einflussmöglichkeiten des Landes, wenn wir ehrlich sind, gleich Null sind. Die Maßnahmen der Hilfe zur Erziehung, die in §§ 27 bis 41 geregelt werden, werden allein im individuellen Hilfeplanverfahren zum Wohle eines jeden Kindes festgelegt. Dazu lädt der Allgemeine Soziale Dienst des örtlichen Jugendamtes zum Hilfeplangespräch mit allen Beteiligten ein, um die geeignete Maßnahme für das jeweilige Kind, für den jeweiligen Jugendlichen festzulegen. Das wird mindestens alle sechs Monate überprüft. Deshalb kann die Justiz keine Belegungszusagen machen, wie Sie das in Ihrem Antrag fordern.

(Beifall von den GRÜNEN und von der SPD)

Denn im Kinder- und Jugendhilfegesetz ist festgelegt, dass sich die Art und der Umfang der Hilfe nach dem erzieherischen Bedarf richten und im Einzelfall das engere soziale Umfeld einbezogen wird, sprich Schule, Nachbarn, andere Familienmitglieder, andere Einrichtungen und Institutionen, die nah an dem Kind bzw. Jugendlichen dran sind.

Des Weiteren fordern Sie niedrige Tagessätze. Ja, das geht nun leider nicht. Wenn wir einen hohen qualitativen Standard mit einer guten Personalausstattung haben, dann sind niedrige Tagessätze für freie Träger nicht möglich, nicht wirtschaftlich. Qualifiziertes pädagogisches Personal, Fachkräfte, die individuell betreuen, ein Bezugserziehersystem, wie es in Intensivgruppen und bei sozialpädagogischer Einzelhilfe nötig ist, kosten Geld und haben entsprechend höhere Tagessätze.

Die von Ihnen beschriebenen Einrichtungen haben dann das Problem, dass die Kommunen, die in der Regel die Hilfe zur Erziehung zahlen müssen, nicht zahlen können. Deshalb müssen wir gemeinsam dafür Sorge tragen, dass die Kommunen den Bereich Hilfe zur Erziehung finanzieren können.

Wir sind also auf die Beratung in den Fachausschüssen gespannt.

Vorab möchte ich als Jugendpolitikerin aus dem ländlichen Raum vor einem Trugschluss warnen, wenn Sie von stadtfernen Einrichtungen sprechen oder andere lustige Formulierungen gebrauchen:

Der ländliche Raum ist keine heile Welt. Orts- oder stadtferne Unterbringung schützt Kinder und Jugendliche nicht. Alle Problematiken, die wir in Ballungsräumen haben, haben wir auch im ländlichen Raum ­ nur in geringerer Anzahl, weil dort weniger Menschen leben.

Nach dem Glasglockenprinzip funktioniert integrative Jugendhilfeplanung auch in einem kleinen Eifeldorf nicht. Hilfe zur Erziehung ist immer eingebettet in den Sozialraum, um Kinder und Jugendliche zu selbstständigen und handlungsfähigen Menschen zu erziehen. Deshalb überlegen die Innenpolitiker der FDP vielleicht noch einmal, ob das nicht doch eher ein Jugendhilfethema ist.

(Beifall von den GRÜNEN, von der SPD und von der LINKEN) Vizepräsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Frau Kollegin Hanses. ­ Für die Fraktion. Die Linke spricht Frau Dr. Butterwegge.

Dr. Carolin Butterwegge (LINKE): Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Abgeordnete! Dem Antrag der FDP-Fraktion liegt eine in der Tendenz richtige Intention zugrunde, nämlich jene, Untersuchungshaft und Jugendstrafvollzug bei gefährdeten jungen Menschen mit Mitteln der Jugendhilfe zu vermeiden.

Der Antrag hat aber einige Mängel und ist nicht zu Ende durchdacht. Vor allem aber setzt sein Anliegen, die Schaffung von Einrichtungen für delinquent gewordene Kinder und Jugendliche im Sinne von helfen statt strafen viel zu spät ein. Er zielt nämlich auf das Kind, das bereits in den Brunnen gefallen ist. Sich auch darum zu kümmern, ist wichtig und richtig, meine Damen und Herren, entlässt uns aber nicht aus der Verantwortung, die Kindersicherung des Brunnens voranzutreiben, um es mal bildlich auszudrücken.

Lassen Sie mich unsere Position dazu erläutern: Landtag 11.11.

Erstens setzt die Prävention von Delinquenz bei Kindern und Jugendlichen gesellschaftliche und familiäre Verhältnisse voraus, in denen Eltern die Kraft und die Ressourcen haben, sich um ihre Kinder zu kümmern. Die Realität in viel zu vielen Familien ist aber leider eine andere: Hartz IV als Armut und Ausgrenzung per Gesetz prägt hierzulande den Alltag von fast jedem vierten Kind und seiner Familie. Existenzängste und Perspektivlosigkeit sind häufig die Folge.

Die fortschreitende Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich bringt es mit sich, dass die Zahl der Eltern wächst, die ihren Kindern eben nicht gute oder gar optimale Bedingungen des Aufwachsens bieten können. Häufig fehlen diesen Kindern nicht nur elementare Chancen zur Teilhabe etwa an kinderkulturellen Angeboten wie Musikunterricht, Tanz, Sport oder auch Förderangeboten. Die Kinder erfahren Benachteiligung und Ausgrenzung unter Gleichaltrigen schon im frühen Kindesalter: in der Kita, der Schule, der Freizeit, der Ausbildungssuche usw. Und mit zunehmendem Alter eines Kindes kann sich das verstärken.

Viele Eltern bzw. Familien können das nicht abfedern oder durch mehr Rückhalt ausgleichen, weil sie selbst viele Probleme haben. In einer solchen Situation stellen sich junge Menschen dann unter Umständen aber auch die Frage, warum sie sich an die Regeln einer Gesellschaft halten sollen, die für sie die hintersten Plätze vorhält. Nachvollziehbar ist das sogar.

Zweitens bedarf es mehr Anstrengungen für eine frühe Prävention der Delinquenz von Kindern und Jugendlichen. Dafür brauchen wir unter anderem eine kommunale Kinder- und Jugendhilfe, die ihre verantwortungsvolle Aufgabe voll und ganz erfüllen kann.

Wegen der chronischen Unterfinanzierung der Kinder- und Jugendhilfe wie auch der Kommunen sind jedoch insbesondere die Allgemeinen Sozialen Dienste der Jugendämter personell überaus schlecht ausgestattet. Als Sozialarbeiterin weiß ich, unter welchen Bedingungen meine Kolleginnen und Kollegen dort arbeiten ­ und viele sind schon jetzt ausgebrannt.

Diese personelle Unterausstattung hat schwerwiegende Folgen: Erstens haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendämter so viele Fälle zu bearbeiten, dass sie der Besonderheit jedes einzelnen Falles nicht mehr gerecht werden können, obwohl sie die Verantwortung dafür tragen müssen.

Hinweise auf schwere familiäre Problemlagen, daraus folgende Beeinträchtigungen der Erziehungsfähigkeit von Eltern und Entwicklungsstörungen von Kindern können unter solchen Umständen nicht immer ausreichend verfolgt werden. Ein zentrales Problem ist also die steigende Zahl hilfesuchender Familien bei schlechtem Personalschlüssel in der Jugendhilfe.

(Beifall von der LINKEN)

Für betroffene Familien und Kinder setzen die notwendige Begleitung und die erforderliche Hilfe unter diesen Umständen oft zu spät oder gar nicht ein.

Meine Damen und Herren dieses Dilemma kann die Priorisierung frühe Hilfen statt späte Strafen lösen.

Und hier besteht ein erheblicher Nachbesserungsbedarf.

(Beifall von der LINKEN)

Zweitens hat die Unterfinanzierung der Jugendhilfe aber auch dazu geführt, dass das pädagogisch richtige Gebot ambulant vor stationär, also die Vermeidung einer Fremdunterbringung von Kindern durch ambulante Hilfen, seit geraumer Zeit auch dazu herhalten muss, Einsparungsbemühungen zu verdecken. Vermutlich führte und führt dies leider weiterhin in einigen Fällen dazu, dass Kinder auch dann nicht aus Familien herausgenommen werden, wenn sie dort Gewalt oder Vernachlässigung ausgesetzt werden.

All diese Umstände aber sind ein Nährboden für dissoziales Verhalten und für eine hohe Gewaltbereitschaft der Heranwachsenden. Nach unserer Ansicht sind also Landesmittel zum Beispiel für die Jugendhilfe, einen Ausbau früher Hilfen und für ein Bildungssystem, das nicht 15 % der Schülerinnen und Schüler ohne Schulabschluss hinterlässt, am besten investiert.

(Beifall von der LINKEN)

Meine Damen und Herren, eine wissenschaftliche Begleitung und Evaluation der neu zu schaffenden Einrichtungen wird gefordert. An anderer Stelle wird das bestehende Haus Ausblick in Bedburg-Hau als Paradebeispiel für die angestrebten Einrichtungen bezeichnet.

Aus unserer Sicht wäre eine wissenschaftliche Begleitung, welche die Arbeit des Hauses und die Biografien seiner Bewohnerinnen in den Blick nimmt, notwendig und lohnend. Erforscht werden müssten die Lebensläufe der dort untergebrachten jungen Menschen hinsichtlich der sozialen Lage ihrer Herkunftsfamilie, hinsichtlich der Krisen in den Familien und hinsichtlich der Entwicklung der Kinder und auch den in solchen Krisen versäumten Interventionen und Hilfen. Eine solche Art der Evaluation würde vermutlich wertvolle Informationen darüber liefern, wo das vorhandene Geld sinnvoller als in die Schaffung von 50 ­ ich betone: 50 ­ Einrichtungsplätzen für straffällig gewordene junge Menschen investiert werden könnte.

Meine Damen und Herren, damit bin ich bei einer weiteren kritischen Frage zu diesem Antrag ­ genauer: zu der dort aufgestellten Bedarfsprognose.

Gefordert wird, dass bis 2012 in jedem Regierungsbezirk eine solche Einrichtung mit insgesamt 50 Plätzen geschaffen wird.