Solidarische Gesundheitsversorgung erhalten - Bürgerversicherung einführen

Wie vielfach gezeigt und entsprechend lange bekannt, sind die seit den 1980er Jahren mehr oder weniger unverändert anhaltenden Beitragssatzsteigerungen in der GKV nicht auf eine Kostenexplosion zurückzuführen, sondern auf die strukturelle Einnahmeschwäche der GKV (vgl. aktuell und als Beispiel für viele Wille 2010; Reiners 2009). Die Ausgaben der GKV sind seit dem Übergang von der Ausbauphase des Wohlfahrtsstaats zu einer Ausgabendämpfungspolitik Ende der 1970er Jahre im wesentlichen parallel zum Bruttoinlandsprodukt gewachsen und schwanken relativ stabil bei einem Anteil von 6-7% (Rothgang et al. 20 IOa)/ während das beitragspflichtige Einkommen der GKV-Mitglieder deutlich hinter dieser Entwicklung zurückgeblieben ist. Eine Finanzierungsreform, die eine nachhaltige und stabile GKV-Finanzierung gewährleisten will, muss daher hier ansetzen und sicherstellen, dass die Einnahmebasis der GKV mit dem Sozialprodukt wächst.

Gleichzeitig verweist die aktuelle Diskussion vollkommen zu Recht auf Gerechtigkeitslücken in der bestehenden GKV-Finanzierung (Arnold 2006; Greß/Rothgang 2010). Dem eigenen Selbstverständnis nach ist die GKV dem Solidarprinzip verpflichtet, dass sich aus dem Zusammentreffen einer Finanzierung nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip und einer Leistungsgewährung nach dem Bedarfsprinzip ergibt. Das Leistungsfähigkeitsprinzip postuliert zum einen, dass Haushalte mit gleicher Leistungsfähigkeit, also gleichem Einkommen, gleich belastet werden (horizontale Gerechtigkeit) und zum anderen, dass Haushalte mit höherer Leistungsfähigkeit (höherem Einkommen) stärker belastet werden (vertikale Gerechtigkeit) (Wasem/Greß 2002). Die aktuelle GKV-Finanzierung setzt beides nur unvollständig um: Mit der Beitragsbemessungsgrenze wird das Prinzip der vertikalen Gerechtigkeit verletzt, da Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze nicht verbeitragt wird. Zudem können sich Besserverdiener der Umverteilung zugunsten einkommensschwächerer Haushalte entziehen, indem sie von der Gesetzlichen in die Private Krankenversicherung wechseln.

Das Prinzip der horizontalen Gerechtigkeit wird insbesondere dadurch verletzt, dass bei Pflichtversicherten nur die Arbeitseinkommen und die Lohnersatzeinkommen, nicht aber andere Einkommensarten wie Einkommen aus Vermietung und Verpachtung oder Einkommen aus Vermögen beitragspflichtig sind. Im Ergebnis werden Haushalte mit gleichem Einkommen daher in unterschiedlichem Ausmaß zur Beitragszahlung herangezogen. Zu einer ähnlichen Ungleichbehandlung führt die Beitragsbemessungsgrenze im Haushaltskontext. Liegt das Haushaltseinkommen insgesamt oberhalb der einfachen Beitragsbemessungsgrenze, unterscheidet sich das beitragspflichtige Einkommen - bei gleichem Haushaltseinkommen - danach, wie sich dies auf die beiden Ehepartner verteilt (Dräther/Rothgang 2004). Eine gerechte Finanzierungsreform sollte daher auch diese Ungerechtigkeiten soweit wie möglich beseitigen oder zumindest reduzieren.

Die Wiedervereinigung hat zu einem kleinen Sprung nach oben geführt, da das Bruttoinlandsprodukt in den neuen Ländern deutlich niedriger war und der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt in Ostdeutschland daher höher lag. Bereinigt um diesen Effekt ist der konstante Ausgabenanteil noch deutlicher erkennbar.

Universität Bremen

Das GKV-Finanzierungsgesetz hat allenfalls einen geringen Beitrag zur Lösung der angesprochenen Probleme geleistet, gleichzeitig neue Probleme aufgeworfen (Greß et al. 2010; vgl. auch DGGÖ 2010). Mit Ansätzen zur Ausgabenbegrenzung und einer beachtlichen Beitragssatzerhöhung folgt es ausgetretenen Pfaden. Diese Maßnahmen liefern keinen Beitrag zur nachhaltigen Strukturreform der GKV-Finanzierung. Als zentrales neues Element kann dagegen die geplante Ausweitung des Zusatzbeitrags zu einer kleinen Kopfprämie mit steuerfinanziertem Sozialausgleich, der den individuellen Zusatzbeitrag auf 2 % der beitragpflichtigen Einnahmen begrenzen soll, angesehen werden. Allerdings wird damit weder der in die Sozialversicherung einbezogene Personenkreis erweitert, noch wird die Finanzierungsbasis nachhaltig ausgeweitet, da andere Einkommensarten lediglich für den Zusatzbeitrag relevant werden. Die Problematik der horizontalen Gerechtigkeit bleibt damit weitestgehend unberührt und hinsichtlich der vertikalen Gerechtigkeit führt die Neuregelung zu einer Verschlechterung im Vergleich zum Status quo: Bei einem für 2014 erwartetem durchschnittlichen Zusatzbeitrag von 16 etwa wären nur die Bezieher von Bruttoeinkommen bis zu 800 in den Solidarausgleich einbezogen. Für alle anderen gilt der pauschale Zusatzbeitrag unabhängig von der Einkommenshöhe (Greß et al. 2010). Damit wird die bisher bis zur Beitragsbemessungsgrenze einkommensproportionale Beitragsbelastung, in einen regressiven Tarif überführt. Der pauschale Zusatzbeitrag führt so im Vergleich zum Status quo zu einer inversen Umverteilung von unten nach oben.

11. Reformalternative Bürgerversicherung

Eine Option, die horizontale und vertikale Gerechtigkeit der GKV-Finanzierung im o. g. Sinne zu verbessern und zugleich die Nachhaltigkeit der Finanzierung zu fördern, besteht im Konzept der Bürgerversicherung, die in verschiedenen Varianten seit Beginn dieser Dekade vorgeschlagen und diskutiert wird (vgl. z. B. Nachhaltigkeitskommission 2003; Engelen-Kefer 2004; 2005; Spies 2006).

Im Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion Bündnis 90 / Die Grünen des Landtags Nordrhein-Westfalen (Drucksache 15/854) wird eine solche Bürgerversicherung gefordert. Das Konzept der Bürgerversicherung will den genannten Schwächen des derzeitigen Systems entgegentreten durch

1. eine Ausweitung des versicherungs- und beitragspflichtigen Personenkreises in die GKV auf die gesamte Bevölkerung,

2. eine Verbeitragung auch anderer Einkommen und Einkommensarten,

3. ein Beitragssplitting bei Ehepaaren und eingetragenen Lebensgemeinschaften, wenn das Einkommen eines Partners die Beitragsbemessungsgrenze übersteigt.

Im Änderungsvorschlag der Fraktion DIE LINKEN wird zudem die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze auf die Höhe der Bemessungsgrenze in der Rentenversicherung (5.500 Euro / Monat) bzw. perspektivisch die Aufhebung der Beitragsbemessungsgrenze gefordert.