Gegen Wahlbereiche spricht eine gewisse Willkür jeder Wahlkreiseinteilung

Gibt es Argumente, die gegen das im Antrag favorisierte niedersächsische Modell sprechen (z.B. die Einteilung in Wahlbereiche)? Inwiefern ist dieses Modell besser als Modelle aus anderen Bundesländern?

Gegen Wahlbereiche spricht eine gewisse Willkür jeder Wahlkreiseinteilung. Kandidaten, die man unterstützen möchte, wohnen nicht unbedingt im eigenen Wahlkreis. Die Nachteile werden aber durch die Größe der Wahlbereiche wieder relativiert.

Für eine Einteilung in Wahlbereiche spricht, dass dadurch die Zahl der Gewählten und die Zahl der Kandidaten in ein ausgewogenes Verhältnis zueinander gesetzt werden.

Problematisch ist ein zu kleiner Wahlbereich, wenn dort eine Liste antritt, die nur mit wenigen Sitzen rechnen kann oder gar so wenigen, dass nur Sitze in anderen Wahlbereichen gestützt werden.

Problematisch ist es auch, wenn viele Kandidaten um wenige Sitze konkurrieren, weil dann der letzte gewählte Kandidat der Liste nur noch wenige Stimmen erhalten hat. Wenn sich die Stimmen gleichmäßig unter vielen Kandidaten verteilen, kann ein polarisierender Kandidat auch mit verhältnismäßig wenigen Stimmen gewinnen oder ein nicht wie Stimmzetteldesign den Sitz bestimmen (Wie zum Beispiel bei der Hamburgischen Bürgerschaftswahl der Listenplatz 31, der in einem Stimmzettelheft oben rechts auf einer eigenen Seite stand. Alle Kandidaten mit Listenplatz 31 wurden in die Bürgerschaft gewählt).

Ein weiteres Problem ist, dass eine Partei eher zu viele Kandidaten aufstellt und so ein Kandidat schon mit relativ wenigen Stimmen gewählt sein kann.

Ein Listenkreuz, also die Möglichkeit statt der einer Person die Partei als Ganzes zu wählen, das das Personenwahlelement wieder abschwächt, führt dieses ad absurdum. Gerade die Verrechnungsreihenfolge in Niedersachsen reduziert die Zahl der über Personenstimme Gewählten in einem Maße, welches den ganzen Aufwand der Personenwahl sinnlos erscheinen läßt.

Für die Wertung eines Listenkreuzes sind folgende Varianten denkbar (Reihenfolge mit Stärkung der Liste und Schwächung des Personenwahlelements).

1. Ignorieren der Personenstimmen

2. Sitze an Personenliste, dann an starre Liste per Listenreihung (wie Niedersachsen)

3. Sitze zuerst per Listenreihenfolge, dann an Personenliste (wie in Bremen).

4. Reihenfolge an Personen nach Zahl der Personenstimmen (Personenliste)

Die Modelle von Niedersachsen und Bremen unterscheiden sich darin, ob doppelt gewählte Kandidaten zuerst einer imaginären Personenliste oder Listenliste zugeordnet werden.

Im Anhang (aus Berechnung von M. Cantow in: Verfassungsausschuss der Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg, Ausschussprotokoll 18/34 vom 19. Juni 2007 (Anhörung), S. 74­106.) findet sich eine Vergleichsrechnung zu den verschieden Berechnungsreihenfolgen, siehe auch http://www.wahlrecht.de/doku/download/2007-wahlrecht-de-va-hamburg.htm (Hannover) http://www.wahlrecht.de/landtage/hamburg/mandatsrelevanz-2008.html (Hamburg) Mandatsrelevanz: Ergebnis von Vergleichsrechnungen Hannover 2007 / Hamburg 2008

Angegeben ist jeweils die Anzahl der mandatsrelevanten Änderungen zur reinen Verteilung in der Listenreihenfolge.

Stadtratswahlen in Hannover, 10. September 2006 (anl. Berechnungen von M. Cantow) Reihenfolge Niedersachsen 3

Reihenfolge Bremen 6

Reihenfolge Pers.Stimmen 13

Bürgerschaftswahl Hamburg, 24. Februar 2008, Stimmen und Sitze in den Wahlkreisen Reihenfolge Niedersachsen 3

Reihenfolge Bremen 12

Reihenfolge Pers.Stimmen 18

Denkbar wären hier auch eine Relevanzschwelle (Mindeststimmenanteil eines Kandidaten für Personenwahl) oder dass Listenstimmen so optimal an die vorderen Kandidaten einer Liste verteilt werden, dass deren Gewähltenanteil maximal wird. Wegen der massiven Schwächung des Personenwahlelements sollte man aber auch von solchen Ansätzen absehen.

Es führt auch zu Paradoxien, wenn Kandidaten gleichzeitig auf Listen- oder auf Personenstimmen angewiesen sein können.

Beispiel: Eine Liste mit zwei Kandidaten erhalte einen Sitz. Die Stimmverteilung sei Liste: 51 Stimmen (Kandidat 1 gewählt als über Listenreihenfolge) Kandidat 1: 20 Stimmen Kandidat 2: 30 Stimmen

In diesem Fall wäre Kandidat 1 über Listenreihenfolge gewählt, weil es mehr Listenstimmen als Kandidatenstimmen gibt. Wenn Kandidat 1 aber mehr Personenstimmen ­ zulasten der Listenstimmen ­ erhalten würde, wäre Kandidat 2 gewählt. Da Ursache die zusätzlichen Personenstimmen wären, ist dies eine Art negatives Stimmgewicht auf Personenebene.

Liste: 50 Stimmen Kandidat 1: 21 Stimmen Kandidat 2: 30 Stimmen (Kandidat 2 gewählt durch Personenstimmen)

Für Kandidat 1 gibt es keine einheitliche Unterstützungsstrategie. Der Wähler steht vor dem Dilemma Unterstützung der Personenwahl oder Listenreihenfolge.

Statt des Berechnungsverfahren Hare/Niemeyer sollte man beim Divisorverfahren mit Standardrundung (Sainte-Laguë) bleiben. Dies gilt besonders bei einer zweistufigen Zuteilung (Oberverteilung an Listenverbindung, Unterverteilung an Einzellisten), bei der das zu einem negativen Stimmgewicht (auf Ebene der Unterliste) führen kann.

Kann mit dem in einigen Ländern praktizierten 3-Stimmen-Modell eine adäquate Umsetzung der Grundidee ermöglicht werden?

Die Grundidee der Personalisierung kann sogar mit nur einer Stimme umgesetzt werden.

Weniger ist hier mehr, mehr Stimmen bedeutet nicht unbedingt mehr Demokratie.

Strategisch ist das Verfahren verwandt mit dem Prinzip einer parteiinternen Mehrheitswahl.

Was spricht für das Modell, bei dem die Anzahl der Stimmen der Anzahl der zu vergebenen Sitze entspricht?

Beim in den süddeutschen Ländern üblichen Viele-Stimmen-Modell ist der Wähler gezwungen sehr viele Kandidaten (mind. 1/3 der Ratsgröße) zu wählen, wobei ein Kandidat nur einen Bruchteil des Stimmgewichts eines Wählers erhalten kann.

Der Wähler wird dadurch mit großer Wahrscheinlichkeit einen oder mehrere von ihm gewählte Vertreter im Rat vorfinden. Dies ist aber mehr ein Zufriedenheitsargument, das im Widerspruch zum echten Einfluß durch die Wahl steht. Wer alle Kandidaten gleichermaßen wählt, verzichtet auf jeglichen Einfluß auf die Personenwahl. Das System begünstigt damit in größerem Maße sich vor einer echten Entscheidung zu drücken.

Das Modell ist strategisch verwandt mit dem Prinzip einer Zustimmungswahl innerhalb einer Partei, bei der ein Wähler eine positive oder negative Präferenz zu jedem Kandidaten abgibt.

Ein Nachteil der Möglichkeit den Stimmzettel sehr individuell auszufüllen besteht auch in Bezug auf das Wahlgeheimnis.

Gibt es Gründe, die in Baden-Württemberg praktizierte unechte Teilortswahl einzuführen?

Die unechte Teilortswahl ist bedenklich, weil die Kandidaten des Teilortes im Wesentlichen nicht von den Wählern dort, sondern von denen im Hauptort gewählt und bestimmt werden.

Eine Wahl in Wahlbereichen (=Teilort) und die Möglichkeit per Personenwahlelement Kandidaten aus der Nachbarschaft zu wählen erfüllt das Ziel der lokalen Vertretung der Wähler besser.

Falls die Wähler diese Möglichkeiten nicht nutzen, spricht dies dagegen, dass dies ­ 35 Jahre nach Ende der Gebietsreform in Nordrhein-Westfalen ­ noch ein Kriterium ist.

4. Welche grundlegenden Alternativen gäbe es und wie bewerten Sie diese?

Übertragbare Stimme (Singletransferable-vote system, STV)

Das übertragbare Stimmgebungsverfahren beseitigt die strategischen Dilemmata der Stimmabgaben (Wer braucht eine Stimme wirklich) und reduziert die verlorenen Stimmen, die sowohl durch zu viele als auch zu wenige Stimmen an Kandidaten entstehen. Der Wähler muß nur seine Kandidaten nach Präferenz ordnen. Das Verfahren ist proportional in Bezug auf alle für den Wähler relevanten Eigenschaften, eine explizite Parteienwahl ist nicht notwendig. Das Wahlverfahren sollte für Wähler in Deutschland in gleicher Weise wie in Irland oder Malta beherrschbar sein und sich genauso umsetzen lassen.

Die Auszählung wird allerdings aufwändiger und auch die Transparenz der Auszählung leidet, wenn diese nur noch zentral durchgeführt werden kann.

Das Problem der geheimen Wahl durch identifizierbar individuelle Stimmabgaben wird bei einer sich hier noch mehr aufdrängenden elektronischen Erfassung der Stimmzettel noch größer. Auch die Transparenz der Auszählung leidet wegen der längeren Auszähldauer, der Lagerung und dem nötigen Transport der Stimmzettel zur zentralen Auszählung. Einfach anwendbar und sinnvoll wäre STV im übrigen bei Bürgermeisterwahlen, weil damit eine Stichwahl ohne eigenen Wahlgang möglich ist.