Arbeitsmarktpolitik

Was darunter zu verstehen ist und welche Anforderungen fur eine verhaltenssensible Arbeitsmarktpolitik folgen, das möchte ich jetzt erläutern.

Meine erste These lautet: Den Menschen in den Mittelpunkt stellen heißt zunächst, die begrenzte Rationalität menschlichen Verhaltens anzuerkennen.

Was bedeutet das im Einzelnen? Wir maximieren, wenn überhaupt, nicht ökonomischen sondern sozialen Nutzen. Der soziale Status kümmert uns mehr als der ökonomische. Wir erstreben vor allem die Anerkennung der Kollegen, Nachbarn und Freunde, und wir wollen in Auseinandersetzungen unser Gesicht bewahren. Das schließt freilich nicht aus, dass das Streben nach ökonomischem Reichtum zur Ersatzdroge fur sozialen Reichtum degeneriert. Wenn uns fuhrende Vertreter der Finanzwelt (Praktiker wie Wissenschaftler) suggerieren, 25 Prozent Rendite seien ein realistisches Ziel von Geldanlagen, dann brauchen wir uns nicht zu wundem, wenn Abzocken zum legitimen Gesellschaftssport wird. Es ist ja auch nicht zufällig, dass heutzutage nicht mehr Skat oder Bridge, sondern Pokern als Gesellschaftsspiel dominiert.

Wir maximieren auch nicht den Nutzen, sondern geben uns in der Regel mit guten Resultaten zufrieden. Gründe dafur sind die Knappheit der Ressource Information und die hohen Kosten ihrer Beschaffung. Deshalb lassen wir uns bei vielen unserer Entscheidungen von einmal gesetzten Prioritäten leiten, ohne weiter darüber nachzudenken. Beispielsweise Berufvor Familie, Qualität vor Preis, Sicherheit vor Risiko, vielleicht auch Bottrop vor Berlin. Im Vordergrund steht also nicht der kalkulierte Ausgleich von Risiken, sondern die Verhinderung des schlechtesten Ausgangs, des so genannten,warst case . Darum stoppen wir auch die weitere Suche nach Informationen, wenn ein gewisses Aspirationsniveau erreicht ist. Stattdessen verwenden wir vereinfachende Heuristiken. Diese liefern zwar oft bessere Resultate als langwierige Abwägungen, können aber auch zu systematischen Fehlschlüssen fuhren.

Zum Beispiel die Induktions/alle: Aus einzelnen Beobachtungen schließen wir gerne auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten. Wer nie einen schwarzen Schwan gesehen hat, fur den sind alle Schwäne weiß. Im Frühjahr wanderte ich in Tasmanien und habe dort nur schwarze Schwäne gesehen. Im Extremfall fuhrt die Induktionsfalle zur völligen Realitätsverzerrung. Ich erinnere an meine Wenn Sie meinen, das passiert selten, dann empfehle ich Ihnen die Lektüre des Buchs von Dan Ariely mit dem anzüglichen Titel: Denken hilft zwar, nützt aber nichts - Warum wir immer wieder unvernünftige Entscheidungen treffen.

Gravierender sind die Folgen der Induktionsfalle, wenn die statistischen Wahrscheinlichkeiten mit dem Siegel höchster Wissenschaftlichkeit versehen werden. Für die Modelle der Finanzjongleure, die die letzte Krise mit verursacht haben, gab es sogar Nobelpreise. Und ich muss gestehen, dass ich die hochgestochenen Modelle der heutigen Evaluationsforschung in der Arbeitsmarktpolitik zunehmend mit gemischten Gefühlen betrachte. Ohne Berücksichtigung des Systemzusammenhangs können statistische Wahrscheinlichkeiten zu völlig falschen, ja tödlichen Schlüssen führen. Wir verhalten uns oft wie Gänse, die glücklich und sorglos dahinleben, weil bisher alles glatt gelaufen ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass das so weiter geht, ist aus der Sicht der Gänse 99 Prozent. Mit dem letzten Prozent rechnen sie nicht, bis sie an Weihnachten geschlachtet werden.

Wir tappen auch oft in die Koinzidenzfalle, d.h., treffen zwei Ereignisse oder Erfahrungen zusammen, schließen wir leicht. Das Beispiel Störche und Geburten kennen wir alle. Aber auch meine eigene Zunft fällt da herein: Vor einem Jahrzehnt vermutete ein prominenter Sozialwissenschaftier, die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland liege an der hohen Erwerbsquote ostdeutscher Frauen. Auch die derzeitige Hoffnung der Regierung, die Arbeitslosigkeit werde schon allein deswegen sinken, weil weniger Jugendliche auf dem Arbeitsmarkt kommen, ist ein solcher Trugschluss. Die derzeit massive Kürzung der Arbeitsmarktausgaben steht schon aus diesem Grund auftönernen Füssen.

Ein weiteres Beispiel ist die Verfügbarkeitsfalle: Wir neigen dazu, leicht verfügbare Informationen höher zu bewerten als schwer verfügbare. Und je präsenter die Erinnerung an ein Ereignis ist, desto stärker beeinflusst dieses unsere Entscheidung. Ein aktuelles Beispiel: Die gefühlte Inflation ist derzeit weit höher als die tatsächliche. Während die Waren im täglichen Warenkorb wie Speiseöl, Benzin, Kaffee und Strom teurer werden, sinken Preise für Produkte, die nur selten gekauft werden wie Fernsehgeräte, Notebooks oder Digitalkameras; und wir sind uns dabei kaum bewusst, dass wir mit dieser Inflationserwartung die Inflation weiter schüren, anstatt die wahren Inflationstreiber ins Auge zu fassen, nämlich die Monopole, Kartelle und Spekulanten an den Warenterminbörsen.

Die Verankerungsfalle verführt uns schließlich, eine zufällig beigefügte Information oder ein gerade vorausgegangenes Ereignis als Anker für Entscheidungen bei Ungewissheit zu nehmen. Fragen Sie zu Hause oder unter Freunden: Wie viele Einwohner hat die Türkei? Sie werden entdecken, dass die Schätzungen weit auseinander gehen und im Schnitt geringer sind als wenn Sie fragen: Hat die Türkei mehr als 70 Millionen Einwohner? Im zweiten Fall werfen Sie den Anker von 70 Millionen und schließen aus, die Einwohnerzahl könnte (weit) darunter liegen. Die Verankerungsfalle empfiehlt Ihnen auch, für Rotwein spezielle Gläser hinzustellen, wenn Sie Gäste zu Hause erwarten. Das verbessert zwar nachweislich nicht die Qualität des Weines, aber löst im präfrontalen Kortex des Gehirns ihrer Gäste Glückshormone aus, wie Verhaltensforscher mit Hilfe funktioneller Magnetresonanztomographie bewiesen haben. Dass diese Ankerpsychologie von der Werbung gnadenlos ausgenutzt wird, brauche ich nicht weiter auszuführen. Die Arbeitsverwaltung hat hier vielleicht noch Nachholbedarf.

Zur Verankerung gehört auch das asymmetrische Suchverhalten. Die meisten Menschen tendieren dazu, nur Informationen zu suchen oder zur Kenntnis zu nehmen, die ihre getroffenen Entscheidungen, Präferenzen oder Prioritäten bestätigen. Der Verhaltenspsychologe Dietrich Dömer spricht daher von einer progressiven Konditionalisierung, d.h., wir immunisieren uns gegen widersprechende Evidenz, um an unseren geliebten Annahmen festhalten zu können.

Erfolgserlebnisse können ebenfalls als Anker dienen. Deshalb spricht man vom Fluch des Erfolges . Ein aktuelles arbeitsmarktpolitisches Beispiel sehe ich in der Kurzarbeit. Diese hat zwar maßgeblich dazu beigetragen, die Wirtschaftskrise ohne Massenarbeitslosigkeit zu bewältigen. Doch noch im Abklingen der Krise Ende 2010 hat die Regierung die Sonderregelungen bis 2012 verlängert, obwohl im Aufschwung ganz andere Schwerpunkte zu setzen wären, nämlich nicht der Schutz der Beschäftigung, sondern die Förderung von Neueinstellungen, vor allem von Langzeitarbeitslosen und Jugendlichen.

Auch Emotionen oder Gefühle können uns einen Streich gegen rationale Entscheidungen spielen. So spielt es eine Rolle, in welcher Rahmung uns Entscheidungen abverlangt werden. Wir entscheiden anders, je nachdem, ob uns diese Rahmung Gewinne oder Verluste verspricht, auch wenn beide objektiv gleich hoch sind. Unsere Psyche bewertet erwartete Verluste mindestens doppelt so hoch wie erwartete Gewinne. In einer repräsentativen Befragung zur Entscheidung zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit akzeptierten beispielsweise die meisten Leute mehr Inflation, wenn sie gefragt wurden: Wie viel Inflation nehmen Sie in Kauf, um die Arbeitslosigkeit von 10 auf 5 Prozent zu halbieren? Wurde sie aber gefragt: Wie viel Inflation nehmen Sie in Kauf, um die Beschäftigung von 90 auf 95 Prozent zu erhöhen?, dann riskierten sie weniger Inflation. Im ersten Fall wird der Gewinn, also die Halbierung der Arbeitslosigkeit in den Vordergrund gerückt, im zweiten Fall die Preissteigerung, also der Verlust gegenüber einer nur fünfprozentigen Beschäftigungssteigerung.

Wir sind auch Opfer der Selbstüberschätzung, d.h. des überzogenen Selbstvertrauens. Wir schätzen uns meist besser ein als der Durchschnitt. Obwohl rein logisch nur 49,9 Prozent der Autofahrer überdurchschnittlich gut fahren, hält sich die deutliche Mehrheit, insbesondere die männliche Seite, für die besseren Autofahrer. Paradoxerweise floriert Selbstüberschätzung vor allem in der Wissenschaft. 94 Prozent der Professoren an großen Universitäten halten sich für besser als der Durchschnitt.

Selbstüberschätzung spielt aber auch auf dem Arbeitsmarkt eine wenig beachtete Rolle.