Vorsitz Vizepräsident Oliver Keymis Frau Hendricks Sie haben gesagt das Thema sei Chefsache geworden

Prof. Dr. Thomas Sternberg (CDU): Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir haben heute, wie schon im September ­ damals ging es um unseren Antrag ­, noch einmal das Thema der sogenannten Gemeinschaftsschule auf der Tagesordnung. Ich bin froh, dass es heute eine Aktuelle Stunde dazu gibt. Damit ist das Thema da, wo es hingehört, nämlich im Parlament.

(Vorsitz: Vizepräsident Oliver Keymis) Frau Hendricks, Sie haben gesagt, das Thema sei Chefsache geworden. Ich bin nicht sicher, wie die zuständige Ministerin das sieht. Eines ist mir allerdings aufgefallen: Wenn das, was im Wahl- und im Parteiprogramm der SPD steht, umgesetzt worden wäre, dann wäre noch sehr viel mehr los in diesem Land. Im Moment ist das nicht der Fall, weil zumindest im Koalitionsvertrag etwas anderes steht. Das will ich einmal sehr deutlich festhalten.

Meine Damen und Herren, wir machen überhaupt keinen Aufruhr, denn dieses Thema kann nicht mit irgendwelchen Kriegsvokabeln behandelt werden.

Zurzeit tragen Sie aber Unruhe in die Regionen.

Uns ist das Thema viel zu wichtig. Uns beschäftigen sehr wohl die Sorgen von Schulen, denen immer neue Grundsatzdebatten und Reformen aufgedrängt werden, die Sorgen der Eltern, die für ihre Kinder die beste Bildung ­ ohne Über- oder Unterforderung und angepasst an Begabung und Interessen ­ wollen, und auch die Sorgen der Gemeinden, die plötzlich einen demografischen Wandel zu bewältigen haben und ihre Schule im Ort behalten wollen.

(Renate Hendricks [SPD]: Ganz neu ist das nicht! Das war ja absehbar!)

Das sind alles ganz vernünftige Sorgen, und das ist uns alles ganz wichtig. Wir sind uns aber auch sicher: Die sogenannte Gemeinschaftsschule ist nicht die richtige Antwort auf diese Probleme.

(Beifall von der CDU und von der FDP)

In Morsbach will der Bürgermeister eine Gemeinschaftsschule beantragen. Bei der Befragung der Eltern votierten 59 Eltern, dass sie ihr Kind, das derzeit im vierten Schuljahr ist, in der Gemeinschaftsschule anmelden würden. Der Bürgermeister meint, dass, da nur 80 % geantwortet hätten, man auf 72 Kinder käme, wenn 100 % geantwortet hätten, und 72 Kinder reichen würden.

Meine Damen und Herren, reichen 72 Kinder wirklich für die Gründung einer Schule? 69 ist die geringste Zahl für die Gründung einer solchen Schule.

Damit sind Klassengrößen von 23 Schülern vorausgesetzt, von denen andere Schulformen träumen müssen. Mit den 69 Schülern soll die gleiche Differenzierung möglich sein, die im mehrgliedrigen Schulsystem mindestens 180 Kinder pro Jahrgang und auch bei der Gesamtschule mindestens 112

Kinder voraussetzt. Die gleiche Differenzierung soll bei Ihrem Modell mit 69 Kindern möglich sein.

(Renate Hendricks [SPD]: Natürlich!)

Ich rede noch nicht einmal von den Differenzierungsmöglichkeiten des Gymnasiums. Aber ist der zwingend vorgeschriebene gymnasiale Lehrplan in den Klassen 5 und 6 mit der Verpflichtung zum Erlernen einer zweiten Fremdsprache, die für viele Kinder übrigens die dritte Fremdsprache ist, eigentlich richtig? Ist es eigentlich sinnvoll, alle Kinder zu verpflichten, in Klasse 6 eine zweite Fremdsprache zu erlernen? Wer bleibt da auf der Strecke? Ich bin sicher, dass nicht der gymnasiale Zweig auf der Strecke bleibt.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Das behauptet die FDP aber!)

In den neuen Schulen werden alle bemüht sein, zu beweisen, dass sie Gymnasium können. Ich bin absolut sicher, dass das nicht das Problem ist. Das Problem sind die, die immer auf der Strecke bleiben, nämlich diejenigen mit anderen Interessen und anderen Begabungen, die die Berufsorientierung der Hauptschule, die in den letzten Jahren deutlich vorangekommen ist, in diesen Schulen vermissen werden und nicht die klare Ausrichtung auf ihre Bedürfnisse und ihre Interessen haben werden.

(Zuruf von Renate Hendricks [SPD])

Es bleibt die Fixierung aufs Gymnasium. Das ist einfach der Fall: Alle Bildungspolitik fixiert sich aufs Gymnasium, obwohl in Nordrhein-Westfalen nur 25 % der Schülerinnen und Schüler das Abitur erwerben. Am meisten wird in Nordrhein-Westfalen mit 40 % der Schulabschluss der Fachoberschulreife gemacht.

Die Betriebe, die jetzt händeringend Auszubildende suchen ­ das hat sich sehr verändert ­, suchen nicht Abiturienten, sondern gute Leute mit solchen Abschlüssen. Das sind im Handwerk eben nach wie vor ­ entgegen anderen Meldungen ­ zu 50 % Absolventen der Hauptschule. Auch in der Industrieund Handelskammer ­ Versicherungen und Banken eingeschlossen ­ ist es nicht mehr als ein Viertel an Abiturienten, die da ihre Ausbildungsverträge unterzeichnen.

(Beifall von der FDP)

Meine Damen und Herren, wie wird die Berufsorientierung sichergestellt? Gerade bei der richtigen Qualifikation für die handwerklichen und industriellen Berufe gibt es entscheidende Defizite. Da fehlt uns Personal. Wird das durch die völlige Fixierung und Konzentrierung auf gymnasiale Standards wirklich zur Verfügung gestellt?

Meine Damen und Herren, wir werden aufpassen.

Wir werden Sie und die Ministerin beim Wort nehmen. Wir fragen nach: Werden auch die Lehrer 02.12. derer Schulen einmal in den Genuss all der Vorzüge kommen (Beifall von der CDU) wie Beförderungsmöglichkeiten, kleinerer Klassen, wöchentlicher Arbeitszeit, Stellenausstattung und Fortbildungsmittel, wie das in dieser bevorzugten, privilegierten sogenannten Gemeinschaftsschule der Fall ist?

(Beifall von der CDU ­ Renate Hendricks [SPD]: Herr Sternberg, Sie wissen, dass das Niedersachsen exakt so macht!)

Das Ministerium verlangt eine interkommunale Schulentwicklungsplanung. Liegt die bei den Genehmigungen eigentlich wirklich vor? Bis zum 31. Dezember müssen die Anträge eingegangen sein.

Bis zum 31. Dezember sollen die Gemeinden eine solche interkommunale Schulentwicklungsplanung gemacht haben. Liegt die wirklich vor?

Dann heißt es in der Handreichung, die Gemeinschaftsschulen dürften nicht auf der Basis existenzgefährdeter Hauptschulstandorte errichtet werden.

(Renate Hendricks [SPD]: Richtig!)

Wir werden sehr genau nachfragen.

Dann heißt es da, es dürfe keine Bestandsgefährdung der Schulen anderer Träger bedeuten. Das werden wir sehen. Man hört ganz anderes.

(Ralf Witzel [FDP]: Schöne Prosa, aber wenig Realität!)

Ist das bei den Genehmigungen wirklich gewährleistet? Wir werden genau hinsehen.

Es bleiben folgende Fragen: Was gewährleistet eigentlich die Versuchsschule Gemeinschaftsschule?

Wie gewährleistet sie ­ das sagte ich schon ­ die Berufsorientierung der heutigen Haupt- und Realschulen? Wie sichert sie die Standards und Differenzierungsmöglichkeiten des Gymnasiums? Wird das pädagogische Konzept eigentlich wirklich allen Interessen und Begabungen gerecht? Schließlich stellt sich die Frage: Sind die Lerngruppen, die da gebildet werden, nicht einfach viel zu heterogen für die praktische Arbeit?

(Sigrid Beer [GRÜNE]: Was haben wir denn gestern beschlossen, Herr Sternberg? ­ Gegenruf von Ingrid Pieper-von Heiden [FDP])

­ Wir können gerne darüber diskutieren, Frau Beer.

Ich kenne diese Inklusionsmodelle und die Schulen, die das machen, sehr wohl. Es gibt aber auch eine schulische Wirklichkeit über die Modellschulen hinaus ­ übrigens mit ganz anderen personellen Möglichkeiten.

(Zuruf von Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE])

Meine Damen und Herren, welche Auswirkungen hat es, wenn wir im Land viele solcher Zwerggesamtschulen errichten? Welche Auswirkung hat das auf die Bildungslandschaft der Region? Wird eine gewachsene Schullandschaft nicht durch voreilige und unüberlegte Entscheidungen völlig durcheinandergebracht?

(Zuruf von Renate Hendricks [SPD])

Sind die neuen Schulen der unauffällige Weg in die Einheitsschule? Werden Gymnasien- und Privatschulgründungen als Nebeneffekt befördert? Das ist eine wichtige Frage.

Wir werden genau darauf achten, ob künftig auch Verbundschulen genehmigt werden, die im Gesetz in § 83 als Lösung für die ländlichen Gemeinden vorgesehen sind.

(Sigrid Beer [GRÜNE]: Es ist gerade eine genehmigt worden!)

Wir werden sehr genau darauf achten.

Ich frage aber: Was ist eigentlich das Ziel des Ganzen? Geht es nicht letztlich um das vollständig integrative System aus der SPD-Programmatik?

(Renate Hendricks [SPD]: Ach, Herr Sternberg!)

Wenn schließlich die angekündigten 30 % der Schulen Wirklichkeit werden sollten, dann wären das 750 Schulen. Das wäre keine vielfältige Schullandschaft mehr.

(Beifall von der CDU)

Was ist das Ziel? Was ist das Ende der ganzen Geschichte? Würde das bedeuten, dass wir schließlich in einem englischen Schulsystem landen, in dem wir tatsächlich eine flächendeckende Einheitsschule haben, aber nach wie vor auch eine Reihe von Gymnasien, Privatgymnasien, für die wenigen, die sich das leisten können, und dass wir das womöglich noch auf die Hochschulen übertragen, denen man nicht einmal gestattet, klar begrenzte und sozial ausgewogene Studienbeiträge zu erheben, (Beifall von der CDU) aber dafür dann private Hochschulgründungen zulässt, die mit exorbitanten Studiengebühren ihre Eliten ausbilden? Eine solche Bildungslandschaft wollen wir als CDU dezidiert nicht.

(Beifall von der CDU)

Meine Damen und Herren, uns geht es um das Wohl der Kinder im Land. Sie stehen bei uns bei allen bildungspolitischen Überlegungen im Mittelpunkt. Wir behandeln das Thema nicht ideologisch.

In einer Broschüre zur Gemeinschaftsschule lese ich dagegen, dass man das gegenwärtige Schulsystem für ein Relikt der ständischen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts hält.

(Manfred Kuhmichel [CDU]: Unglaublich!) Landtag 02.12.

Solche völlig weltfremden Denkmuster sind natürlich blockierend für jede vernünftige und ruhige Beschäftigung mit Schulfragen. Das zeigt dann auch, warum manche Schulpolitik vielleicht als Kampf verstehen. Wir tun das nicht. Wir wollen eine behutsame Weiterentwicklung einer erfolgreichen Schullandschaft.

(Zuruf von Sigrid Beer [GRÜNE])

Wir wollen eine Schullandschaft, die den Lehrern nicht ständig neue Aufgaben und Strukturdebatten aufzwingt.

(Sigrid Beer [GRÜNE]: So wie die letzten fünf Jahre!)

Wir wollen Ressourcen für alle Schulformen und nicht die Bevorzugung von einer.

Vizepräsident Oliver Keymis: Aber wir wollen auch langsam zum Schluss kommen, Herr Kollege.

Prof. Dr. Thomas Sternberg (CDU): Und wir wollen eine Schule vor Ort ohne einen Wettlauf zulasten anderer. ­ Schönen Dank.

(Beifall von der CDU und von der FDP) Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Kollege Prof. Dr. Dr. Sternberg. Ich habe die Großzügigkeit der Kollegin, die vorher hier gesessen hat, ein bisschen fortgesetzt ­ aber nur ausnahmsweise, bitte schön.

Als Nächste spricht Frau Kollegin Böth für die Fraktion. Die Linke.

Gunhild Böth (LINKE): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das ist jetzt der gefühlte 95.

Antrag der FDP zur selben Sache.

(Beifall von der LINKEN)

Ich muss sagen: Ich finde es langsam unerträglich.

Wir haben gerade, Ende November, eine Anhörung im Schulausschuss zu genau dem gleichen Thema gehabt. Der Antrag hieß, glaube ich: Weg mit der Einheitsschule! Alles muss so bleiben, wie es ist! ­

Da haben Sie ich weiß nicht wie viele Expertinnen und Experten einen ganzen Nachmittag beschäftigt.

Die Zusammenfassung war: Der Antrag war völlig überflüssig. ­ Das ist nicht meine Meinung. Sie werden ja sagen, es ist klar, dass es meine Meinung ist. ­ Aber das hat Herr Hebborn vom Deutschen Städtetag gesagt. Er meinte: Das reicht jetzt.

Das haben wir doch alles schon 1.000 Mal diskutiert.

(Ralf Witzel [FDP]: Die Grünen haben doch die Aktuelle Stunde beantragt!)

In diesem Zusammenhang möchte ich noch einmal darauf hinweisen, Herr Witzel, was Herr Prof. Klaus Klemm zu Ihnen gesagt hat. Zum Schluss der Anhörung hat er den Landtag ­ jedenfalls mich, weil mir das nicht so präsent war ­ davon in Kenntnis gesetzt, dass es in der letzten Legislaturperiode dazu schon eine Enquetekommission gegeben hat, dass man zu Schulstruktur und Schulentwicklung lange und ausführlich gearbeitet hat, dass er in diesem Zusammenhang schon mal als Experte über Jahre beschäftigt war und dass all die Fragen, die Sie letztes Mal zu Ihrem Antrag gestellt haben, in der Enquetekommission schon mal behandelt worden sind.

Dann hat Herr Prof. Klaus Klemm ­ ich kann das jetzt nicht wörtlich zitieren, aber sinngemäß; es steht auch im Protokoll; da kann man es nachlesen ­ zu Ihnen persönlich, Herr Witzel, gesagt: Herr Witzel, wir haben an einem Abend nach einer Enquetekommissionssitzung bei einem guten Rotwein auch noch lange und ausführlich diese Details diskutiert. ­ Herr Witzel, da frage ich mich ehrlich: War so viel Rotwein im Spiel, dass Sie die Ergebnisse nicht mehr an die Kollegin Pieper-von Heiden geben konnten?

(Heiterkeit und Beifall von der LINKEN und von den GRÜNEN)

Der Landtag müsste Sie eigentlich auffordern, dass Sie demnächst, wenn Sie etwas Fachliches reden, bitte keinen Rotwein mehr trinken sollen.

(Heiterkeit und Beifall von der LINKEN)

Denn Sie haben den Ausschuss einen Vormittag mit diesem Antrag beschäftigt. Die Menschen sind wirklich weit gereist und haben da ihre Arbeitszeit verschwendet.

Wenn ich es richtig verstanden habe, geht dieser Antrag jetzt auch wieder in den Ausschuss, und wahrscheinlich werden Sie dazu auch wieder eine Anhörung beantragen. Ich verstehe ja, dass Sie uns als Abgeordnete damit quälen wollen. Das ist Ihr gutes Recht. Aber ist Ihnen eigentlich bewusst, wie viele Steuergelder Sie damit verschwenden, wenn Sie immer wieder das Gleiche und das Gleiche und das Gleiche diskutieren?

(Beifall von der LINKEN)

Es ist sehr demokratisch, wenn man überlegt, wofür das Geld von Bürgerinnen und Bürgern hier verschwendet wird.

(Zurufe von Michael Solf [CDU] und von Dr. Gerhard Papke [FDP]) Herr Solf, ich fände, es stünde uns gut an, dieses Geld, das wir hier verschwenden, wenn wir die gleiche Sache von CDU und FDP immer noch mal und noch mal und noch mal mit Experten und mit der Verwaltung diskutieren (Michael Solf [CDU]: Sie sitzen hier im Glashaus!)