Krebsfälle bei der Firma Mannesmann-Rexroth in Lohr

Die 2. Kammer des Sozialgerichts in Würzburg hat in zweiter Instanz, für die von der IG-Metall und dem vertretenen Klägergemeinschaft, und für zukünftige Verfahren für die Anerkennung von Berufskrankheiten in der Metallindustrie, eine äußerst wichtige Entscheidung getroffen. Aufgrund von Pressemeldungen wurde dieser Tage darüber hinaus im einzelnen öffentlich bekannt, dass von 17, 1978 von der Süddeutschen Metall-Berufsgenossenschaft abgelehnten Anträgen, jetzt sieben Rexroth-Krebsfälle wie eine Berufskrankheit rechtsgültig anerkannt worden sind.

Auch bezugnehmend auf meine diesbezüglichen zwei Anfragen im Dezember 1987, frage ich die Staatsregierung:

1. Welche Konsequenzen ergeben sich aus den Aussagen des vom Gericht bestellten arbeitsmedizinischen Gutachters, Prof. Dr. Hans J. Woitowitz, dass Gießerei-Beschäfttigte bei Lungenkrebs ein signifikant erhöhtes Risiko durch das im Gießereistaub enthaltene Gefahrstoff-Gemisch haben, und, dass bei Kehlkopfkrebs das Risiko zwar nicht ganz so stark erhöht, aber hinreichend wahrscheinlich sei?

2. Wie wird die Aussage des Gutachters beurteilt, wonach an seinem arbeitsmedizinischen Institut das ungeschriebene Gesetz gelte, dass bei Krebserkrankungen an unter 50jährigen exogene Ursachen (von äußeren Einflüssen herrührende) wahrscheinlich sind?

3. Wie erklärt sich die Staatsregierung, dass entgegen früherer Messergebnisse, jetzt bei nachgestellten Verhältnissen bis wie sie bis 1974 anzutreffen waren, der krebserzeugende Stoff Benzpyren, der als Leitsubstanz für eine Reihe hochgefährlicher polyzyklischer aromatischer Kohlenwasserstoffe gilt, in rund 200facher Richtwertüberschreitung festgestellt werden konnte? (Beim Trocknen der Gußformen, so das Lohrer Echo vom 8.7.95, das bis 1974 mit offen in der Gießereihalle verbrennenden Teerkohlen-Briketts geschah, enthielten die Rauchschwaden die gefährlichen Benzo(a)pyrene in Konzentrationen, die mehr als hundertfach über dem Richtwert lagen.)

4. Haben inzwischen, ggf. wann, Nickel oder/und seine Verbindungen, und welche anderen bisher nicht anerkannten Stoffe, Aufnahme in die Berufskrankheitenverordnung gefunden, was ja für Nickel bereits im Nov.

1980 der ärztliche Sachverständigenbeirat dem Bundesarbeitsminister empfohlen hatte?

5. Was sind die Gründe und Ursachen, warum die Fortschreibung der Berufskrankheiten-Verordnung so lange dauert und was hat die Staatsregierung getan, um das Verfahren zu verkürzen?

6. Welche konkreten Auswirkungen wird das Urteil insgesamt auf die Gefahrstoff- bzw. Berufskrankheiten-Verordnung haben?

7. Wie kann sichergestellt werden, dass die betroffenen Kläger/innen jetzt schnell eine

a) finanzielle Entschädigung (Rentennachzahlung und Aufbesserung?) erhalten und, dass die vertagten Fälle bald zum Abschluß gebracht werden?

b) in wie vielen bisher von der Berufsgenossenschaft abgelehnten Fällen können Betroffene jetzt mit nachträglicher Anerkennung rechnen und wie wird die finanzielle Abwicklung aussehen?

8. Welche Konsequenzen ergeben sich darüber hinaus insgesamt

a) für Berufskrankheiten und ihre Anerkennung

b) für die Berufsgenossenschaften

c) und für die Staatsregierung selbst?

Antwort des Staatsministeriums für Arbeit und Sozialordnung, Familie, Frauen und Gesundheit

Zu 1.: Das Sozialgericht Würzburg hat am 04. Juli 1995 den Ablehnungsbescheid der Süddeutschen Metall-Berufsgenossenschaft auf Anerkennung eines Speiseröhrenkrebses durch die Einwirkung von polycyclischen aromatischen Kohlenwasserstoffen bei einem ehemaligen Beschäftigten der Firma Mannesmann-Rexroth in Lohr bestätigt.

Auf Seite 7 des Urteils steht: Im allgemeinen Teil seines arbeitsmedizinischen Gutachtens kommt Herr Prof. Dr. Woitowitz unter Auswertung der gesammelten medizinisch-wissenschaftlichen Literatur zur Frage krebserzeugender Wirkung von Gießerei-relevanten Gefahrstoffgemischen zum Ergebnis, dass einzelne Studien zwar Hinweise auf die Verursachung von bösartigen Tumoren verschiedener Lokalisation im Körper ergeben. Eine ausreichend gesicherte wissenschaftliche Evidenz ergebe sich aber nur im Bereich der Atemwege, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für Lungen-Bronchial-Krebserkrankungen insbesondere in den hochexponierten Gießereibereichen, in geringerer Stärke, aber immer noch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit im Bereich des Kehlkopfes (Larynx).

Diese Feststellungen des Gutachters Prof. Dr. Woitowitz zur Krebslokalisation infolge Einwirkung von polycyclischen aromatischen Kohlenwasserstoffen sind allgemein anerkannter Stand des medizinischen Wissens und werden bereits berücksichtigt, so dass sich hieraus keine neuen Konsequenzen ergeben.

Zu 2.: Prof. Dr. Woitowitz hat dem Sozialministerium mit Schreiben vom 19. September 1995 dazu folgendes mitgeteilt: Hier ist zu fragen, ob es sich um eine unpräzise Übermittlung von Aussagen des Unterzeichnenden vor Gericht handelt. Auch nach Rücksprache mit dem Vorsitzenden der zuständigen Kammer des Sozialgerichtes Würzburg, Herrn Richter Arnold, wird diese Annahme bestätigt. In dem vom Unterzeichnenden geleiteten Institut und der Poliklinik für Arbeits- und Sozialmedizin der Justus-Liebig-Universität Gießen gibt es derartige ungeschriebene Gesetze nicht. Es ist jedoch eine aus vielen Hunderten poliklinischen Fallerfahrungen empirisch weitgehend gesicherte Tatsache, daß bei einer drastischen Vorverlegung des Todeszeitpunktes durch Atemwegstumoren (Häufigkeitsgipfel in der Allgemeinbevölkerung 6. und 7. Lebensjahrzehnt) stets nicht nur die besonderen persönlichen Risikofaktoren des Lebensstils, sondern insbesondere auch arbeitsbedingte (exogene Einwirkungen) krebserzeugender Gefahrstoffe während der beruflichen, versicherten Tätigkeit mit besonderer Sorgfalt ermittelt und bewertet werden müssen. In jedem Einzelfall gehört es zur arbeits- und sozialmedizinischen Sorgfaltspflicht, unter strikter Beachtung der vom Sozialrecht und der höchstrichterlichen Rechtssprechung vorgegebenen Kausalitätskriterien, insbesondere die jeweilige wesentliche Teilursächlichkeit zu prüfen, einzugrenzen und ggf. zu bewerten.

Dieser berichtigenden Aussage ist aus Sicht des Sozialministeriums nichts hinzuzufügen.

Zu 3.: Bei den Messungen im Juli 1984 in der Firma in Lohr ­ siehe Landtagsdrucksache 11/5937 ­ sind die Gefährdungsermittler von Nickeloxid als krebsverursachender Leitsubstanz ausgegangen.

Alle damaligen Messungen durch die Süddeutsche sowie die durch den gerichtlichen Sachverständigen veranlaßten Messungen ergaben keine erhöhte Benzo(a)pyrenbelastung. Obwohl die Meßverfahren und der Meßumfang mit den Erkrankten vorher besprochen worden waren, gab es von keiner Seite einen Hinweis auf das vor 1974 durchgeführten Trocknungsverfahren mit pechgebundenen Steinkohle-Eierbriketts.

U.a. aufgrund der Vorkommnisse in der Firma Mannesmann-Rexroth in Lohr führt die Arbeitsgemeinschaft der Metall-Berufsgenossenschaften die Gießerei-Studie Mortalität in Eisengießereien durch. Dabei sollen die Zusammenhänge zwischen der Freisetzung kanzerogener Substanzen in Gießereien und dem Auftreten von Krebserkrankungen untersucht werden. Im Rahmen dieser laufenden Studie wurde festgestellt, dass bis Ende 1974 in der Bundesrepublik Deutschland das Formtrocknungsverfahren u.a. mit pechgebundenen Steinkohle-Eierbriketts durchgeführt wurde. Dabei können krebserzeugende polycyclische aromatische Kohlenwasserstoffe auftreten und möglicherweise von Beschäftigten an solchen Formtrocknungsarbeitsplätze eingeatmet worden sein. Ähnliche Gefährdungen sind heute nicht mehr zu befürchten, da nach dem Ergebnis der o.g. Studie dieses Formtrocknungsverfahren nicht mehr angewendet wird.

Diese Erkenntnisse hat die Süddeutsche Metall-Berufsgenossenschaft veranlaßt, auch in dieser Richtung in der Firma Mannesmann-Rexroth in Lohr nachzuforschen. Dabei stellte sich heraus, dass die Firma von 1960 bis 1974 ein Spezialverfahren zum Trocknen von Gußformen durch Verschwelen von pechgebundenen Steinkohle-Eierbriketts praktiziert hat.

Deshalb hat die Süddeutsche Metall-Berufsgenossenschaft im Dezember 1994 erneut Messungen bei der Firma Mannesmann-Rexroth in Lohr durchgeführt, wobei das spezielle Formtrocknungsverfahren derzeit vor 1974 mit pechgebundenen Steinkohle-Eierbriketts nachgestellt wurde. Dabei wurden außergewöhnlich hohe Konzentrationen von Benzo(a)pyren als Leitsubstanz für krebserzeugende polycyclische aromatische Kohlenwasserstoffe festgestellt. Daraufhin hat die Süddeutsche Metall-Berufsgenossenschaft die bisherigen Berufskrankheiten-Ermittlungen in der Firma überprüft und sieben der 17 beim Sozialgericht Würzburg anhängigen Klageverfahren bereits vor der mündlichen Verhandlung vom 04. bis 06. Juli 1995 durch Bescheid als Berufskrankheit anerkannt. Darunter waren drei Kehlkopfkrebse und ein Bronchialkrebs (siehe Antwort zu 1).

Zu 4.: Mit der Verordnung zur Änderung der vom 22. März 1988 sind Bösartige Neubildungen der Atemwege und der Lungen durch Nickel oder seine Verbindungen unter der Berufskrankheiten-Nummer 4109 als Berufskrankheit in Anlage 1 der Berufskrankheiten-Verordnung aufgenommen worden.

Seit Dezember 1987 sind weiterhin folgende Stoffe, die Berufskrankheiten verursachen können, in Anlage 1 der Berufskrankheiten-Verordnung aufgenommen worden: im Jahr 1988

BK-Nr. 1314 Erkrankungen durch para-tertiär Butylphenol BK-Nr. 4110 Bösartige Neubildungen der Atemwege und der Lungen durch Kokerei-Rohgase BK-Nr. 4203 Adenokarzinome der Nasenhaupt- und Nasennebenhöhlen durch Stäube von Eichenoder Buchenholz im Jahr 1992

BK-Nr. 1303 erweitert oder durch Styrol BK-Nr. 1315 Erkrankungen durch Isocyanate.

Zu 5.: Die Einstandspflicht der gesetzlichen Unfallversicherung setzt bei der Feststellung der Ursache-Wirkungs-Beziehung für das Berufskrankheitenrecht und für die Fortschreibung der Verordnung gesicherte medizinisch-wissenschaftliche Erkenntnisse voraus. Für die Bezeichnung einer Krankheit als Berufskrankheit besteht damit eine strenge Bindung an die Ermächtigungsnorm und nicht etwa ein freier sozialpolitischer Ermessensspielraum. Der Erkenntnisstand der medizinischen Wissenschaft ist auch durch Beteiligung und Heranziehung anderer Fachdisziplinen in der jüngeren Vergangenheit erheblich gewachsen. Noxen, denen früher kaum Beachtung geschenkt wurde, werden heute als Ursachen schwerer Gesundheitsschädigungen erkannt. Solche wissenschaftlichen Erkenntnisse bedürfen jedoch der Sammlung, Sichtung und Bewertung durch den Verordnungsgeber. Dies ist, je nach Fragestellung, bei der Vielzahl der in Frage kommenden Noxen und Erkrankungen ein zeitaufwendiges Verfahren.

Für die Fortschreibung der Berufskrankheiten-Verordnung ist nicht die Staatsregierung, sondern die Bundesregierung zuständig, die auf Vorschlag des beim Bundesarbeitsministerium gebildeten Ärztlichen Sachverständigenbeirats, Sektion Berufskrankheiten, tätig wird.

Zu 6.: Das Urteil hat auf das geltende Gefahrstoffrecht keine Auswirkungen, da der Umgang mit insbesondere krebserzeugenden Stoffen in den §§ 15 ff der Gefahrstoffverordnung einschließlich der dazu bekanntgemachten Technischen Regeln für Gefahrstoffe (z.B. TRGS 102, TRGS 900, TRGS 905 oder TRGS 910) zum Schutz der auch in Gießereien Beschäftigten ausreichend geregelt ist. Seit 1993 dürfen nach TRGS 551 Stein- oder Braunkohleteerpech oder andere Bindemittel mit einem Gehalt an Benzo(a)pyren von 50 mg/kg (ppm) und mehr als Bindemittel für Briketts nicht mehr verwendet werden.

Auf das Berufskrankheitenrecht hat das Urteil ebenfalls keine Auswirkungen, da der Großteil der in Gießereien relevanten Gefahrstoffe, insbesondere Nickel und Pyrolyseprodukte (Kokereirohgase), bereits von der Anlage 1 der Berufskrankheiten-Verordnung erfaßt wird.

Zu 7. a):

In den sieben Fällen, in denen die Süddeutsche Metall-Berufsgenossenschaft das Vorliegen einer Berufskrankheit anerkannt hat, hat die Süddeutsche Metall-Berufsgenossenschaft den Antragstellern mitgeteilt, dass über Art, Umfang und Höhe der von der Süddeutschen Metall-Berufsgenossenschaft zu erbringenden Leistungen ein weiterer Bescheid erlassen werden wird. Um die Leistungen wie Heilbehandlung, Verletztengeld, Verletztenrente sowie evtl. Sterbegeld und Rente an Hinterbliebene im Einzelfall feststellen zu können, sind noch medizinische Gutachten einzuholen und die den Leistungen zugrundeliegenden Jahresarbeitsverdienste zu ermitteln. Diese Ermittlungen werden lt. Mitteilung der Süddeutschen Metall-Berufsgenossenschaft vom 08. September 1995 zügig durchgeführt. Bereits im Vorgriff auf die zu erwartenden Leistungen wurden Vorschüsse ­ auch unter Berücksichtigung der durch die Rentenversicherungsträger zu erwartenden Ersatzansprüche ­ an die Berechtigten angewiesen.

Zu 7. b):

Bei den noch anhängigen neun Klageverfahren vor dem Sozialgericht Würzburg hat die Süddeutsche Metall-Berufsgenossenschaft in vier Fällen eine ergänzende gutachterliche Stellungnahme eingeholt. Mit einer Regelung innerhalb von zwei Monaten ist zu rechnen. In drei Fällen holt das Sozialgericht Würzburg eine ergänzende Stellungnahme durch einen Gutachter ein und in den verbleibenden zwei Fällen wird ein Gutachten nach § 109 Abs. 1 SGG eingeholt. In diesen fünf Fällen kann keine zeitliche Vorhersage gemacht werden.

Nachdem es sich in diesen neun Fällen um anhängige Sozialgerichts verfahren handelt, kann hierzu keine Aussage über mögliche Leistungen gemacht werden. Es ist aber zu erwarten, dass in den Fällen, die zu einer Anerkennung führen, verfahren wird, wie unter 7. a) beschrieben.

Zu 8. a):

Schon vor der vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung im Januar 1981 publizierten Empfehlung des Ärztlichen Sachverständigenbeirats, Bösartige Neubildungen der Atemwege und der Lungen durch Nickel oder seine Verbindungen in die Liste der Berufskrankheiten aufzunehmen, sind entsprechende Erkrankungen durch die gesetzlichen Unfallversicherungsträger nach § 551 Abs. 2 RVO wie eine Berufskrankheit entschädigt worden. Mit der Änderungsverordnung zur Berufskrankheiten-Verordnung vom März 1988 wurde die Liste der Berufskrankheiten entsprechend erweitert. Auch insoweit ergeben sich für den Verordnungsgeber keine Konsequenzen.

Zu 8. b): Probleme bei der Anerkennung und Entschädigung von Berufskrankheiten sind ganz überwiegend auf das Fehlen der vom Gesetzgeber geforderten arbeitsmedizinisch/toxikologisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse zurückzuführen.

Um diese Erkenntnisdefizite zu beseitigen, führt die Arbeitsgemeinschaft der Metall-Berufsgenossenschaften ein Gießerei-Forschungsvorhaben Mortalität in Eisengießereien durch, mit dem die Zusammenhänge zwischen der Freisetzung kanzerogener Substanzen in Gießereien und dem Auftreten von Krebserkrankungen untersucht werden sollen.

Mit Daten von über 30.000 Gießereiarbeitern soll in einem ersten Abschnitt geklärt werden, ob und ggf. in welchen Gießereibereichen in einem erhöhten Umfang Krebserkrankungen auftreten (siehe Antwort zu 3.). Falls sich diese Ausgangsthese bestätigt, soll in einem zweiten Forschungsabschnitt festgestellt werden, ob die Häufung von Krebserkrankungen überwiegend auf berufliche oder berufsfremde Ursachen zurückgehen.

Zu 8. c):

Die Staatsregierung unterstützt mit allem Nachdruck die Bemühungen der Bundesregierung und der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung, sowohl die Arbeitssicherheit und den Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz weiter zu verbessern als auch die Anerkennung von Berufskrankheiten soweit wie möglich zu beschleunigen.