Das badenwürttembergische Modell ist prohibitiv auf die Verhinderung von verbindlichen Bürgerbeteilungsprozessen ausgelegt
Anhörung des Ausschusses für Kommunalpolitik des Landtages Nordrhein-Westfalen zum
(b) das bayerische Modell (eingeführt 1995 durch Volksentscheid).
Der Gutachter ist ein in Baden-Württemberg lebender Bayer. Er kennt die konkrete Funktionsweise beider Modelle aus vielfältiger eigener Erfahrung.
Das baden-württembergische Modell ist prohibitiv auf die Verhinderung von verbindlichen Bürgerbeteilungsprozessen ausgelegt. Empirisch findet auf der Basis dieses Modells in einer Gemeinde ein Bürgerentscheid durchschnittlich seltener als alle 100 Jahre statt. Die Rechtsunsicherheit ist enorm: Es gibt kaum ein Bürgerbehren, das nicht anwaltlich durch Rechtsgutachten in Frage gestellt wird. Ein erheblicher Teil der Bürgerentscheide ist aufgrund des Quorums formal ungültig. Die alltagsweltliche Erfahrung der Bürgerinnen und Bürger ist, dass ihnen eine wirkliche Mitsprachemöglichkeit meist nur vorgegaukelt wird, sie in der Realität aber fast immer ausgehebelt und ausgebremst wird. Auf diese Weise fördert das baden-württembergische Modell letztlich die Politikverdrossenheit..
Das bayerische Modell führt empirisch in einer Gemeinde durchschnittlich etwa alle 15 Jahre zu einem Bürgerentscheid. Die Bürgerentscheide sind in über 90 % der Fälle gültig. Die Rechtsunsicherheit ist gering, nur relativ selten wird die Zulässigkeit eines Bürgerbegehrens Gegenstand von Rechtsstreitigkeiten. Die alltagsweltliche Erfahrung der Bürgerinnen und Bürger ist, dass sie sich mit diesem Instrument maßgeblich in den politischen Prozess einbringen können und in dieser Rolle auch ernst genommen werden. Auf diese Weise fördert das bayerische Modell die Identifikation der Bürgerinnen und Bürger mit dem politischen System.
In Nordrhein-Westfalen wurden Bürgerbegehren/entscheide 1994 nach dem Vorbild des baden-württembergischen Modells eingeführt. Folglich sind die sich daraus ergebenden Probleme mit denen in Baden-Württemberg vergleichbar. (Nur die Einleitungsquoren bei Bürgerbegehren wurden bereits an das bayerische Modell angepasst.)
In Baden-Württemberg (und in NRW) sind die mit weitem Abstand häufigsten Gründe für die formale Unzulässigkeit bzw. juristische Bestreitung von Bürgerbegehren:
(a) Verfristung (6-Wochen-Frist bei Bürgerbegehren, die Gemeinderatsbeschlüssen widersprechen),
(b) Ausschluss von Bürgerbegehren gegen Bauleitpläne,
(c) Angebliche Unrichtigkeit des Kostendeckungsvorschlags. STELLUNGNAHME 15/1073
A11
In Bayern hingegen ist bei Bürgerbegehren gegen Gemeinderatsbeschlüsse weder eine Frist einzuhalten, noch sind Bauleitpläne als Gegenstand von Bürgerbegehren ausgeschlossen, noch ist ein Kostendeckungsvorschlag eine Zulässigkeitsvoraussetzung.
Im Koalitionsvertrag für NRW hat die rot-grüne Landesregierung auf S. 21 angekündigt, die Regelungen zu Bürgerbegehren/entscheiden orientiert am bayrischen Modell neu zu gestalten. Zum vorliegenden Gesetzentwurf (Drucksache 15/2151) ist allerdings festzustellen, dass diese Ankündigung in Bezug auf Bürgerbegehren kaum umgesetzt wird.
Von den oben genannten drei wichtigsten Hürden bleibt (a) vollständig erhalten (die aus bayerischer Perspektive unnötige und unsinnige Fristsetzung bleibt bestehen); (b) wird nur geringfügig in einer Weise modifiziert, die die Gefahr in sich birgt, dass keine nennenswerte Verbesserung entsteht; (c) wird zwar als Hürde gestrichen (der Kostendeckungsvorschlag entfällt), dafür wird jedoch eine neue Hürde errichtet, deren Auswirkungen sich noch nicht abschätzen lassen: Die Gemeinden können nun die Erstellung und Übermittlung einer Kostenschätzung ohne jede Zeitbeschränkung beliebig hinauszögern und dadurch den Beginn eines Bürgerbegehrens so lange verschleppen, bis bereits wesentliche Weichenstellungen als Vorentscheidungen getroffen oder gar vollendete Tatsachen geschaffen wurden.
Von den drei wesentlichen Hürden im baden-württembergischen Modell bleiben somit zwei von drei Hürden nach wie vor bestehen. Nur die dritte Hürde wird durch eine neue Form der Reglementierung ersetzt, deren Potential für eine Behinderung von Bürgerbegehren in der vorgeschlagenen Form bedenklich ist. Insgesamt kann dem Gesetzentwurf deshalb leider nicht zugebilligt werden, sich am bayerischen Modell zu orientieren, wie es im Koalitionsvertrag heißt. Faktisch bleibt der Gesetzentwurf bei zentralen Fragen nach wie vor dem baden-württembergischen Modell verhaftet. Für Bürgerbegehren ist deshalb zu befürchten, dass die in der Praxis dadurch eintretenden Verbesserungen weit geringer als angekündigt ausfallen werden.
Anders sieht dies bei Bürgerentscheiden aus. Die im Gesetzentwurf vorgeschlagenen Änderungen zu Bürgerentscheiden orientieren sich tatsächlich am bayerischen Modell (lediglich mit Ausnahme der leider nach wie vor hohen Einleitungshürde bei Ratsreferenden und mit Ausnahme der Quoren auf Landkreisebene). Deshalb ist bei Bürgerentscheiden tatsächlich von einer maßgeblichen Verbesserung auszugehen.
I. Bürgerbegehren/Bürgerentscheid
1. Wie beurteilen Sie die Absicht der Landesregierung, mit dem Gesetzentwurf das direktdemokratische Instrument Bürgerbegehren/Bürgerbeteiligung als wichtige Ergänzung der repräsentativen Vertretungen zu stärken?
Die Absicht ist zu begrüßen.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird dies in der Praxis bzgl. Bürgerbegehren allerdings voraussichtlich nur zu bescheidenden Verbesserungen führen, weil im Unterschied zum bayerischen Modell das eigentlich als Vorbild dienen sollte zwei der drei wesentlichen Hürden (Fristsetzung; Bauleitpläne) nicht beseitigt werden und nur die dritte Hürde (Kostendeckungsvorschlag) zwar abgeschafft, aber durch eine neue Hürde (Möglichkeit eines beliebigen Hinauszögerns der Kostenschätzung durch die Gemeinde) ersetzt wird.
Bei Bürgerentscheiden führt der Gesetzentwurf hingegen zu insgesamt deutlichen Verbesserungen.
2. Wird durch den Gesetzesentwurf ein Mehr an Demokratie erreicht?
Eine Stärkung direktdemokratischer Instrumente erhöht die Partizipationsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger. Partizipation ist ein wichtiges Element einer lebendigen Demokratie.
3. Wie bewerten Sie den Gesetzentwurf vor dem Erfordernis der Rechtssicherheit von Entscheidungen?
Legt man als Kriterium für Rechtssicherheit die Zahl der externen Rechtsgutachten zu Grunde, die Gemeinden zur Frage der Zulässigkeit eingereichter Bürgerbegehren in Auftrag geben (offenbar weil sie sich selbst kein sicheres Urteil zutrauen), sowie die Zahl der vor Gericht geführten Auseinandersetzungen um die Zulässigkeit von Bürgerbegehren, so ist es um die Rechtssicherheit gegenwärtig schlecht bestellt.
Eine Reform, die die Zulassungsvoraussetzungen von Bürgerbegehren so vereinfacht und für jedermann eindeutig nachvollziehbar regelt, dass derartige Rechtsgutachten und juristische Auseinandersetzungen zukünftig entbehrlich werden, ist anzustreben. Dabei können die bayerischen Regelungen als Vorbild dienen, denn in Bayern ist der Prozentsatz der juristischen Auseinandersetzungen um Bürgerbegehren deutlich geringer als in Nordrhein-Westfalen.
Der vorliegende Gesetzentwurf stellt sicher keine Verschlechterung der Rechtssicherheit im Vergleich zum gegenwärtigen (schlechten) Zustand dar. Eine Verbesserung der Rechtssicherheit wird allerdings nur beim notorischen Streitgegenstand Kostendeckungsvorschlag erreicht. Hinsichtlich aller anderen Aspekte sind keine Verbesserungen der Rechtssicherheit erkennbar.
Zur weiteren Verbesserung der Rechtssicherheit schlagen wir vor: Anregung 1:
In § 26 Abs. 2 Satz 1 wird das Wort soll ergänzt: Das Bürgerbegehren muss schriftlich eingereicht werden und soll die zur Entscheidung zu bringende Frage sowie eine Begründung enthalten. Begründung: Dies wurde bereits im Änderungsantrag der Fraktion DIE LINKE vorgeschlagen und ist ausdrücklich zu begrüßen. Weil es im Fragenkatalog nicht erwähnt wird, soll es hier angesprochen werden. Die Einfügung des Wortes soll an der bezeichneten Stelle würde bewirken, dass sich Rechtsstreitigkeiten über behauptete Mängel in der Begründung (die dann beim Bürgerentscheid ohnehin nicht zur Abstimmung steht und hier auch gar nicht mehr auftaucht) sowie bezüglich einer juristisch exakten Fragestellung zukünftig erübrigen, weil sich derartige eventuelle Mängel dann nicht mehr auf die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens auswirken. Mängel hinsichtlich einer juristisch exakten Fragestellung kann der Gemeinderat dann redaktionell heilen, ohne dass es die Zulässigkeit des Bürgerbegehrens gefährdet.
Anregung 2:
Die Regelung zu Bürgerentscheiden, die vom Gemeinderat selbst eingeleitet werden (Ratsreferenden), soll an das bayerische Vorbild angepasst werden.
§ 26 Abs. 1 Satz 2 lautet derzeit: Der Rat kann mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der gesetzlichen Zahl der Mitglieder beschließen, dass über eine Angelegenheit der Gemeinde ein Bürgerentscheid stattfindet (Ratsbürgerentscheid).
Zum Vergleich dazu § 18a Abs. 2 der bayerischen Gemeindeordnung: Der Gemeinderat kann beschließen, dass über eine Angelegenheit des eigenen Wirkungskreises der Gemeinde ein Bürgerentscheid stattfindet. Vorschlag: § 26 Abs. 1 Satz soll wie folgt neu gefasst werden: Der Rat kann beschließen, dass über eine Angelegenheit der Gemeinde ein Bürgerentscheid stattfindet (Ratsbürgerentscheid).