Koedukation an bayerischen Schulen

Presseberichten ist zu entnehmen, dass Mädchen durch koedukativen Unterricht benachteiligt werden.

Wir fragen deshalb die Staatsregierung:

1. Liegen der Staatsregierung Erkenntnisse darüber vor, ob Mädchen an koedukativen Schulen benachteiligt sind, z.B. durch die Auswahl von Unterrichtsinhalten, durch unterschiedliche Beachtung von Buben und Mädchen durch die Lehrkräfte (z.B. unterschiedliche Verteilung von Lob und Tadel), durch eine an Jungen orientierte Methodik und Didaktik?

2. Wie sieht die Wahl der Ausbildungsrichtungen in den Realschulen (Wahl der Wahlpflichtfächergruppen) in den Schuljahren 1991/92,1992/93,1993/94 und 1994/95 und die Leistungskurswahl der Abiturienten der Jahrgänge 1992, 1993, 1994 und 1995 aus. Bitte schlüsseln Sie nach Mädchen und Jungen bzw. nach männlichen und weiblichen Abiturienten auf?

3. Wie viele Schüler besuchten in den Schuljahren 1991/92, 1992/93, 1993/94 und 1994/95 welche Schularten. Bitte schlüsseln Sie nach männlichen und weiblichen Schülern, nach staatlichen, kommunalen und privaten Schulen und nach Schulzweigen (humanistisch, neusprachlich, mathematisch-naturwissenschaftlich, musisch, wirtschaftswissenschaftlich, sozialwissenschaftlich) auf?

4. An welchen koedukativen Schulen in Bayern wird der Unterricht in den mathematisch-naturwissenschaftlichtechnischen Fächern ganz oder teilweise nach Buben und Mädchen getrennt unterrichtet? Bitte mit Angabe von Schulfach, Regierungsbezirk und Landkreis.

5. Welche Schulen in Bayern sind reine Mädchenschulen?

Bitte mit Angabe von Regierungsbezirk, Landkreis und ob es sich um staatliche, kommunale oder private Schulen handelt. Bitte nennen Sie bei den privaten Schulen den Träger.

6. Gibt es Untersuchungen darüber, wie die Wahl der Studienfächer bzw. die Berufswahl von Mädchen aussieht, die in einer koedukativen Schule, in einer reinen Mädchenschule bzw. in ganz oder teilweise nach Geschlechtern getrenntem Unterricht unterrichtet werden, wenn ja, welche Ergebnisse zeigen diese Untersuchungen?

7. Welche wissenschaftlichen Projekte wurden oder werden an welchen Hochschulen Bayerns durch welche Professorinnen oder Professoren zur Erforschung der Konsequenzen der Koedukation insgesamt und der Benachteiligung von Mädchen im besonderen durchgeführt und welche schulpraktischen Konsequenzen wurden bzw. werden daraus gezogen?

Antwort des Staatsministeriums für Unterricht, Kultus, Wissenschaft und Kunst

Die gegenseitige Achtung von Jungen und Mädchen als gleichwertige und gleichberechtigte Partner gehört zu den übergreifenden Erziehungsanliegen der Schule. Wie etwa zur Umwelterziehung, zur Erziehung zum europäischen Bewußtsein oder zur Interkulturellen Erziehung hat das Staatsministerium auch zu dieser Thematik Konzepte entwickelt, die sich in pädagogischen Richtlinien und in der Gestaltung der Lehrpläne niederschlagen und deren Verwirklichung durch besondere Materialien und Fortbildungsveranstaltungen unterstützt wird (vgl. Anlage 1).

Zu 1.: Aufgrund der in den letzten Jahren entstandenen Diskussion um die Benachteiligung von Mädchen an koedukativen Schulen hat das Staatsministerium einen Arbeitskreis am Staatsinstitut für Schulpädagogik und Bildungsforschung damit beauftragt, diesbezügliche Forschungsergebnisse zusammenzutragen und gegebenenfalls Folgerungen für die Schule zu entwickeln. In diesem Zusammenhang hat das ISB eine begleitende Erhebung an Hauptschulen, Realschulen und Gymnasien durchgeführt, in der es um die Beteiligung von Schülerinnen und Schülern an freiwilligen Aktivitäten (Arbeitsgemeinschaften, Schüleraustausch, Wahlfächer u.a.) ging.

Aufgrund dieser Untersuchung und im Blick auf den aktuellen Forschungsstand können folgende Ergebnisse mitgeteilt werden:

In der mit dem Ziel der Chancengleichheit eingeführten koedukativen Schule befinden sich Jungen und Mädchen bewußt oder unbewußt in einer ständigen Vergleichssituation, die in manchen ­ keineswegs in allen Fällen ­ zur Betonung der Unterschiede in den Geschlechtsrollenentwürfen führen kann. Dies betrifft die Persönlichkeitsentwicklung sowie die Lernmotivation und Fachorientierung gleichermaßen. Ob

Von einem Abdruck wurde Abstand genommen. dabei aber von einer Benachteiligung der Mädchen gesprochen werden kann, scheint zumindest fraglich. Die Schulleistungen der Mädchen stehen denen der Jungen jedenfalls in keiner Weise nach, bei Abschlußprüfungen erzielen sie sogar eher die besseren Noten.

Noch schwieriger sind allgemeingültige Aussagen hinsichtlich der Persönlichkeitsentwicklung. Hier spielen vielfältige Faktoren in ihrem komplexen Zusammenwirken eine Rolle.

Für den Geschlechtsrollenentwurf des einzelnen sind die früheren Erfahrungen im familiären Umfeld von großer Bedeutung. Traditionelle Denk- und Verhaltensmuster sind vielfach noch tief verankert und geraten unterschwellig in Konflikt mit den rational entworfenen progressiven Lebensprogrammen vor allem der Mädchen.

Nach dem derzeitigen Stand der Diskussion um die Koedukation kann nicht generell davon gesprochen werden, daß Mädchen im Unterricht weniger beachtet werden und Lehrkräfte ungewollt eine Dominanz der Jungen verstärken. Zu beobachten sind aber immer wieder geschlechtsspezifische Lerninteressen bzw. desinteressen sowohl bei Mädchen als auch bei Jungen, die durch koedukativen Unterricht möglicherweise verstärkt werden: Mädchen haben eine gewisse Distanz zu naturwissenschaftlichen, Jungen zu sprachlichen und musischen Fächern.

Der Arbeitskreis am ISB wird in einer schulartübergreifenden Handreichung den aktuellen Stand der Diskussion in den verschiedenen Fächern unter dem Aspekt geschlechtsspezifische Lerninteressen zusammenfassend darstellen und methodisch-didaktische Anregungen für die tägliche Unterrichtsgestaltung sowie für die zweite Phase der Lehrerausbildung und für die Lehrerfortbildung bereitstellen.

Zu 2.: Entsprechende Tabellen sind in Anlage 2zusammengestellt.

Die Zahlen zur Wahl der Ausbildungsrichtungen in den Realschulen werden im Rahmen der amtlichen Schulstatistik zusammengestellt. Sie betreffen die Schuljahre 1991/92 bis 1993/94. Die entsprechenden Zahlen für das Schuljahr 94/95 liegen derzeit noch nicht vor. Das Datenmaterial zur geschlechtsspezifischen Aufschlüsselung der Leistungskurswahl erfolgt im Rahmen der Erfassung der Abiturergebnisse.

Auch dieses Material bezieht sich auf den Vergleichszeitraum 1992­94. Die Daten für die Abiturienten des Schuljahres 1994/95 liegen noch nicht vor.

Zu 3.: Die einschlägigen Tabellen sind der Anlage 3zu entnehmen. Sie entstammen dem Datenmaterial der amtlichen Schulstatistik.

Zu 4.: Es gibt keine systematischen Versuche an koedukativen Gymnasien oder Realschulen in Bayern, den Unterricht in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern ganz oder nur teilweise nach Buben und Mädchen zu trennen. An einzelnen Gymnasien und Realschulen wird eine solche Trennung jedoch durchgeführt, um Erfahrungen mit differenzierter Koedukation zu sammeln.

Dem Staatsministerium sind folgende Schulen bekannt: Gymnasien:

­ Veit-Höser-Gymnasium, Bogen (Landkreis Niederbayern): differenzierte Koedukation im Anfangsunterricht Physik (Jahrgangsstufe 8),

­ Städtisches St.-Anna-Gymnasium, München: differenzierte Koedukation in den Fächern Mathematik, Physik, Chemie und Informatik. An dieser Schule, ein ehemaliges Mädchen-Gymnasium mit immer noch hohem Mädchenanteil, gibt es auch zahlreiche andere Aktivitäten rund um das Thema Koedukation,

­ Städtisches Theodolinden-Gymnasium, München: differenzierte Koedukation im Anfangsunterricht Mathematik,

­ Theodor-Heuss-Gymnasium, Nördlingen (Landkreis Donauries, Schwaben): differenzierte Koedukation in den Fächern Musik und Kunst (Jahrgangsstufe 5 und 6 mit dem Ziel, die Mädchen beim Werken starker zu fördern und bei den Jungen Hemmschwellen beim Chorsingen abzubauen) sowie im Wahlunterricht Informatik,

­ Gymnasium Olching, Regierungsbezirk Oberbayern: Durchführung eines Projekts Physik am Auto ­ nur für Mädchen,

­ Friedrich-König-Gymnasium, Würzburg (Regierungsbezirk Unterfranken): ab Schuljahr 95/96 Koppelung der Fächer Physik und Sport in der 8. Jahrgangsstufe, damit das Fach Physik getrennt nach Buben und Mädchen unterrichtet werden kann.

Realschulen:

Das Schulreferat der Stadt München berichtet von vier Städtischen Realschulen, in denen Versuche mit differenzierter Koedukation in den naturwissenschaftlichen Fächern stattfinden werden:

­ Städtische Erich-Kästner-Realschule

­ Städtische Arthur-Kutscher-Realschule

­ Städtische Helen-Keller-Realschule

­ Wilhelm-Röntgen-Realschule

Die differenzierte Koedukation an den genannten Schulen findet nicht regelmäßig statt. Sie hängt ab von der Zustimmung der Beteiligten, von der Personalausstattung der Schulen und von stundenplantechnischen Zwängen.

Zu 5.: Die nach Schularten differenzierte Übersicht ist Anlage 4 zu entnehmen.

Von einem Abdruck wurde Abstand genommen.

Zu 6.: Dem Staatsministerium ist keine breit angelegte, systematische Studie bekannt, die einen eindeutigen Zusammenhang zwischen koedukativer bzw. nichtkoedukativer Schulorganisation und dem späteren Berufswahlverhalten aufzeigt. Es waren kleinere Regionalstudien, die noch in den 80er Jahren die Bildungsverläufe von Studentinnen naturwissenschaftlicher Fächer retrospektiv untersuchten und zu der Vermutung führten, dass es Absolventinnen von Mädchenschulen leichter falle, sich für einen technisch-naturwissenschaftlichen Studiengang zu entscheiden. In neueren Untersuchungen wird jedoch auf die hohe Eingangsselektivität nichtkoedukativer Schulen verwiesen, die weitergehende Schlußfolgerungen nicht zuließe (vgl. z. B. Baumert, Jürgen, Koedukation unter Geschlechtertrennung; Zeitschrift für Pädagogik, Jahrgangsstufe 992, Nr. 1).

Zu 7.: An bayerischen Hochschulen gibt es zur Zeit kein Projekt, das sich mit Konsequenzen der Koedukation befaßt.

An der Universität Eichstätt, Fachbereich Geographie, gibt es zur Zeit eine groß angelegte Untersuchung zum Interesse von Jungen und Mädchen am Erdkundeunterricht (schulartübergreifend); die fachdidaktische Untersuchung wird von Frau Prof. Dr. Hemmer durchgeführt, die auch Mitglied des Arbeitskreises am ISB ist; die Ergebnisse, wie sie sich schon jetzt in einer Pilotstudie abzeichnen, können in einem kleinen Teilbereich mithelfen, die Koedukation in der Schule reflektierter zu gestalten.

An der Universität München, Institut für Pädagogische Psychologie, beginnt derzeit ein Projekt Mädchen und Physik im Rahmen eines größeren Forschungsvorhabens zum Thema Wissen und Handeln. Es wird dabei von der Annahme ausgegangen, dass das Wissen einer Person über sich selbst, also die Selbsteinschätzung, das Handeln maßgeblich beeinflußt.

Der Arbeitskreis des ISB steht in einem regen Erfahrungsaustausch mit Frau Dr. Marianne Horstkemper, Universität Koblenz, die den BLK-Modellversuch Jungen und Mädchen in der Schule, der im Land Rheinland-Pfalz durchgeführt wird, wissenschaftlich begleitet. Bei der Auswertung der Dimension Befürwortung von Gleichheit der Geschlechter einer Erhebung an den beteiligten Schulen gab es folgendes Zwischenergebnis: ... Bei den Mädchen votieren die Schülerinnen aus koedukativen Schulen deutlich klarer in Richtung Gleichheit, während die Mädchenschülerinnen zum weitaus größeren Teil im mittleren Bereich liegen. Dieses Ergebnis stützt keineswegs die Hoffnung auf einen emanzipativen Schub durch geschlechtshomogene Lernarrangements, eher weist es auf günstige Bedingungen in koedukativen Gruppen hin. Für Mädchen scheint der alltägliche Umgang mit dem anderen Geschlecht nach diesen Ergebnissen eher eine Hilfe dafür zu sein, eigene Ansprüche als berechtigt und einlösbar zu betrachten (vgl. Horstkemper, M.:

Was dürfen Mädchen, was sollen Jungen? Geschlechtsorientierungen in koedukativen und nichtkoedukativen Schulen.

Beitrag zum Potsdamer Symposium am 7./8.10.1994: Schulbezogene Frauenforschung ­ fünf Jahre nach der deutschen Einheit).