Kreditfinanzierung

Prof. Dr. Johannes Hellermann Fakultät für Rechtswissenschaft Lehrstuhl für Öffentliches Recht. Finanz- und Steuerrecht Universität Bielefeld I Postfach 1001 31 I 33501 Bielefeld Prof. Dr. Oktober 2010 - auf spezifisch (verfassungs-)rechtliche Expertise ansprechende Fragen des vorab übersandten Katalogs; zu den Fragen 1 bis 4 äußert sie sich daher nicht. Auf die verbleibenden Fragen antwortet sie - teils zusammenfassend - insoweit, wie dies aus (verfassungs-)rechtlicher Perspektive möglich erscheint.

Frage 9

Unter Etatreife versteht man grundsätzlich die für eine Aufnahme in den Haushaltsplan ausreichende Gewissheit, dass die fraglichen Haushaltsmittel in dem Haushaltsjahr aufkommen bzw. (bei der Veranschlagung als Ausgaben und Verpflichtungsermächtigungen) benötigt werden. Dieses Erfordernis der sog. Etatreife findet seine allgemeine rechtliche Grundlage in §§ 6, 11 Abs. 2 LHO. Fragen 5, 7, 8, 10, 11

Die Fragen 5, 7, 8, 10 und 11 des Fragenkatalogs beziehen sich - im einzelnen in unterschiedlicher Weise - auf die Beurteilung der vorgesehenen Rücklage für Zahlungsverpflichtungen aus dem Urteil des Verfassungsgerichtshofs vom 12. Oktober 2010 zum Kinder- und Jugendhilfegesetz.

Über die haushaltspolitischen Konsequenzen aus diesem Urteil zu befinden, ist Sache zunächst des Finanzministers und der Landesregierung und sodann des Haushaltsgesetzgebers. Die Ergänzungsvorlage zum Nachtragshaushalt zieht insoweit mit der Bildung und Dotierung einer Rücklage eine vielleicht nicht rechtlich zwingende (vgl. Aus rechtswissenschaftlicher Sicht stellt sich allein die Frage der Vereinbarkeit dieser haushaltspolitischen Entscheidung mit rechtlichen Vorgaben (vgl. Frage 5, die deshalb im Folgenden nur in diesem eingeschränkten Sinn zu beantworten ist).

Insoweit ist im Ausgangspunkt festzuhalten, dass die Bildung von Rücklagen eine haushaltsrechtlich grundsätzlich zulässige Maßnahme ist. Im öffentlichen Haushaltsrecht sind Rücklagen Geldbestände, die aus der jährlichen Haushaltswirtschaft ausgeschieden werden (sei es in Gestalt von Sondervermögen, sei es auch innerhalb des Haushalts bewirtschaftet), um der Aufgabenerfüllung in näherer oder fernerer Zukunft zu dienen.

§ 62 Abs. 3 S. 2 LHO sieht vor, dass neben der allgemeinen Rücklage in besonderen Fällen auch weitere Rücklagen gebildet werden können. Solche besonderen Rücklagen können - vergleichbar den Rückstellungen im kaufmännischen Bereich - die Funktion haben, zur Vermeidung von finanzpolitischen Diskontinuitäten und Verwerfungen Vorsorge zu treffen für besondere finanzielle Belastungen, deren Rechtsgrund im Haushaltsjahr gelegt worden ist, die aber erst zukünftig zu Ausgaben führen.

Das Urteil des Verfassungsgerichtshofs vom 12. Oktober 2010 hat eine solche Konstellation begründet. Es hat im Tenor festgestellt, dass § 1a Abs. 1 des Ersten Gesetzes zur Ausführung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes -AG-KJHG - vom 12. Dezember 1990 (Gv. NRW. S. 664) i. d. F. des Gesetzes zur Änderung des AG-KJHG vom 28. Oktober 2008 (Gv. NRW. S. 644) mit Art. 78 Abs. 3 der Landesverfassung NRW insoweit unvereinbar ist, als dabei nicht gleichzeitig Bestimmungen über die Deckung der Kosten getroffen worden sind, und sieht den Landesgesetzgeber von Verfassungswegen verpflichtet, alsbald eine den Anforderungen des Art. 78 Abs. 3 LV NRW gerecht werdende Regelung zu treffen; der Verfassungsgerichtshof hat dabei unter Verweis auf die Gesetzesbegründung zum KiföG dargelegt, dass auf die Länder der Ausgleich erheblicher konnexitätsrelevanter finanzieller Belastungen der Kommunen zukommt. Damit steht grundsätzlich fest, dass die Ausgaben, für die die Rücklage Vorsorge treffen will, auf das Land zukommen werden.

Was die in der Ergänzung zum Nachtragshaushalt 2010 vorgesehene Bemessung der Dotierung der Rücklage angeht, ist nicht ersichtlich, dass die Darlegung von Berechnungsgrundlagen (vgl. Frage 11) rechtlich unzureichend wäre. Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass die Landesregierung zur Vorlage eines Haushaltsplans verpflichtet ist, der hinreichend konkrete Angaben über Einnahmen und Ausgaben enthalten muss; der einzelne Abgeordnete hat ein Recht darauf, dass ihm grundsätzlich diejenigen Informationen nicht vorenthalten werden, die ihm eine sachverständige Beurteilung des Haushaltsplans ermöglichen.

Hieraus kann jedoch keine Verpflichtung zur Darlegung von detaillierten Berechungsgrundlagen für einzelne Ausgabenposten abgeleitet werden. Das gilt für einen Nachtragshaushalt mit nur wenigen Veranschlagungen ebenso wie für den Stammhaushalt, für den das evident ist. Hier ist insbesondere zu bedenken, dass Rücklagen gerade der Vorsorge für erst künftige Ausgaben dienen, deren Zeitpunkt und Höhe noch Ungewissheiten unterliegen kann. Vor diesem Hintergrund hat die Landesregierung mit dem Verweis auf das Urteil des Verfassungsgerichtshofs, das in seinen Gründen für die auf die Länder zukommenden Lasten bereits gewisse Größenordnungen genannt hat, den verfassungsrechtlichen Informationspflichten m.E. genügt.

Auch mit Blick auf die Grundsätze der Haushaltsklarheit und Haushaltswahrheit (vgl. Frage 10) bestehen m.E. keine rechtlichen Bedenken. Der Grundsatz der Haushaltsklarheit verlangt, den Haushaltsplan transparent und übersichtlich, nach einer nachvollziehbaren Haushaltssystematik zu gestalten; dass solchen formalen Anforderungen an die Gestaltung des Haushaltsplans in der Ergänzung zum Nachtragshaushalt nicht genügt wäre, ist nicht erkennbar. Nach dem Grundsatz der Haushaltswahrheit darf der Haushaltsplan, um einen möglichst bedarfsgerechten, realitätsgemäßen Haushalt abzubilden, nur Veranschlagungen enthalten, die sich nach vernünftiger Prognose realisieren werden. Auch diese inhaltliche Anforderung erscheint gewahrt, denn die mit der Ergänzung des Nachtragshaushalts beabsichtigte Zuführung an die Rücklage ist eine Ausgabe aus dem Haushalt 2010 und wird zu Recht als solche ausgewiesen. Dass die Rücklage ihrerseits, ihrer Funktion entsprechend, nicht für Zahlungen im Haushaltsjahr 2010, sondern erst für spätere Zahlungen zur Verfügung stehen muss, ist kein Problem der Haushaltswahrheit.

Die vorgesehene Zuführung von 370 Mio. Euro zu dieser besonderen Rücklage soll nach der Gesetzentwurfsbegründung Vgl. Drs. 15/600, S. 2 f. durch Einnahmen aus dem Länderfinanzausgleich sowie durch Bundesergänzungszuweisungen und unter gleichzeitiger Reduzierung der vorgesehenen Nettokreditaufnahme erfolgen. Dieser Umstand darf zwar für die rechtliche Bewertung nicht unbeachtet bleiben; er lässt allerdings noch nicht ohne Weiteres den Charakter einer kreditfinanzierien Rücklage entfallen (vgl. hierzu Frage 7). Wie der Verfassungsgerichtshof ausdrücklich festgestellt hat, ist hierfür nicht die sachliche Identität zwischen bestimmten eingenommenen und den der Rücklage zugeführten Mitteln entscheidend; grundsätzlich zureichend ist vielmehr, dass Kredite im Umfang der Rücklagendotierungen zur Haushaltsfinanzierung beigetragen haben. Das ist, auch wenn nach dem vorliegenden Entwurf die Nettokreditaufnahme auf 8,407 Mrd. Euro reduziert werden soll, mit Blick auf die vorgesehenen Zuführungen zu Sondervermögen und Sonderrücklagen der Fall. Was dann die Zulässigkeit der Kreditfinanzierung der hier fraglichen Rücklage angeht, sind die Vorgaben des Verfassungsgerichtshofs in seinem Urteil vom 2. September 2003 maßgeblich. Dort wird angenommen, dass eine Kreditaufnahme im Regelfall dem Wirtschaftlichkeitsgebot widerspricht, wenn ihr in dem Haushaltsjahr, auf das sie sich bezieht, kein entsprechender Ausgabenbedarf gegenübersteht; das soll auch für die haushaltsplanerische Bildung von Rücklagen aus Haushaltsüberschüssen bei gleichzeitiger Ermächtigung zur Kreditaufnahme gelten. Diese Rechtsprechung ist im wissenschaftlichen Schrifttum wohl überwiegend und teils deutlich kritisch aufgenommen worden, vor allem unter Hinweis darauf, dass die Rücklagenbildung keineswegs notwendig und unmittelbar zur Aufnahme zusätzlicher Kredite und damit zu zusätzlichen Zinsbelastungen führe.

Das spricht dafür, jedenfalls für solche Fallkonstellationen, in denen keine tatsächliche Kreditaufnahme erfolgt und keine zusätzliche Zinsbelastung entsteht, mit der Annahme eines dem Wirtschaftlichkeitsgebot widersprechenden Regelfalls zurückhaltend zu sein. Zudem spricht auch die ab 2020 strikt greifende grundgesetzliehe Schuldenbremse dafür, bereits feststehende Ausgabeverpflichtungen frühzeitig haushaltsmäßig zu berücksichtigen und durch Rücklagenbildung abzusichern, um Störungen des gebotenen Konsolidierungskurses durch später eintretende finanzielle Belastungen abzufedern. ME ist deshalb hier eine von dem Regelfall, wie ihn der Verfassungsgerichtshof angenommen hat, abweichende Beurteilung geboten.

Die Fragen 6 und 12 gelten der im Nachtragshaushalt 2010 vorgesehenen Bildung von Rücklagen einerseits, der dort vorgesehenen Nettokreditaufnahme andererseits, insbesondere auch vor dem Hintergrund der sog. Schuldenbremse gemäß Art. 109 Abs. 3 Art. 143d Abs. 1) GG.

Auch insoweit gilt im Ausgangspunkt, dass die Entscheidung über die Verwendung der - dank einer günstiger verlaufenen Entwicklung wieder angestiegenen - Einnahmen zur Rückführung der Nettokreditaufnahme bzw. zu Ausgaben in Gestalt von Zuführungen zu Sondervermögen und Rücklagen haushaltspolitisch zu treffen ist. Für diese haushaltspolitische Entscheidung ergeben sich rechtliche Rahmenbedingungen zum einen mit Blick auf die Zulässigkeit der kreditfinanzierten Rücklagenbildung; hierzu finden sich Beurteilungen bereits in der Stellungnahme vom 25. Oktober 2010 sowie vorstehend. Zum anderen muss der Haushaltsgesetzgeber die Vorgaben der Kreditobergrenze gemäß Art. 83 S. 2 LV beachten, was hier voraussetzt, dass die Überschreitung der investitionsabhängigen Obergrenze sich aus der Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts rechtfertigt. Zur rechtlichen Beurteilung der Annahme, dass ein solche Störung vorliegt, äußert sich bereits meine Stellungnahme vom 25. Oktober 2010. Dort ist auch ausgeführt, dass die aus Art. 83 S. 2 LV ableitbare Forderung, dass die zusätzliche Kreditaufnahme nach Umfang und Verwendung zur Störungsabwehr geeignet sein muss, nicht auf Einzelposten des Haushalts, sondern auf die zusätzlich finanzierten Aufwendungen insgesamt zu beziehen ist und dass dem Haushaltsgesetzgeber in Bezug auf die Eignung der erhöhten Kreditaufnahme zur Störungsabwehr ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zusteht. Mit Blick auf die Einhaltung dieses Einschätzungs- und Beurteilungsspielraums in der Ergänzung des Nachtragshaushalts ist zu beachten, dass die angestiegenen Einnahmen einerseits zur Deckung nicht etwa neu begründeter, sondern bereits dem Grunde nach feststehender, wenn auch zukünftiger Ausgabeverpflichtungen eingesetzt werden und andererseits zu einer nennenswerten Reduzierung der bis dahin vorgesehenen Nettokreditaufnahme. Der Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum ist daher gewahrt.

Die grundgesetzlich vorgesehene Schuldenbremse bestärkt diese Beurteilung. Sie liefert zwar für das Haushaltsjahr 2010 noch keine strikten und konkreten verfassungsrechtlichen Vorgaben, da sie für die Länder mit den in Art. 143d Abs. 1 S. 4 GG angeordneten Vorwirkungen erst für die Haushaltsjahre 2011 bis 2019 und strikt erst ab dem Haushaltsjahr 2020 greift. Dessen ungeachtet stützt und legitimiert die für die Jahre ab 2020 geltende Zielvorgabe eines grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten ausgeglichenen Landeshaushalts verfassungsrechtlich bereits jetzt eine Finanzplanung und Haushaltspolitik, insbesondere eine Verschuldenspolitik, die bei der (Kredit)Finanzierung anstehender Aufgaben im Sinne einer Konsolidierungsstrategie die Erreichung dieses Ziels im Zeitraum bis zum Jahr 2020 im Blick hat. Einer solchen Konsolidierungsstrategie erscheint es aber angemessen, bereits rechtlich begründete Aufgaben bzw. dem Grunde nach feststehende Ausgabeverpflichtungen, auch soweit sie erst zukünftige Zahlungspflichten nach sich ziehen, frühzeitig haushaltsmäßig auszuweisen und abzusichern.