Einsicht in Akten des Staatsarchivs Nürnberg

Bezugnehmend auf Artikel der Nürnberger Nachrichten und der Süddeutschen Zeitung frage ich die Staatsregierung: 1. Aus welchen tatsächlichen Gründen wurde dem Journalisten Jim Tobias am 9. Juli 1999 die davor bereits mehrfach vorgelegten Akten (Aktenzeichen 1222/99-V4950

(55) des Staatsarchivs Nümberg zur wissenschaftlichen Recherche verweigert?

2. Wieso beruft sich die Generaldirektion der Staatlichen Archive auf das Steuergeheimnis nach dem Bundesarchivgesetz, obwohl bei vorangegangenen Einsichtnahmen das Steuergeheimnis keine Rolle gespielt hat?

3. Inwieweit spielt Täterschutz eine Rolle und wie wird in diesem Spannungsverhältnis von der Staatsregierung die Freiheit von Forschung und Lehre beurteilt?

4. Wieso ist, wenn der Datenschutz für Täter während des Nationalsozialismus bejaht werden sollte, nicht wenigstens eine Teileinsicht möglich?

5. Welcher Fachmann entscheidet letztendlich, ob es sich um steuerlich relevante Akten handelt?

6. Wie könnte nach Ansicht der Staatsregierung eine Aufarbeitung von nationalsozialistischem Unrecht im Bereich der Finanzbehörden aussehen, ohne in die Akten Einsicht zu nehmen?

7. Und wenn es keine andere Möglichkeit der Aufarbeitung gibt: Ist die Staatsregierung um des Steuergeheimnisses willen bereit, auf eine Aufarbeitung von Unrecht zu verzichten?

Antwort des Staatsministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kunst vom 23. 08. 1999

Die schriftliche Anfrage beruht auf Presseberichten des Journalisten Jim G. Tobias in den Nürnberger Nachrichten und der Süddeutschen Zeitung, in denen gegen die Archivverwaltung der Vorwurf erhoben wird, sie verweigere unberechtigter Weise die Einsichtnahme in Archivalien aus der NS-Zeit. Im Interesse der besseren Verständlichkeit und zur Vermeidung von Wiederholungen erlaube ich mir, den Sachverhalt nicht in der Reihenfolge der gestellten Fragen, sondern in chronologischer Folge darzulegen:

Am 11. Dezember 1998 stellte Herr Jim G. Tobias beim Staatsarchiv Nürnberg den Antrag auf Benützung von Akten, die Informationen über die Enteignung jüdischen Vermögens enthalten. Das berechtigte Interesse an der Akteneinsicht wurde glaubhaft gemacht. Die Archivbenützung sollte publizistischen und wissenschaftlichen Zwecken dienen.

Vorgelegt wurden Herrn Tobias Akten des Finanzamts Nürnberg-Ost, die nach Meinung des Staatsarchivs nicht dem Steuergeheimnis unterlagen. Der Inhalt der Akten wurde von Herrn Tobias später teilweise publizistisch verwertet.

Am 14. April 1999 stellte Herr Tobias einen Antrag auf Benützung von 1997 von der Bezirksfinanzdirektion Ansbach an das Staatsarchiv Nürnberg abgegebene Steuerakten rassisch Verfolgter. Da es sich bei diesen Akten zweifelsfrei um Steuerunterlagen handelte, lehnte das Staatsarchiv Nürnberg zunächst die Vorlage unter dem Vorbehalt einer weiteren Überprüfung mit der Begründung ab, dass diese Akten grundsätzlich dem Steuergeheimnis unterliegen würden. Daher sei eine Vorlage der Akten nach den Bestimmungen des insoweit einschlägigen Bundesarchivgesetzes nicht möglich.

Herr Tobias wandte sich daraufhin an die Generaldirektion der Staatlichen Archive Bayerns mit der Bitte um weitere Entscheidung (3. Mai 1999). Bei der unverzüglich eingeleiteten Überprüfung des Benützungsfalles stellte sich heraus, daß auch ein erheblicher Teil der bereits im Dezember 1998 vom Staatsarchiv Nürnberg vorgelegten Akten dem Steuergeheimnis unterliegt und damit also zunächst irrtümlich zugänglich gemacht worden war.

Das Steuergeheimnis bezieht sich nämlich nicht auf einen bestimmten Aktentyp (Steuerakten), sondern auf Unterlagen (Informationen), die im Rahmen eines Verfahrens in Steuersachen aktenkundig geworden sind. Auch Akten, die nicht Steuerakten i.e.S. sind, können ganz oder teilweise dem Steuergeheimnis unterliegen, wenn in ihnen Steuerunterlagen enthalten sind.

Den Benützungsfall Tobias und die aktuelle und zunehmende Nachfrage der Publizistik, aber auch der wissenschaftlichen Forschung nach personenbezogenen Unterlagen über die Arisierung jüdischen Vermögens in der NS-Zeit nahm die Generaldirektion dann zum Anlaß einer umfassenden benützungsrechtlichen Prüfung.

Im Kern ging es dabei um die Frage, wie dem berechtigten Interesse der Geschichtsforschung an einer detaillierten Aufarbeitung des NS-Unrechts (Wissenschaftsfreiheit) im Rahmen der gesetzlich festgelegten Schutz- und Sperrfristen, die eine Einsichtnahme bestimmter Schriftgutkomplexe grundsätzlich nicht zulassen, so weitgehend wie möglich entsprochen werden kann.

In diese Prüfung war auch mein Haus und das Staatsministerium der Finanzen eingeschaltet; außerdem wurden Informationen über die einschlägige Benützungspraxis beim Bundesarchiv und in anderen Landesarchivverwaltungen eingeholt, zahlreiche archivierte Akten der Steuerverwaltung und anderer administrativer Bereiche geprüft und die bisherigen Erfahrungen der Staatlichen Archive mit solchen Unterlagen ausgewertet.

Als Ergebnis dieses intensiven Prüfungsprozesses hat die Generaldirektion die als Anlage beigefügten Richtlinien für die Benützung von Steuerakten erlassen. Diese Benützungsrichtlinien sind geprägt von dem Wunsch, der Wissenschaft in größtmöglichem Umfang entgegenzukommen. Neben Hinweisen, welche Akten grundsätzlich nicht dem Steuergeheimnis unterliegen (etwa Akten über die Judenvermögensabgabe), wird präzise ausgeführt, in welchen sonstigen Fällen das Steuergeheimnis gegenüber der Wissenschaftsfreiheit zurücktreten muss und Akten mit Steuerunterlagen somit vorgelegt werden können.

Herr Tobias wurde brieflich und mehrfach telefonisch über den Sachstand unterrichtet. Als am 12. Juli 1999 Herr Tobias beim Staatsarchiv Nürnberg noch einmal die Vorlage der Akten beantragte, wurde ihm mitgeteilt, dass die Entscheidung über die Benützungsrichtlinien und damit auch über sein Benützungsgesuch noch ausstehe und dass bis zu dieser in nächster Zeit zu erwartenden Entscheidung eine Vorlage der Akten nicht möglich sei. Herrn Tobias wurde dieses auch von der Generaldirektion telefonisch erläutert.

Der von Herrn Tobias in der Folge veröffentlichte Artikel mit der Behauptung, die Generaldirektion sperre die Steuerakten, weil sich die Rechtslage geändert habe, ist unrichtig.

Zutreffend ist vielmehr, dass über den Benützungsantrag von Herrn Tobias noch nicht abschließend entschieden war.

Mit Schreiben vom 19. Juli 1999 wurden dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv und den Staatsarchiven die erwähnten Benützungsrichtlinien mitgeteilt. Gleichzeitig wurde Herr Tobias benachrichtigt, dass unter den in den Richtlinien genannten Voraussetzungen einer Benützung der von ihm gewünschten Archivalien nichts im Wege stehe. Herr Tobias hat inzwischen im Staatsarchiv Nürnberg einen entsprechenden Benützungsantrag gestellt und mit der Auswertung der gewünschten Akten begonnen.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die von der Generaldirektion erlassenen Benützungsrichtlinien die Einsichtnahme in alle Unterlagen der NS-Zeit für wissenschaftliche Zwecke möglich machen, wenn dadurch schutzwürdige Belange Betroffener oder Dritter (Persönlichkeitsrechte) nicht gefährdet werden. Diese wissenschaftsfreundliche Regelung bei gleichzeitiger Wahrung der Persönlichkeitsrechte steht in einer jahrzehntelang bewährten Tradition der bayerischen Archivbenützungspraxis.

Gerade die Erforschung von Verfolgung und Widerstand in der NS-Zeit hat die bayerische Archivverwaltung von Anfang an in erheblichem Umfang unterstützt. Erinnert sei an das bis heute in ganz Deutschland als mustergültig angesehene, von meinem Haus wesentlich geförderte Inventarisierungsprojekt Widerstand und Verfolgung in Bayern 1933 bis 1945, für dessen archivischen Teil die staatliche Archivverwaltung verantwortlich war.

Wie sich aus dem vorstehend Dargelegten ergibt, entbehren die in der schriftlichen Anfrage insinuierten Vorwürfe, die staatliche Archivverwaltung würde unberechtigter Weise die Einsichtnahme in Archivalien aus der NS-Zeit verweigern, der Grundlage.

Von einem Abdruck wird Abstand genommen.